- Wir wissen, was Sie wählen werden
Im US-Wahlkampf lernt die Politik von den Unternehmen. Die Parteien sammeln riesige Datenmengen über ihre Anhänger, teilen sie in Gruppen ein, um Wechselwähler gezielt auf Themen anzusprechen, die sie interessieren
Obwohl ich das Land bis auf einige Aufenthalte in New York und Washington D.C. gar nicht besonders gut kenne, muss ich sagen: Ich mag die USA, und ganz besonders mag ich sie in Wahlkampfzeiten. And what‘s not to like? Klar, Guantanamo, religiöse Eiferer, der Waffenwahn, Abtreibungsgegner, das kommt dann doch immer etwas unsympathisch rüber. Aber wer ohne plagiierte Promotion ist, kein Terroristenproblem hat, bereitwillig die Rolle des einzigen Weltpolizisten übernehmen möchte und über ein wirklich laizistisches Staatswesen verfügt, werfe den ersten Stein, auch wenn das biblische Bild in diesem Zusammenhang etwas schief ist.
Aber das muss jetzt reichen, um meinen Pro-Amerikanismus zu erklären, denn es sollte ja eigentlich um den US-Wahlkampf gehen: Nicht nur, dass die Kür der Kandidaten, die pompösen Nominierungsparteitage, die Debatten der beiden Kandidaten im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf sehr viel unterhaltsamer sind als zum Beispiel die unfassbar dröge Präsentation des SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück.
[gallery:Die Vita der Kandidaten - Barack Obama]
Nein, auch hinter den Kulissen scheinen die Amerikaner den deutschen Wahlkampfteams meilenweit voraus zu sein. Wenngleich nämlich immer noch das meiste Geld in Fernsehwerbung – etwa 1 Milliarde US-Dollar werden beide Kandidaten bis zum 6. November dafür ausgegeben haben im ohnehin teuerstes Präsidentschaftswahlkampf aller Zeiten – fließt, könnte diesmal wahlentscheidend sein, wer im wahrsten Sinne des Wortes an die richtigen Türen klopft: Das Zauberwort heißt „Microtargeting“, also das gezielte Ansprechen der noch unentschiedenen Wähler in den so genannten swing states, in denen der Ausgang der Wahl noch offen ist und das Rennen am Ende entschieden wird. Dazu gehören unter anderem Florida, Ohio, Wisconsin, und am engsten sieht es wohl in Virginia und Colorado aus.
Um in diesen Staaten die Unentschlossenen zu finden, nehmen sich die Wahlkämpfer ein Beispiel an der Wirtschaft, die schon seit langer alle verfügbaren Daten ihrer Kunden sammelt, um sie in verschieden Gruppen zu sortieren und gezielter ansprechen zu können. In seinem Buch „The Victory Lab“ beschreibt Sasha Issenberg, wie die Parteien diese Technik für den Wahlkampf adaptiert haben. Auch hier werden riesige Datenmengen zum Einkaufs-, Freizeit-, und Spendenverhalten, Alter, Wohnort, durchschnittliches Haushaltseinkommen, Hautfarbe und was sonst noch an Informationen über die Wähler in den swing states zu bekommen ist, gesammelt und von Statistikspezialisten ausgewertet.
Auf der folgenden Seite: Prognosen werden fast zur exakten Vorwegnahme des Wahlergebnisses
„Sie können davon ausgehen, dass beide Lager in den umkämpften Staaten ein Datendossier zu jedem Wahlberechtigten haben“, sagte kürzlich der Statistiker Nate Silver, der in seinem New York Times Blog „fivethirtyeight.com“ ein eigenes Prognosemodell entwickelt hat, mit dem er vor vier Jahren den Ausgang fast exakt richtig voraussagte. Mithilfe dieser Dossiers wird für jeden Fehler zwei Werte festgelegt, aus denen hervorgeht, welche Partei er mit welcher Wahrscheinlichkeit wählen und zweitens, ob er überhaupt den Gang zur Urne antreten wird. An der Tür klopft es dann bei denen, die nur noch einen kleinen Schubs brauchen, um zur Wahl zu gehen und bei denen man gleichzeitig davon ausgeht, dass sie im Zweifel dem eigenen Kandidaten ihre Stimme geben. Postwurfsendungen und Anrufe funktionieren dabei weit weniger gut, während die persönliche Ansprache die Wahlbeteiligung in einzelnen Staaten um bis zu 9 Prozent erhöhen kann, wie Issenberg schreibt. Das kann bei einer so engen Wahl wie dieses Jahr am Ende den Ausschlag geben.
Experimentiert hat man damit auch schon bei vergangenen Wahlen, da die Erkenntnis nicht ganz neu ist, dass Werbung in Massenmedien hohe Streuverluste mit sich bringt. Karl Rove, einer der wichtigsten Berater von George W. Bush, ließ bereits 2004 in verschiedenen Vierteln, unterschiedliche Wahlkampfflyer verteilen: in dem einen wurde Bushs Position zum Schutz des ungeborenen Lebens in den Vordergrund gestellt, in den anderen seine Einwanderungspolitik. Gleichzeitig schalte Rove Fernsehspots in einigen Staaten nur noch im Golfkanal, weil seine Daten ihm sagten, dass unentschlossen Golfer eher Bush als Kerry wählen.
Solch ein maßgeschneiderter Wahlkampf hat aber auch etwas Gespenstisches, wenn sich die Kandidaten kaum noch um die große Mehrheit der Wählerschaft kümmern und sich stattdessen auf die kleine, entscheidende Minderheit stürzen, die das Zünglein an der Waage sind und ihnen deswegen nach dem Munde redet. Gefährlich daran ist, dass dadurch im Wahlkampf völlig andere Fähigkeiten gefragt sind als später beim Regieren, so dass auch dieser Trend zur tiefen Spaltung des politischen Amerikas beigetragen haben mag.
Anhänger von Verschwörungstheorien werden jetzt möglicherweise auch die umstrittene Abstimmung über das Meldegesetz in einem anderen Licht sehen, wenn Politiker aus Eigeninteresse zu immer größeren Datensammlern werden. Ich werde jetzt mal probieren, herauszufinden, wo ich hinziehen muss, damit bis zur Bundestagswahl keiner an meine Türe klopft.
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