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Konflikt um Milliarden-Vermögen - Das Land der Erben

In Deutschland werden jedes Jahr geschätzt 250 Milliarden Euro vererbt. Das ist so viel wie der gesamte Bundeshaushalt des Jahres 2014. Wie verändert sich ein Land, wenn das Geld der Eltern mitentscheidet, ob du dir ein Haus leisten kannst, den Job, den du willst, die Kinder, die du erhoffst – oder eben nicht? Auszüge aus dem neuen Buch „Wir Erben“ von Julia Friedrichs

Autoreninfo

Julia Friedrichs, 1979 geboren, ist freie Journalistin und Buchautorin. 2005 schrieb sie einen Bericht über das selbst durchlebte Auswahlverfahren bei McKinsey. 2008 erschien ihr Buch "Gestatten: Elite – Auf den Spuren der Mächtigen von morgen." von 2005.

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Das Erbe sickerte langsam in mein Leben. Am Anfang waren da nicht mehr als kurze Irritationen – wie ein Flirren, das das gewohnte Bild stört, wie ein Buckel, der den Fahrer auf gerader, glatter Straße aus dem Trott reißt.

Es begann, als alle um mich herum erwachsen wurden, Jobs hatten, Kinder zur Welt brachten und für ihre Zukunft festere Rahmen zimmerten. Bis dahin schienen sich meine Freunde alle ähnlich zu sein. Es ging uns gut, aber übermäßig wohlhabend wirkte keiner. Die meisten waren aus der Provinz in die große Stadt gezogen, fingen dort neu an, als urbane Nomaden. Die Kindheit, die Herkunft, das Elternhaus – all das diente lediglich als Material für Anekdoten und war weit weg. Wir hatten studiert und danach alle Facetten der modernen Arbeitswelt kennengelernt: Zeitverträge, Werkverträge, feste Stellen. Gratisarbeit, Ausbeuterlöhne, gutes Gehalt. Wir wohnten zur Miete, allein oder mit anderen, mit Dielenboden im Hinterhaus oder mit Teppich im Neubau, aber doch irgendwie alle gleich. Dachte ich zumindest.

Der Erste, der mein festes Bild ins Wanken brachte, war ein Freund, der mit seinem Gehalt immer gerade so über die Runden kam. Und trotzdem zog er plötzlich aus der kleinen Studentenwohnung mit Kohleheizung in sein eigenes Townhaus in einer der besten Gegenden der Stadt. Da war ein anderer, der immer umherreiste, nirgendwo Fuß fasste und immer bescheiden lebte, auch weil sein Einkommen manchmal nur knapp für den Monat reichte. Und auf einmal durchkämmte er die Immobilienangebote nach Dachgeschosswohnungen im Halbmillionensegment. Der eine besaß von heute auf morgen eine eigene Bürowohnung, die andere ein Ferienhaus in Frankreich, der Dritte eines in der Schweiz.

„Die kaufen für 400.000 Euro – wie machen die das?“
 

Eines Abends saß ich mit einem meiner besten Freunde an einem Ikea-Tisch in seiner Küche, zehn Straßenbahnminuten vom Stadtzentrum entfernt – und erfuhr, dass ich nicht die Einzige war, die sich wunderte. „Alle um mich herum kaufen plötzlich Wohnungen, Häuser“, sagte er. „Aber wie nur?“ Er war stolz auf die Küche, in der wir redeten, den breiten Flur, die vier Zimmer. Über ein halbes Jahr lang hatte er nach einer größeren Wohnung gesucht und mit viel Glück diese hier gefunden. Aber nun zahlten er und seine Frau über ein Drittel ihres guten Einkommens für die vier Räume, in denen bald auch ihr Baby wohnen sollte. Der Freund ist einer, der oft 60-Stunden-Wochen macht, der fleißig ist und fähig in dem, was er tut. Er dachte an sein Konto. Und er staunte – wie ich. „Die kaufen für 400.000 Euro, für 600.000“, sagte er an diesem Abend. „Egal, wie viel wir arbeiten, wir könnten uns hier nie etwas leisten. Wie machen die das?“

Von da an begann ich die anderen zu fragen. Manche wollten gar nicht über die Quellen ihres plötzlichen Wohlstands reden, andere sprachen einsilbig von „Eltern“, „vorgezogenem Erbe“ oder „Schenkung“. Andere erzählten knapp, dass ihr neuer Lebensstandard in erheblichem Maße von Eltern und Großeltern finanziert wurde. Langsam ahnte ich, dass wir uns vielleicht doch viel weniger glichen, als ich gedacht hatte, dass nun, wo wir erwachsen waren, plötzlich doch wesentlich wurde, was die Eltern, die man nur von flüchtigen Verwandtschaftsbesuchen kannte, in der fernen Provinz eigentlich so machten. Und was deren Eltern getan hatten. Konnte es sein, dass es einen Faktor gab, der für uns, alle um die dreißig, die Frage „Wie wirst du leben?“ mitentscheiden würde? Einen Faktor, an den ich bis dato nie gedacht hatte? Die Antwort auf die Frage: „Bist du Erbe oder nicht?“

250 Milliarden Euro!
 

Monate später. Mein Regal hat sich gefüllt: der „Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung“; der Branchenreport „Erbschaften“; der soziologische Sammelband „Erben und Vererben“; die Monographie „Erben in der Leistungsgesellschaft“. Der neue Stern am Forschungshimmel: das Buch „Capital in the Twenty-First Century“ des französischen Ökonomen Thomas Piketty, für das er umfangreiche Daten zu Erbschaften ausgewertet hat.

(…)

Mein Notizblock füllt sich mit Zahlen und Statistiken. Ich schreibe Zitat um Zitat in meinen Zettelkasten. Ganz oben steht noch immer die imposante Ziffer vom Anfang, eingekreist, mit Ausrufezeichen: 250 Milliarden Euro! Die jährliche Erbsumme. Die Zahl mit neun Nullen. Der Wert beruht auf einer Schätzung des Instituts für Altersvorsorge und einer Metastudie einer Elite-Universität. Es ist nicht die einzige Zahl. Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung überrascht Mitte 2014 mit der Aussage, dass es nur gut 60 Milliarden seien. Andere rechnen mit 140 Milliarden Euro, manche mit 300 Milliarden, ein Branchendienst, der die Banken mit Daten beliefert, mit etwa 360 Milliarden.

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Ich brüte lange über den Zahlen, checke die Quellen, vergleiche die Datenbasis. Und am Ende scheint mir ein Wert, der um die 250 Milliarden Euro pendelt, plausibel. Warum? Die einfache, bei dieser Datenlage aber nicht völlig abwegige Antwort lautet: Die Zahl liegt in der Mitte der vielfältigen Schätzungen. Die ausführliche, aber solidere Begründung ist diese: Der Wissenschaftler Christoph Schinke hat im Juli 2012 an der Pariser Ecole d’économie genau das getan, was auch mich jetzt umtreibt: Er hat die verfügbaren Studien verglichen und die Zahlen Plausibilitätschecks unterzogen. Das heißt, er hat die Daten zu Sterbefällen mit den Vermögenssummen verschnitten. Er hat berechnet, wie hoch vermutlich der Erbanteil am Bruttoinlandsprodukt ist. Er hat überlegt, wie lange eine Generation im Schnitt das Vermögen hält – und wie viele Jahre es braucht, bis das Gesamtvermögen einmal „umgeschlagen“ wurde.

Eine „gewaltige Erbschaftswelle“
 

250 Milliarden Euro also. Das ist fast so viel wie der gesamte Bundeshaushalt des Jahres 2014; mehr als das Doppelte der Kosten aller Kindergärten, Schulen und Universitäten des Landes; fünfmal so viel wie die Gesamtausgaben für alle Hartz-IV-Empfänger und die sie versorgende Verwaltung. Insgesamt, so schätzen Soziologen, werden bis zum Jahr 2020 zwischen zwei und vier Billionen Euro vererbt worden sein. Es ist das Vermögen der Wirtschaftswundergeneration, begründet in den Jahren nach dem Krieg, vermehrt in den Hochkonjunktur-Jahrzehnten der alten Bundesrepublik, explodiert in den Jahren um die Jahrtausendwende. Eine „gewaltige Erbschaftswelle“, die mächtigste, die es je gab, lese ich immer wieder.

Und eigentlich sind das ja erfreuliche Nachrichten: Den Menschen in diesem Land ging es offensichtlich so gut, dass sie mehr Vermögen anhäufen konnten als je zuvor: Die Bundesbank schätzt, dass die Deutschen im Jahr 2011 gut sieben Billionen Euro besaßen. Geld. Immobilien. Aktien. Das ist mehr als das Doppelte der jährlichen Wirtschaftsleistung des Landes – und dreimal so viel wie die gesamte Staatsverschuldung. „Europa redet darüber, dass wir unseren Kindern so viele Schulden hinterlassen. Aber die Wahrheit ist, dass wir ihnen mehr Vermögen hinterlassen als jede andere Generation zuvor“, sagt der französische Star-Ökonom Thomas Piketty im Interview mit der Süddeutschen Zeitung.

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Und in der Studie „Erbschaften 2011“ lese ich: „Die Wirtschaftswunderkinder der Nachkriegszeit konnten eine ungestörte Vermögensbildung betreiben. Es ist die einkommensstärkste und vermögendste Erbengeneration, die Deutschland je gesehen hat.“ Gut sieben Billionen. Rein rechnerisch sind das knapp 90.000 Euro für jeden Deutschen. Das klingt nach einem gesunden Startkapital. Allein: Diese letzte Ziffer auf meinem Block ist nichtig, nicht mehr als Zahlenspielerei. Denn das gewaltige Vermögen verteilt sich nicht gleichmäßig auf alle Bürger. Und auch das mit der Erbschaftswelle ist eine schiefe Metapher. Klingt es doch so, als würden alle von einem warmen Geldstrom getränkt werden. Doch dem ist nicht so.

Die untere Hälfte besitzt nur ein Prozent des Vermögens
 

Korrekt müsste es eigentlich heißen: Einigen Menschen in diesem Land ging es so gut, dass sie mehr Vermögen anhäufen konnten als je zuvor. Der Gesamtbesitz der Deutschen hat zwar historische Spitzenwerte erreicht, aber davon merken die meisten gar nichts. Die ärmere Hälfte der Bevölkerung besitzt zusammen ein mickriges Prozent des Vermögens, die reichere Hälfte satte 99 Prozent. Aber auch dieser Wert sagt noch nicht so viel aus. Denn der größte Anteil des Vermögens ballt sich bei den oberen zehn Prozent. Je nach Rechenmodell besitzen sie zwischen mehr als der Hälfte und zwei Dritteln der gesamten privaten Reichtümer des Landes.

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Wie verändert sich ein Land, wenn die Antwort auf die Frage „Bist du Erbe?“ Dutzende Antworten gleich mitliefert? Wenn das Geld der Eltern mitentscheidet, ob du dir ein Haus leisten kannst, den Job, den du willst, die Kinder, die du erhoffst – oder eben nicht?

Wäre eine Erbengesellschaft unmodern?
 

Warum wird um die Sache mit dem Erbe nicht gestritten, debattiert und gerungen in diesem Land, das in Sachen Empörung doch ansonsten nicht gerade zimperlich ist? Widerspricht es nicht unserer Grundüberzeugung, wonach es vor allem demjenigen gutgehen soll, der Fleiß und Ideen einsetzt, nicht dem, der in die richtige Familie hineingeboren wird?

Wäre solch eine Erbengesellschaft also grundsätzlich ungerecht, undemokratisch und unmodern? Oder völlig in Ordnung, weil es ein Urtrieb des Menschen ist, seinen Kindern etwas weiterzugeben? Weil es ihn seit jeher dazu gebracht hat, sich anzustrengen, etwas aufzubauen, etwas, das das eigene Leben überdauern soll?

Kann sich ein Land wie Deutschland glücklich schätzen, weil die Alten so viel Wohlstand weitergeben können? Oder trifft eher das zu, was der Soziologe Heinz Bude behauptet: „Nichts“, so schreibt er, „ist ungünstiger und unangenehmer für den Bewegungscharakter einer Gesellschaft als die Herrschaft gebildeter Rentiers“?

Dieser Text ist ein Auszug aus: „Wir Erben. Was Geld mit Menschen macht“ von Julia Friedrichs. Berlin Verlag, 320 Seiten, 19,99 Euro.

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