- Verweichlichung wider Willen
Der Kapitalismus umgibt uns mit Annehmlichkeiten, damit wir nicht über unsere entfremdete Arbeit nachdenken. Wir müssen uns wehren, findet Jochen Schmidt
Manche wissen es ja schon: Vanille ist gar nicht gelb, der Joghurt wird nur gelb gefärbt, weil die Kunden das infolge der Manipulation der Lebensmittelindustrie inzwischen für die Farbe von Vanille halten. Aber auch wenn man den Schwindel durchschaut, fällt es einem schwer, auf die gelbe Farbe zu verzichten, wenn man ihr einmal verfallen ist. Ich wundere mich immer, wenn Dokus über den Amazonas oder das tiefste Afrika laufen, und die Eingeborenen tragen T-Shirts von Adidas. Man denkt doch, ihre eigenen, traditionellen Materialien müssten viel besser für ihre Lebensumstände geeignet sein.
So wie bestimmte Getreidesorten im Müsli viel gesünder sind als unsere, was die Inkas noch wussten, wir aber erst wiederentdecken müssen. Aber offenbar fällt es den Eingeborenen schwer, auf Adidas-Hemden zu verzichten, wenn sie sie einmal angezogen haben. So wird der Mensch vom Kapitalismus immer lebensunfähiger gemacht, weil man konsumieren soll, statt sich selbst zu helfen. Man sollte aber wenigstens heimlich trainieren, es auch allein zu schaffen. Ich fahre selten mit Rolltreppen, weil ich es ablehne, mich zu einem Frachtstück degradieren zu lassen, und weil ich mich nicht abhängig machen will vom Luxus. Solange ich kann, wehre ich mich gegen die Verweichlichung, die uns vom Kapitalismus aufgezwungen wird, um uns von den Ausbeutungsverhältnissen abzulenken. Die Zeit des wildesten Manchester-Kapitalismus im 19. Jahrhundert war auch die Blütezeit der Polstermöbel.
[gallery:... dem Müßiggang zu frönen]
In der DDR gab es ja noch S-Bahnen mit Holzsitzen, in liebevoller Handarbeit angefertigt. Inzwischen findet man das nicht mehr, aber ich lasse mich nicht einlullen, wenn ich auf ihren gepolsterten Sitzen Platz nehme, die nur dazu da sind, dass wir auf dem Weg zu unserer entfremdeten Arbeit nicht über das System nachdenken. Ich habe noch mein hervorragendes DDR-Einkaufsnetz, leider weiß ich beim Verlassen der Wohnung nie, ob ich im Lauf des Tages einkaufen gehen werde.
Ich lehne es ab, aus so profanen Gründen wie dem Einkaufen meine Residenz zu verlassen, früher tat man das ausschließlich, um auf die Jagd zu gehen oder bei einem benachbarten Herrscher um die Hand seiner Tochter anzuhalten. Deshalb gehe ich nur spontan auf dem Heimweg einkaufen, habe mein DDR-Einkaufsnetz dann aber meistens nicht dabei. Dann kaufe ich an der Kasse zwei Plastetüten, und neulich merkte ich bei einer, dass etwas nicht stimmte. Die Henkel von Einkaufstüten sind ja an zwei Stellen auf die zartest denkbare Weise miteinander verbunden, so dass es immer ein angenehmes Gefühl erzeugt, wenn man sie voneinander trennt. Das fühlt sich so frisch an, die Einkaufstüte ist noch nie geöffnet worden. Und ich hatte eine Tüte erwischt, bei der die Verbindung schon gelöst war. Auch wenn ich genau wusste, dass sie noch nie benutzt worden war – ich fühlte es nicht. Wieder hatte mich der Kapitalismus heimlich von etwas ganz Überflüssigem abhängig gemacht.
Jochen Schmidt, 1970 geboren, ist freier Schriftsteller und lebt in Berlin. Er ist Mitbegründer der Lesebühne „Chaussee der Enthusiasten“ und Mitglied der deutschen Autoren-Nationalmannschaft
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