- „Frankreich ist Dreh- und Angelpunkt“
Ein Manifest gegen Sparpolitik bestimmt die Diskussion in Frankreich – und schwappt sogar nun auf Deutschland über. Das überrascht selbst den Autor
Wenn Philippe Askenazy über die bevorstehende Präsidentschaftswahl in Frankreich redet, muss der französische Ökonom immer ein bisschen schmunzeln. Um zu beweisen, dass die Zeit in seinem Heimatland reif sei für einen politischen Wandel, führt er zwei Zitate an. Zunächst den Slogan, mit dem Nicolas Sarkozy vor fünf Jahren die Wahl gewann: „Mehr arbeiten, mehr Geld verdienen.“ Aktuell liegt der amtierende Präsident wenige Wochen vor der Wahl in den Umfragen hinter seinem ärgsten Widersacher François Hollande, dem Präsidentschaftskandidaten der Sozialisten. Dessen wichtigster Satz im laufenden Wahlkampf ist die zweite Aussage, die Askenazy erwähnt: „Ich liebe die Menschen, andere sind mehr vom Geld fasziniert.“
Askenazys Schmunzeln rührt daher, dass er zumindest teilweise für den Wandel in seiner Heimat verantwortlich ist. Der Direktor des staatlichen Wirtschaftsforschungsinstituts CNRS hat zusammen mit seinen Kollegen André Orléan, Henri Sterdyniak und Thomas Coutrot das „Manifest der empörten Ökonomen“ verfasst. In Frankreich hat sich das kleine Büchlein mehr als 70.000 Mal verkauft. Inzwischen ist der Text, der in zahlreiche Sprachen, unter anderem ins Finnische und Koreanische, übersetzt wurde, auch auf Deutsch erschienen. Das selbst erklärte Ziel der französischen Verfasser ist, zehn von ihnen ausgewählte Glaubenssätze des Neoliberalismus zu widerlegen. Gleichzeitig warten sie mit 22 Gegenvorschlägen auf. [gallery:Eine kleine Geschichte des Euro]
„Die Resonanz auf das Manifest hat unsere kühnsten Erwartungen übertroffen“, sagt Askenazy. Mittlerweile unterstützen 200 Wissenschaftler aktiv ihre Ideen und halten in ganz Frankreich Vorträge mit Hunderten von Zuhörern. Das Erfolgsgeheimnis des Buches liegt darin, dass es den Autoren gelungen ist, allgemein verständlich zu begründen, warum aus ihrer Sicht die Finanzmärkte weder effizient sind noch das Wachstum fördern, die Staatsverschuldung keine Konsequenz aus hohen staatlichen Ausgaben ist und rigide Sparpakete die Situation nur verschlimmern. „Es gibt keine solide Basis für die Sparpolitik, keine wissenschaftliche Studie, die ihre Wirksamkeit beweist“, betont Askenazy auch im Gespräch. Aus seiner eigenen Forschungstätigkeit weiß der Arbeitsmarktökonom dagegen, dass Wachstum und Arbeitsplätze durch Innovationen entstehen.
Die Rezession in Griechenland, dessen Krise der Ausgangspunkt für das Manifest war, scheint die empörten Ökonomen zu bestätigen. In ihrem Text fordern sie als Konsequenz eine strenge Regulierung der Finanzmärkte und eine gemeinsame, europäische Steuerpolitik, die große Unternehmen und Spitzenverdiener stärker zur Kasse bitten soll. Auch die viel diskutierte Finanztransaktionssteuer, die das Handeln an den Märkten verteuern soll, ein Verbot des Eigenhandels der Banken sowie eine striktere Kontrolle der Kapitalströme stehen in dem Maßnahmenkatalog. Um die Abhängigkeit der Eurostaaten von den Finanzmärkten zu verringern, sollte zudem die Europäische Zentralbank das Recht erhalten, Staatsanleihen der Mitgliedsländer direkt zu erwerben.
Seite 2: „Frankreich hat immer schon revolutionäre Tendenzen gehabt“
Nicht alle diese Forderungen sind neu, doch in Krisenzeiten fallen sie auf fruchtbaren Boden. „Es wird häufig vergessen, dass die hohe Staatsverschuldung vor allem eine Folge der Bankenrettung ist“, meint Askenazy. Auch wenn sich die vier Autoren des Manifests eher links einordnen, finden ihre Vorschläge bei fast allen französischen Parteien große Beachtung.
Dass ein solcher Text in Frankreich seinen Ursprung hat, ist für Askenazy keine Überraschung. Der dreifache Vater hält das Zweifeln an weitverbreitetem Ideengut für eine typisch französische Eigenschaft. „Frankreich hat immer schon revolutionäre Tendenzen gehabt, auch Europas Zukunft und die Wirtschaftspolitik werden hier von einer breiten Öffentlichkeit kontrovers diskutiert“, sagt der Enkel eines Résistance-Kämpfers. Die Franzosen fragten sich, ob sie ein Europa der Sparpolitik oder der Solidarität wollen, hat Askenazy beobachtet. [gallery:Griechenland: Jahre des Leidens]
In diesem Zusammenhang kommt er auf das deutsch-französische Tandem zu sprechen: „Frankreich ist so etwas wie der Dreh- und Angelpunkt. Wenn Präsident Nicolas Sarkozy nicht Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrer strikten Sparpolitik gefolgt wäre, hätte sie es schwerer gehabt, sich durchzusetzen. Wir können die Entwicklung in Europa auch in eine andere Richtung lenken“, sagt Askenazy.
Solche Töne sind vor allem für deutsche Ohren ungewöhnlich. Hierzulande wird schließlich jede Eurorettungsmaßnahme als „alternativlos“ verkauft. Auch deswegen ist Frankreichs Blick auf den Nachbarn zwiegespalten: Mal wird Deutschland als Wirtschaftsmacht bewundert, dann wieder der deutschen Niedriglohnpolitik die Schuld für die Krise gegeben. Am Ende könnte Sarkozy seine Nähe zu Merkel bei der Wahl zum Verhängnis werden – weil beide zu sehr „vom Geld fasziniert“ sind.
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