- Wie uns Begriffe beeinflussen
Die „Kostenexplosion“ gefährdet unseren Sozialstaat, die „demografische Katastrophe“ die Zukunft des Landes. Mit solchen vermeintlichen Gewissheiten wird in Deutschland Politik gemacht. Ein Buch entlarvt jetzt die Floskeln der Macht – ein Auszug
Kos | ten | ex | plo | si | on, die: unkontrollierbare, bedrohliche Ausgabensteigerung. Sie kann beim Bau von Flughäfen, Konzerthäusern oder Stahlfabriken auftreten, der Begriff wird aber besonders oft im Zusammenhang mit dem deutschen Gesundheitswesen und gelegentlich in Bezug auf die gesetzliche Rente verwendet. „Kostenexplosion im Gesundheitswesen: Krankes System mit Knalleffekt“, titelte zum Beispiel Spiegel Online. Da die „Kostenexplosion“ in der Sozialpolitik besonders wirkmächtig ist, wollen wir uns hier auf dieses Themenfeld konzentrieren. Schließlich wird dieses „Argument“ gerne genutzt, um den Sozialstaat zurechtzustutzen.
In zwanzig Jahren haben sich die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung nominal annähernd verdoppelt. Statt umgerechnet 99 Milliarden Euro wie im Jahr 1993 kostete die Versorgung der gesetzlich Krankenversicherten 2013 fast 181 Milliarden Euro. Da kann man doch mit Recht behaupten, es handele sich um eine Kostenexplosion. Wer wollte widersprechen? Nun, Sie ahnen es, wir wollen es. Lassen sie uns aus einer Explosion zunächst ein Explosiönchen machen, bevor wir die Bombe ganz entschärfen. Beginnen wir mit dem fiesen Teufel Inflation. Die meisten Menschen neigen dazu, sie zu vergessen, wenn sie Preise heute und in der Vergangenheit vergleichen. Ein gravierender Denkfehler. Was also war der Preis für unsere Gesundheit Anfang der 1990er Jahre und wo liegt er heute? Alleine die Inflationsbereinigung zeigt: Die Summe, die die gesetzliche Krankenversicherung 1993 ausgegeben hat, entspricht in den Preisen von 2013 rund 136 Milliarden Euro. Das relativiert den Kostenanstieg schon ganz gewaltig. Und doch ist das noch nicht einmal der entscheidende Punkt.
Gestiegen, aber nicht explodiert
Die eigentliche Frage lautet ja: Wie viel wollen wir für die Gesundheitsversorgung ausgeben? Was können wir uns leisten? Am besten beantworten lässt sich das, wenn man die Gesundheitsausgaben an der Wirtschaftsleistung misst, also an dem, was in die Kasse kommt. Drehen wir also der Bombe den Zünder raus: Gemessen an der Wirtschaftsleistung zeigen sich die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung nämlich überraschend stabil. Zwar sind sie im genannten Zeitraum gestiegen, aber lediglich von 5,85 auf 6,43 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Nimmt man alle Gesundheitsausgaben in Deutschland (Versicherungen, öffentliche Haushalte, Arbeitgeber, Privatpersonen) zusammen, zeigt sich ein ähnliches Bild: Gemessen an der Wirtschaftsleistung sind die Ausgaben von 9,3 auf 11,2 Prozent gestiegen.
Das ist ein Plus, ja, aber keine Explosion – und das, obwohl vielen Menschen eine gute Gesundheit in den vergangenen Jahren deutlich wichtiger geworden ist und die medizinischen Möglichkeiten enorm zugenommen haben. Warum ist uns das Gesundheitssystem nicht um die Ohren geflogen? Weil die Wirtschaft im gleichen Zeitraum gewachsen ist – und zwar ganz enorm. Und das alleine entscheidet darüber, ob unsere Sozialsysteme auch in Zukunft funktionstüchtig sein werden. Ein Blick über den Atlantik zeigt zudem, dass eine ausgewachsene Volkswirtschaft auch mit noch höheren Gesundheitsausgaben zurechtkommt. In den Vereinigten Staaten – nicht gerade für ihr Sozialsystem berühmt – fließen 16,9 Prozent des BIP in die Gesundheitsversorgung. Deutschland hat also noch Spielraum.
P.S.: Die Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung lagen – gemessen an der Wirtschaftsleistung – 2013 ziemlich genau auf dem Niveau von 1993. Seit dem Jahr 2000 sind sie sogar von 10,7 auf 9,6 Prozent des BIP gesunken. Die deutsche Gesellschaft gibt also einen immer kleineren Teil ihres Reichtums für die Rentner aus.
Stichpunkt Demografie
De | mo | gra | fie, die: Eigentlich meint dieser durch und durch trockene Begriff lediglich die Wissenschaft von der Bevölkerung. Doch außerhalb der Elfenbeintürme der Universitäten ist er geeignet, die Zukunft Deutschlands in düsterstes Licht zu tauchen. Kommt die Rede auf die Demografie oder die demografische Entwicklung, sehen wir das Ende unserer Sozialsysteme und die Zukunftsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gefährdet. Hilflosigkeit macht sich breit, bis hinauf in die politische Spitze des Landes. Selbst Kanzlerin Angela Merkel bläst Trübsal: „Wer weiß, wie dem demografischen Wandel erfolgreich zu begegnen ist, den beglückwünsche ich“, sagte sie zu Beginn ihrer Kanzlerschaft 2006.
So sehr hat sich das Horrorszenario vom demografischen Wandel Raum gefressen, dass nahezu jeder Umbau des Sozialstaates mit der Demografie begründet werden kann. Und häufig hat man den Eindruck, dass es immer auf ein und dasselbe hinausläuft: Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Lieber den Sozialstaat heute abschaffen, als ihn in zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren unter dem Druck des demografischen Wandels zusammenbrechen sehen. Doch gemach, gemach …
Vorsicht bei Prognosen!
Zunächst: Hurra, wir werden älter! Und ja, das bringt ein paar Herausforderungen mit sich. Aber dem Untergang geweiht sind wir deshalb nicht. Vieles, was über den demografischen Wandel gesagt, geschrieben und gesendet wird, ist überspitzt und von Unwissen geprägt. Das fängt damit an, dass die einschlägigen Zahlen des Statistischen Bundesamtes zur Bevölkerungsentwicklung für Prognosen gehalten werden, dabei handelt es sich lediglich um Vorausberechnungen.
Die Statistiker rechnen also auf der Basis bestimmter Annahmen in drei verschiedenen Szenarien durch, wie die Bevölkerung Deutschlands zum Beispiel im Jahr 2060 aussehen könnte. Die Statistiker selbst sind klug genug, sich nicht auf ein Szenario festzulegen. Denn jeder ernsthafte Demograf weiß: Prognosen über dreißig oder mehr Jahre sind unseriös. Zu viel kann in solchen Zeiträumen passieren. Die Erfindung der Anti-Baby-Pille ist so ein Beispiel. Sie hatte starken Einfluss auf die Geburtenentwicklung. Oder, ganz aktuell: die unerwartet hohe Zuwanderung, die über sämtlichen Annahmen der Wiesbadener Statistiker liegt.
Das hält die Schwarzmaler trotzdem nicht davon ab, häufig auf der Grundlage des negativsten Szenarios nach jeder Aktualisierung der Vorausberechnungen den Untergang des Abendlandes auszurufen und stante pede die nächste „Reform“ des Sozialstaates einzufordern. Natürlich wissen auch wir nicht, wie die Zukunft aussehen wird. Aber erstens räumen wir das hier offen ein – und zweitens holen wir nun tief Luft und widmen uns den häufig vergessenen
Faktoren in dieser Debatte, um zu zeigen, dass die demografische Entwicklung nicht ins Verderben führen muss.
Die Wirtschaft bildet die Basis unseres Wohlstandes
Die übliche Argumentation im Zusammenhang mit dem demografischen Wandel funktioniert so: Je älter die Bevölkerung wird, desto mehr Menschen gehen in den Ruhestand und beziehen Leistungen der Sozialversicherungen. Gleichzeitig nimmt die Zahl der Erwerbstätigen ab – und damit die Zahl der Menschen, die in die Sozialversicherungen einzahlen. Die immer größer werdende Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben führt schließlich zum unausweichlichen Kollaps der Renten-, Kranken- und Pflegekassen. Das klingt soweit logisch. Und genau das ist das Problem. Denn die Argumentation setzt an der falschen Stelle an: Schließlich ist für die Finanzierbarkeit unserer Sozialsysteme nicht die Zahl der Arbeitnehmer entscheidend, sondern die Leistungsstärke der deutschen Wirtschaft. Sie bildet die Basis unseres Wohlstandes.
Und je mehr es davon gibt, desto mehr Mittel haben wir, um die ältere Bevölkerung zu versorgen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass der zusätzliche Wohlstand auch der gesamten Bevölkerung zugutekommt und nicht durch Lohnzurückhaltung nur einem Teil der Bundesbürger. Sie wenden ein, dass ohne Arbeitnehmer auch nichts erwirtschaftet werden kann? Dann lassen Sie sich überraschen.
Die Produktivitätssteigerung
Der Zusammenhang zwischen Beschäftigung und Wirtschaftsleistung ist weniger eng, als bisweilen gedacht wird. So ist das deutsche Bruttosozialprodukt zwischen 1995 und 2014 preisbereinigt um gut ein Viertel gewachsen. Wurde dafür mehr menschliche Arbeitskraft benötigt? Fast nicht. Die Erwerbstätigen haben in Stunden gemessen 2014 nur 0,6 Prozent mehr gearbeitet als 1995. Wir haben also mit fast gleich viel Arbeitsaufwand deutlich mehr hergestellt als vor zwanzig Jahren. Das ist die häufig vergessene Produktivitätssteigerung. Sie könnte in den kommenden Jahren noch einmal deutlich zunehmen, da im Zuge der Digitalisierung der Wirtschaft viele Aufgaben voraussichtlich Maschinen übernehmen werden, was weiteres Wachstum verspricht.
Schaut man in die Vergangenheit, erklärt genau diese Entwicklung, warum uns die Sozialsysteme nicht längst um die Ohren geflogen sind. Denn im Jahr 1900 haben 12,4 Erwerbsfähige für eine alte Person gearbeitet, fünfzig Jahre später waren es noch 6,9 und zur Jahrtausendwende lediglich 4,1 Personen. Das Verhältnis zwischen Jung und Alt hat sich massiv verschlechtert, trotzdem ist der Wohlstand aber gestiegen und die Sozialversicherungssysteme wurden ausgebaut.
Für die Zukunft muss uns deshalb nicht bange werden.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch „Gute-Macht-Geschichten. Politische Propaganda und wie wir sie durchschauen können“ von Daniel Baumann und Stephan Hebel, erschienen im Westend Verlag, 247 Seiten, 16 Euro.
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