- Die Gauner aus der City of London
Ein Zins-Skandal erschüttert die britische Finanzwelt. Er hat Auswirkungen auf das internationale Kreditwesen. Jahrelang wurde die Zinsermittlung für die Kreditvergabe unter den Banken manipuliert. Michael Naumann kommentiert, was nun daraus folgen muss
„Libor“ – kein Winterkurort in den Karpaten oder Slowenien – ist das Akronym für „London Interbank Offered Rate“. Es bezeichnet den Referenzzinssatz für das interne Bankgeschäft, also die Zinshöhe für meist kurzfristige Kredite, die sich international tätige Banken gegenseitig gewähren.
Festgesetzt wird dieser Zinssatz, ähnlich wie beim „Goldpreis-Fixing,“ durch ein täglich in London tagendes Gremium von bis zu 16 verschiedenen Banken. „Libor“ fließt in die Preisgestaltung normaler Kreditgewährungen für Privatkunden ein, ob in Böblingen oder Edinburgh, vor allem aber in das internationale Bankengeschäft mit allen möglichen Finanzprodukten, so genannten Derivaten, deren gegenwärtiges Volumen, sofern es vom „Libor“-Zinssatz beeinflusst wird, vom Wall Street Journal auf 800 Billionen Dollar geschätzt wird.
Da „Libor“ privatwirtschaftlich festgelegt wird, kann der Zinssatz manchmal über, manchmal unter dem Leitzins der Zentralbanken liegen. Auf alle Fälle definiert er internationale Immobilien-Hypotheken, Automobil-Darlehen oder Hedgefonds-Wetten und andere komplexe Finanzgeschäfte.
Bereits im Herbst letzten Jahres hegte die EU-Kommission den Verdacht, dass es bei der Festsetzung der Zinshöhen zu Manipulationen im Interesse der mitbestimmenden Banken gekommen sein könnte. Zum Beispiel könnte eine Bank einen besonders niedrigen Zinssatz angegeben haben, mit denen sie angeblich selbst ihr Interbanken-Kreditgeschäft betreibe, um während der Bankenkrise von 2008 vorzutäuschen, dass sie gesünder ist, als es der Fall war – um auf diese Weise an billigeres Geld zu gelangen oder eigene Finanzwetten abzusichern.
Das funktioniert prinzipiell allerdings nur, wenn andere Banken des Libor-Gremiums dieses manipulative Spiel mitmachen, um den „Libor“ zu senken. Genau dies scheint die renommierte englische Großbank Barclays im Zusammenspiel mit anderen britischen Banken zwischen 2007 und 2009 betrieben zu haben: Am 27. Juni akzeptierte das Geldinstitut eine Strafe in Höhe von 453 Millionen Dollar, die ihr von der britischen und amerikanischen Bankaufsicht auferlegt wurde. Der Aktienkurs sank am nächsten Tag um 15 Prozent.
Am 3. Juli trat Barclays-Vorstand Bob Diamond unter Druck des Aufsichtsrats und der Öffentlichkeit zurück. Andere Top-Manager folgten. In der Vergangenheit war Diamond durch öffentliche Auftritte aufgefallen, in denen er die jährlichen Boni von Top-Bankern in zweistelligen Millionenhöhen rechtfertigte. Angeblich „untere“ Bankangestellte einer anderen, offensichtlich involvierten englischen Bank wurden gefeuert. Die Labour-Opposition fordert einen Untersuchungsausschuss ein; der britische Premier Cameron wiegelt ab.
Der Chef der britischen Bankaufsicht FSA, Lord Turner, fasst die Dimension des ungeheuerlichen Skandals in der inzwischen stereotypen moralischen Empörung zusammen: „Die zynische Habsucht der Händler, die ihre Kollegen aufgefordert haben, ihre Libor-Angaben zu fälschen, so dass sie höhere Profite machen können, hat andere schockiert und verärgert – zumal wir in einer Zeit leben, die vor großen wirtschaftlichen Problemen steht, die selbst wieder das Resultat der Finanzkrise sind.“ Nichts Neues also.
Auf der folgenden Seite: Was für Schlussfolgerungen gezogen werden müssen
Was aber lernen wir, die Steuerzahler, ihre politischen Repräsentanten im Parlament und in der Regierung, aus diesem jüngsten Skandal?
Erstens: Moralische Appelle an Spitzenmanager des internationalen Bankgeschäfts und ihrer Angestellten sind offenbar sinnlos. Manchen unter ihnen geht das summum bonum der eigenen Gewinne über dasjenige ihrer Gesellschaft und ihrer Privatkunden und Aktionäre. Lieber brechen sie Gesetze und Regeln. Das amerikanische Justizministerium hat Barclays für die Kooperation bei der Aufdeckung des Skandals Strafsicherheit gewährt. Jedem Kleinbetrüger wäre solche Gnade nicht zuteil geworden.
Zweitens: Gaunereien werden von Gaunern begangen. Eine koordinierte europäische Strafgesetzgebung für diese neuartigen Betrugsversuche des internationalen Finanzgeschäfts gehört alsbald auf die parlamentarische Tagesordnung der Euro-Staaten, Auslieferungsabkommen inklusive.
Drittens: Die jüngst verabredete Europäische Bankaufsicht muss mit genügend Mitteln ausgestattet werden, um fachkundiges Personal zu gewinnen, dessen hohe Gehälter der Komplexität ihrer Aufgaben entsprechen. Den Bankern müssen sie auf Augenhöhe begegnen können – in diesem Milieu wird es am Gehalt gemessen.
Viertens: Die angestellten Vorstände der Banken müssen in Zukunft mit ihrem Privatvermögen bis zur Grenze des Offenbarungseids haftbar gemacht werden für kriminelle Aktivitäten ihrer Mitarbeiter.
Fünftens: Keine Bank ist „too big to fail“ – und sollte sie es sein, muss sie in ihre Einzelteile zerlegt werden – auf Kosten ihrer Anteilseigner und nicht etwa, wie im Falle der Hypo Real Estate, auf Kosten der Steuerzahler.
Jeder weitere politische Appell an die Moral im Finanzgeschäft wirkt wie ein Signal politischer Hilflosigkeit. Es stimmt ja – die weitaus überwiegende Mehrzahl der Mitarbeiter des nationalen und internationalen Bankgeschäfts benötigen derlei Appelle nicht. Sie sind die Leidtragenden eines Finanz-Systems, in dem sich schwarze Schafe als weiße tarnen können, bis die eigenen Kassen voll sind. Aber dass die Zahl windiger Dealer und ihrer mitwissenden Vorgesetzen überhandgenommen hat, werden sie nicht bestreiten.
Auch sie, die ganz normalen Banker, die Angestellten an den Kassen und Beratungsstellen, haben einen Anspruch darauf, dass ihr gesellschaftlicher Ruf geschützt wird von einer Gesetzgebung, die mit den kleinen und großen Tricksereien aufräumt, von den offensichtlichen Verbrechen im Stil von Barclays, genannt „price fixing“, ganz abgesehen.
Und noch etwas: Neben dem Libor gibt es auch den Euribor und das Londoner „Fixing“ des Goldpreises. Letzterer wird inzwischen durch Hedgefonds definiert. Frage an die EU-Kommission: Wie geht es da eigentlich zu?
Zum exklusiven Gremium, das täglich den international gültigen Goldpreis definiert, gehört auch Barclays.
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