Der Souverän ist der Anwalt

Europas Unternehmen kommen unter die Räder der US-Anwaltsindustrie:Nicht Standesethik und das Ideal der Rechtspflege, sondern Profitmaximierung bestimmt das aggressive Gebaren der angelsächsischen Law Firms. Unter den Folgen leiden wir alle.

There is always a chance to sue somebody!“ Amerikas Jura-Studenten lernen diesen Kampfruf der Anwälte im ersten Semester. Er bedeutet die Chance auf Geld, Macht, Einfluss. Zu den wirklich reichen Männern der USA zählen viele Anwälte: Der Texaner Joe Jamail wird auf 1,2 Milliarden Dollar Privatvermögen taxiert, Frederick Furth im sonnensicheren Kalifornien muss sich zwar mit wenigen hundert Millionen Dollar bescheiden, besitzt aber ein Weingut und eine Lokalzeitung. Peter Angelos aus Maryland, die letzte Hoffnung vieler Prominenter, hat sich ein nicht allzu preiswertes Baseballteam zugelegt. Okay, wir alle kennen diese Dinge. Was ist neu daran? Wir alle wissen, dass die Amerikaner, wenn es um groteske Schadenersatzsummen, die Verfolgung vermeintlicher Großschäden, die Abrechnung mit ganzen Industrien geht, schlichtweg spinnen. Es geht dann nicht um Recht, es geht um anderes. Mit der nicht eben beabsichtigten, aber doch feststellbaren Folge, dass Amerikas Anwälte die Lebensqualität ihres Landes versaut haben. Nichts passiert, ohne dass man den Anwalt im Nacken fürchten muss. Schon gar nicht in den Unternehmen. Sie rüsten sich mit Hundertschaften von Anwälten, die Tag für Tag nichts anderes tun, als zu überlegen, wie die Konkurrenz aufs Kreuz zu legen ist. Immer seltener geht es um das bessere Produkt. Die besseren Anwälte entscheiden über den Erfolg im Wettbewerb. Zum Glück – so scheint es und wir bleiben beruhigt – ist Europa davon weit entfernt. Hier sind Verfehlungen, so sie denn mit Schaden verbunden sind, vergleichsweise preiswert. Selbst Personenschäden oder Schäden an Leib und Seele sind nicht sehr teuer. Versuche deutscher Prominentenanwälte, die Preise für in der Yellow Press ungewollt veröffentlichte Fotos von mal mehr, mal weniger Prominenten in die Höhe zu treiben, sind bislang kaum von Erfolg gekrönt, weshalb Caroline & Co. vorläufig wohl weiter von Apanagen leben müssen. Und der Berufsstand der Anwälte ist nach wie vor hoch angesehen, in vielen Fällen übrigens zu Recht. So weit, so gut also. Ihr dort macht es anders als wir hier, oder? Das ist einfach Unsinn. Wer glaubt, dass wir im „alten Europa“ weit davon entfernt sind, „amerikanische Verhältnisse“ in der Juristerei zu bekommen, der befindet sich noch in der liebevoll-betulichen Welt der Sendereihe „Königlich-bayerisches Amtsgericht“, die die Älteren unter uns Woche für Woche überschaubar amüsierte. Die Realität ist eine andere. Die Unternehmen in Europa sind längst unter die Räder der Anwälte nach US-Vorbild gekommen. Was den Anwälten in den USA gelungen ist, nämlich die Lebensqualität – mit Verlaub – zu versauen, das gelingt ihnen zunehmend auch in unseren Breiten. Dabei geht es nicht um Blechschäden bei irgendeinem Autounfall. Es geht auch nicht um so sensible Themen wie die Kompensationen für erlittenes Unrecht etwa in der Nazizeit. Auch unser Amtsgericht wird noch lange betulich bleiben, und die heimischen Wald-und-Wiesen-Anwälte werden noch lange für ihre Mandanten nach alter Väter Sitte kleinere und größere Streitereien austragen. Nein, es geht um die wirklich großen Fleischtöpfe. Und die finden sich bei den Unternehmen, in der Wirtschaft, in der Globalisierung der Systeme. Der Economist hatte schon Anfang 2004 zwei Trends konstatiert. Erstens: Amerikanische Standards werden im Wirtschaftsrecht triumphieren, weil die amerikanische Anwalts-Industrie das tut, was die übrige Industrie schon lange vor ihr getan hat: Sie globalisiert. Und zweitens konstatiert der Economist, „that, as in war, American multilateralism is giving way to unilateralism, as it exports wholesale its accounting rules, standards of corporate governance und securities regulations“. Den vorläufigen Höhepunkt der Entwicklung vom Multilateralismus nationaler Rechtssysteme zur unilateralen Dominanz des US-Wirtschaftsrechts bildet der Sarbanes Oxley Act von 2002. Die US-Legislative hatte das Paragrafenwerk in der löblichen Absicht auf den Weg gebracht, die seinerzeit kurz zurückliegenden Auswüchse der Finanzindustrie an Wall Street und Co. unter Kontrolle zu bekommen. Doch Sarbanes Oxley wurde ein bürokratisches Monster, das den Juristen die Machtübernahme in den Unternehmen ermöglichte. Amerikas Unternehmen können damit einigermaßen leben, weil ihre Rechtsabteilungen immer schon die Prozeduren dominiert haben. Die Folgen für Europas Unternehmen sind aber nicht abzuschätzen. Europa hatte bis dato ein ganz anderes Zusammenwirken von Gesetzgeber, Unternehmen und Rechtssystem – und es war nicht das schlechteste. Damit ist es vorbei. Insbesondere deutsche Unternehmen reagieren verunsichert – und fördern damit die Diktatur der Anwälte. Um ja keine Fehler zu machen, die viel Geld kosten und dazu führen könnten, dass man sich im Dickicht des Wirtschaftsrechtes made in USA verstrickt, werden Heerscharen von Anwälten engagiert. Insbesondere bei Übernahmen und Fusionen grassiert die Herrschaft der Juristen – und die leben in bester Symbiose mit den auch nicht gerade als Kinder von Traurigkeit geltenden Investmentbankern. Vernunft und das Primat unternehmerischen Handelns werden immer mehr ausgeblendet. Die entscheidenden Ressourcen Zeit, Geld und Aufmerksamkeit werden zunehmend von Anwälten in Anspruch genommen – natürlich auf beiden Seiten, bei Kunden wie Lieferanten, beim Übernehmer wie beim Übernommenen. Immer mehr Anwälte schaffen sich gegenseitig die Arbeit, die sie anschließend mit horrenden Stundensätzen abrechnen. Nicht umsonst kommt in Deutschlands Finanzmetropole Frankfurt auf wenig über hundert Einwohner bereits ein Anwalt. In Niedersachsen hingegen liegt die Relation noch bei tausend zu eins. Freshfields Bruckhaus Deringer, Clifford Chance Pünder, Linklaters Oppenhoff&Rädler, Lovells, White&Case Feddersen, Shearman&Sterling – so heißen mittlerweile die großen Kanzleien in Deutschland. Sie entstanden zumeist aus Übernahmen deutscher Kanzleien durch amerikanische oder britische Law Firms. Sie beschäftigen jeweils mehrere hundert Anwälte und haben nichts mit früheren Kanzleien gemein, die sich auch der Rechtspflege verpflichtet fühlten. Es sind straff organisierte Unternehmen. Die Profitabilität jedes Mandats zählt, das System der Entlohung entspricht dem von Investmentbanken. Das Marketing der Law Firms wird generalstabsmäßig aufgezogen. Freshfields beschäftigt bei rund 500 Anwälten allein 15 Mitarbeiter im Marketing. Auch wenn der einzelne Anwalt, der die deutsche Ausbildung durchlaufen hat, es lieber anders hätte: Die Übermacht des US-Modells ist erdrückend. Die deutschen Unternehmen ächzen unter diesen Veränderungen, die das gesamte Wirtschaftssystem erfassen. Unter den Kosten, die etwa im Zuge einer Akquisition eines Unternehmens aus dem angelsächsischen Raum anfallen, macht die Rechtsberatung mittlerweile einen großen Batzen aus. Selbst Presseinformationen mit wenigen Zeilen schwellen auf mehrere Seiten an, weil unter die eigentliche Information seitenlange „Dis-claimer“ gesetzt werden müssen. Die sind zwar oft so sinnvoll wie der berühmt gewordene Hinweis, dass Katzen nicht in der Mikrowelle getrocknet werden sollten. Doch die Unternehmensanwälte fürchten, ohne derartige Hinweise Gefahr zu laufen, in den USA von Kollegen belangt zu werden. Bei Verhandlungen um unternehmerische Konzepte hat immer öfter das Law Team das letzte Wort und erstickt damit unternehmerische Ansätze. Immer mehr Manager entwickeln aus ihrer Not eine Strategie der Absicherung, nicht des unternehmerischen Handelns. Sie bauen Schutzwälle von anwaltlichen Gutachten um sich auf, versuchen, jedes allerkleinste Detail, und sei es noch so weltfremd, in Vertragswerken zu regeln, deren Umfang das Buch der Bücher leicht in den Schatten stellt. Die Anwalts-industrie nährt sich selber. Ein perfektes System. Auch auf anderen Gebieten motiviert das Vorbild der USA die deutschen Anwälte zu ungeahntem Engagement. Kaum ist bei einem börsennotierten Unternehmen von wirtschaftlichen Problemen die Rede, stürzt der Aktienkurs ab und schon sind die selbst ernannten Aktionärsanwälte zur Stelle. Sie scharen vermeintlich geschädigte Aktionäre um sich, plaudern lässig über Sammelklagen, lassen über die Medien mitteilen, dass man natürlich gedenke, die bösen Manager, die mit dem Geld ihrer Aktionäre so fahrlässig umgegangen sind, zu teeren, zu federn und anschließend in den nächstbesten Fluss zu werfen, mindestens aber das verlorene Geld der Aktionäre zurückzuholen – und verdienen sich damit eine goldene Nase, ohne vor Gericht erfolgreich zu sein. Auf Hauptversammlungen schlagen sie Krawall, sehr zur Freude der Kleinaktionäre, die ohnehin immer der Meinung sind, dass das Management sie irgendwie geschädigt hat und ihnen ihr Geld vorenthält. Und sehr zum Verdruss der Manager, die wiederum Hundertschaften von Anwälten damit beschäftigen, sich dieser Angriffe zu erwehren. Womit das System wieder ein geschlossenes wäre. Wir werden es am Ende mit einem System zu tun haben, das so niemand wollte – außer den Wirtschaftsjuristen – und das doch so gekommen ist: Mit dem Abschied unseres europäischen Verständnisses von Recht, der Aufgabe des ohnehin kaum noch wirksamen Standesverständnisses der Anwälte, mit Wirtschaftsanwälten, die ungehindert ihre Macht in den Unternehmen entfalten, mit Unternehmen, die sich mit hohen Investitionen in ihre Anwälte zulasten der Verbraucher und des Wettbewerbs Vorteile verschaffen, mit Behörden, die immer mehr Bürokratie schaffen – und mit Gerichten, die der Flut von Wirtschaftsanwälten und ihren Klagen hilflos gegenüberstehen. Und vor allem mit gelähmten Unternehmen, die alles Handeln dem eigentlichen Souverän im Unternehmen, dem Wirtschaftsanwalt oder dem Law Team unterwerfen. Unser aller Lebensqualität ist gefährdet. Es wird Zeit, dass Europa eine Antwort, seine Antwort findet. Norbert Essing ist geschäftsführender Gesellschafter einer Agentur für Kommunikationsberatung. Zu seinen Kunden zählen vor allem Topmanager großer Unternehmen

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