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Datensammelwut - Rasterfahndung im Supermarkt

Der österreichische Medienmanager und Autor Rudi Klausnitzer erklärt im Cicero-Interview das Phänomen der Datensammelwut, warum Supermärkte wissen, wer schwanger ist, und Steakmesser nicht verboten werden müssen

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Til Knipper leitet das Cicero-Ressort Kapital. Vorher arbeitete er als Finanzredakteur beim Handelsblatt.

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Herr Klausnitzer, möchten Sie von Ihrem Supermarkt erfahren, dass Ihre Frau oder Ihre Tochter schwanger ist?

Nein, natürlich nicht, aber ich muss zur Kenntnis nehmen, dass Supermärkte in der Lage sind, allein aus dem Einkaufsverhalten ihrer Kundinnen mit hoher Treffsicherheit auf eine Schwangerschaft zu schließen.

Wie funktioniert das konkret?

In den USA hat eine Supermarktkette mithilfe der Daten, die sie durch Kundenkarten- oder Kreditkartenabrechnungen, Befragungen und Tests gesammelt und mit eigens entwickelten Algorithmen ermittelt haben, herausgefunden, dass eine hohe Korrelation zwischen einer Schwangerschaft und dem Kauf von rund 25 Produkten besteht. Zum Beispiel fangen Frauen im zweiten Drittel der Schwangerschaft an, unparfümierte Körperlotions zu kaufen, und greifen plötzlich zu Spurenelementen wie Kalzium, Zink und Magnesium.

Was macht der Supermarkt mit dieser gewonnenen Erkenntnis?

Er lässt dann den Algorithmus über seine Datenbank laufen und hat anschließend eine Liste mit Tausenden von schwangeren Frauen, die regelmäßig bei ihm einkaufen. Die Auswertung ist inzwischen so genau, dass das Unternehmen nicht nur mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 80 Prozent sagen kann, dass eine Kundin schwanger ist, sondern auch mit relativ hoher Genauigkeit den Geburtstermin vorhersagen kann. Mit Gutscheinen für unparfümierte Seife oder Coupons für Windeln kann es dann maßgeschneiderte Marketingmaßnahmen ergreifen.

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In Ihrem neuen Buch „Das Ende des Zufalls“ beschreiben Sie das Phänomen „Big Data“: Wir produzieren und veröffentlichen bewusst und unbewusst immer mehr Daten, gleichzeitig werden Unternehmen, Staaten, Geheimdienste und andere Institutionen immer besser darin, diese gewaltigen Mengen auszuwerten und für sich nutzbar zu machen. Ist das eher Segen oder Fluch?

Beides, wenn man ehrlich ist. Es gibt beispielsweise die QS-Bewegung. Das steht für Quantified Self: Selbsterkenntnis durch Selbstbeobachtung lautet das Motto. Deren Anhänger messen die Zahl ihrer Schritte pro Tag, mehrfach ihren Blutdruck und -zucker, wie viele Liegestütze sie machen, wann sie Sex haben und stellen sich morgens und abends auf die Waage. Letztere ist direkt mit dem Internet verbunden, die anderen Daten werden mithilfe von Smartphone-Anwendungen festgehalten und über Facebook oder andere Netzwerke mit anderen geteilt.
 

Ist dieser Kontrollzwang nicht krankhaft?

Ab einem gewissen Punkt sicherlich, aber diese spielerische Form der Datensammlung hat, die Experten sprechen von Gamifizierung, auch einen hoch motivierenden Effekt, der bei vielen Fitnessprogrammen genutzt wird. Und alle diese Daten stehen dank digitaler Speicherung auch für wissenschaftliche Zwecke zur Verfügung. Das gehört für mich in die Abteilung Segen, weil es mir heute eher Angst und Bange macht, dass die medizinische Forschung mit kleinen Stichproben auskommen muss.

Gut, aber wenn meine Waage meldet, dass ich zu dick bin, meine Toilette online ist und mitteilt, dass in meinem Urin Drogen sind oder ich eine chronische Krankheit habe, sind wir dann nicht auf dem Weg in die Gesundheitsdiktatur?

Wenn Sie infolgedessen aus der Krankenversicherung fliegen, gehört das in die Abteilung Fluch, weil Datenanalyse dann gesellschaftliche Benachteiligung und Ausgrenzung zur Folge hat. Besonders problematisch ist es da, wo Daten aus verschiedenen Bereichen akkumuliert werden und daraus Rückschlüsse mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit gezogen werden können. Da landen Sie dann plötzlich in der Schublade „psychisch instabil“ aufgrund der Musik, die Sie bei iTunes heruntergeladen, und der Bücher, die Sie bei Amazon gekauft haben. Aber gerade deswegen brauchen wir einen gesellschaftlichen Diskurs über den Umgang mit diesen Datenmengen.

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Wie könnte ein vernünftiger Umgang mit Big Data aussehen?

Ich plädiere für die freie Verfügbarkeit anonymisierter Daten. Wer die zu Forschungszwecken oder auch mit Gewinnerzielungsabsicht analysieren will, muss sich strengen Richtlinien unterwerfen. Jeder Versuch, sensible anonymisierte Daten zu reidentifizieren, also wieder einer Person zuzuordnen, muss empfindlich bestraft werden.

Aber es bleibt doch eine Wiederauferstehung der Rasterfahndung, die wir vor allem aus der Terrorbekämpfung kennen?

Das stimmt, mit dem feinen Unterschied, dass die Rasterfahndung heute nicht mehr nur vom Staat, sondern auch von börsennotierten Unternehmen eingeleitet werden kann. Ich finde es aber grundsätzlich in Ordnung, wenn zum Beispiel der Staat modernste algorithmusgestützte Datenanalyse bei der Steuerfahndung einsetzt. Das kann er zunächst mit anonymisierten Datensätzen machen. Wer im Raster hängen bleibt, muss dann natürlich auch reidentifiziert werden können. Dessen Steuererklärung prüft man genauer und setzt so die Steuerfahnder gezielter und effizienter ein, was die Steuergerechtigkeit erhöht.
 

Und bei privaten Unternehmen?

Die dürfen mit den Daten all das machen, wozu die Kunden ihre Einwilligung gegeben haben. Aber wenn ein E‑Commerce-Händler versucht, auf diese Weise die Kundengruppen herauszufiltern, die nicht bezahlen oder extrem hohe Retourquoten haben, finde ich das auch legitim.

Wer sind denn dann die großen Gewinner dieser Entwicklung?

Menschen mit mathematisch-statistischem Hintergrund, die die digitale Welt verstehen und ein Gefühl für die Bandbreite der Einsatzmöglichkeiten moderner Datenanalyse haben, sind extrem gefragt. Aber auch in den Medien ist ein neuer Typ von Journalist gefragt, der komplexe Daten analysieren und verständlich aufbereiten kann. Und der Bereich der Markt- und Meinungsforschung muss sich einem drastischen Wandel unterziehen. Es wird viel wichtiger zu analysieren, was die Leute tatsächlich tun, statt auszuwerten, was sie zum Beispiel in einer Befragung sagen. Denn dazwischen gab es schon immer eine Diskrepanz. Die Prognosen werden daher präziser, wenn es gelingt, aus der Datenflut direkt herauszufiltern, was die Leute tatsächlich machen oder haben wollen, wie das Beispiel mit den Schwangeren zeigt.

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Aber woher rührt dieses manische Bedürfnis, den Zufall abzuschaffen und alles präzise vorherzusagen?

Zum einen ist es bares Geld wert, zum anderen entspricht es der Arbeitsweise unseres Gehirns. Das macht ständig Vorhersagen und prüft dann, ob die von den Sinnesorganen gelieferten Daten mit der Vorhersage übereinstimmen. Das ist der effizienteste Umgang mit unseren Energieressourcen. Zufälle stören da nur. Wenn das, was wir erwarten, auch eintritt, wird das Glückshormon Dopamin ausgeschüttet.

Wird das Leben nicht entsetzlich langweilig, wenn nichts Unvorhergesehenes mehr passiert?

Keine Angst, Überraschungen wird es noch genug geben. Dafür ist die Welt komplex genug. Aber eine Studie der Unternehmensberatung McKinsey sagt voraus, dass man mit besseren Prognosen allein in den OECD-Ländern im Bereich der öffentlichen Verwaltung rund 150 Milliarden Euro im Jahr einsparen könnte. Für den US-Gesundheitsbereich wurde das Potenzial sogar mit 300 Milliarden Dollar im Jahr veranschlagt. Wenn diese Beträge in die Bildung investiert würden, wäre das doch ein guter Deal.

Und entziehen kann man sich der Datensammelwut ohnehin nicht, oder?

Kaum, wir produzieren jeden Tag das Zwölfeinhalbfache der Datenmenge aller jemals gedruckten Bücher. Man kann nicht zum Digitalaussteiger werden, wenn man gleichzeitig die Vorteile der Digitalisierung nutzen will. Wichtig ist, dass wir uns die Mechanismen bewusst machen, die dahinterstehen. Sonst sind wir leichte Beute für die Datensammler, weil wir uns zu schnell verführen lassen durch Gegenleistung oder einfach aus Bequemlichkeit Informationen preisgeben, die wir eigentlich gar nicht mitteilen wollten. Mir geht es aber auch darum, die Chancen zu zeigen, die sich aus dieser Entwicklung ergeben. Wir neigen in Europa häufig dazu, nur die Gefahren zu sehen und darauf mit Verboten zu reagieren. Man kann auch mit einem Steakmesser jemanden töten, aber deswegen käme keiner auf die Idee, es zu verbieten. 

Das Interview führte Til Knipper.

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