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() Menschen lieben Geschichten
Trau schau wem

Das Marketinggeheimnis unserer Zeit lautet Storytelling. Wer heute in Politik und Wirtschaft Erfolg haben will, muss die Kunst des Geschichtenerzählens beherrschen. Auf der Strecke bleibt dabei die Grenzlinie zwischen Fiktion und Wirklichkeit

Lesen Sie auch dazu: Interview mit Harry G. Frankfurt: Demokratie befördert Bullshit Sie glauben, Sie könnten gewählt werden, indem Sie für Ihr Programm werben? Sie hoffen, mehr zu verkaufen, indem Sie die Vorzüge Ihres Produkts anpreisen? Da liegen Sie falsch. Das Marketinggeheimnis der Gegenwart lautet Storytelling. Die Kunst des Geschichtenerzählens. In den USA wird diese Mode sogar allmählich zu einer philosophischen Haltung, zu einem Leben in permanenter Fiktion im Gegensatz zur permanenten rationalen Analyse der Wirklichkeit. Geben Sie „Storytelling“ bei Google ein, und Sie werden sehen, dass die Sache auf elf Millionen Seiten aus allen Winkeln beleuchtet wird. Dass Barack Obama, Hillary Clinton und John McCain im Endspurt Richtung US-Präsidentschaft liegen, verdanken sie nicht so sehr ihren Ansichten über die Zukunft der Vereinigten Staaten, sondern ihrer persönlichen Geschichte. Die Legende vom ersten Schwarzen, dem nach einer grandiosen Karriere der Weg bis zum Gipfel gelungen ist, womit er die Integrationsfähigkeit der amerikanischen Gesellschaft beweist. Die unglaubliche Revanche einer brillanten Frau und betrogenen Gattin, die ihrem Mann ins oberste Staatsamt nachzufolgen gedenkt. Das heroische Schicksal eines über Hanoi abgeschossenen, lange in Gefangenschaft gehaltenen und gefolterten Marinefliegers, der plötzlich wieder auftaucht, um Amerikas Ruhm hochzuhalten. Drei Filmgeschichten. Evan Cornog, Professor für Publizistik an der Columbia-Universität und Autor des Buches „The Power and the Story“, behauptet sogar: „Die Zukunft des Landes und der Welt hängt von der Fähigkeit der amerikanischen Bürger ab, gute Geschichten auszuwählen.“ Der mit Fernsehserien und Computerspielen überfütterte Medienkonsument hat wenig Lust auf Debatten zwischen nörgelnden Intellektuellen oder streitsüchtigen Politikern. Ihn interessiert eine gute Story, möglichst eine, die mehr oder weniger seine eigenen Fantasien abdeckt. Diese Tatsache haben sich die Kommunikationsstrategen in der Politik wie in der Werbung, im Management und sogar im militärischen Bereich zunutzegemacht. Kürzlich veröffentlichte der französische Soziologe Christian Salmon ein erfolgreiches Buch: „Storytelling, la machine à fabriquer des histoires et à formater les esprits“ (dt. etwa: „Storytelling, die Methode des Geschichtenerfindens und Gedankenformatierens“, Editions La Découverte). Der Schriftsteller und Wissenschaftler befasst sich darin mit einem ursprünglich nordamerikanischen Phänomen, das sich nun auch nach Europa ausbreitet. Besonders nach Frankreich. Wer hätte gedacht, dass die Heimat ­Descartes’, die man vom Rationalismus der Aufklärung geprägt glaubte, sich einen Präsidenten geben würde, der unablässig an romantische Gefühle appelliert? Nicolas Sarkozy macht sein Privatleben zum Fortsetzungsroman eines People-Magazins. Aber auch sein politischer Diskurs erinnert unentwegt an eine Art modernes Heldenepos. Die meisten seiner gedanklichen Höhenflüge entstammen der Feder eines gewissen Henri Guaino, nationalistischer und anti-europäischer Schriftsteller, Liebediener der „France profonde“, des erzkonservativen Frankreich, und leidenschaftlicher Bewunderer großer Persönlichkeiten, von Napoleon bis de Gaulle. Sarkozys Berater ist überzeugt davon, dass „niemand ein Land verändern kann, der nicht die Fähigkeit besitzt, eine Geschichte zu schreiben und zu erzählen“. Seitdem liefert das Elysée Stoff am laufenden Band, immer möglichst in Verbindung mit einer kleinen Anekdote oder einer anrührenden Erinnerung. Wichtig ist nur, dass das Thema pikant genug ist, um es an den Anfang der Fernsehnachrichten zu schaffen. Natürlich ist dieses Phänomen in Deutschland nur schwer zu verstehen, wo weder die Kanzlerin noch ihre Rivalen sonderlich für die epische Verherrlichung der Nation zu haben sind. Dort hat man mehr als irgendwo sonst gelernt, rhetorische Höhenflüge zu meiden. Die Kunst des Erzählens aber ist so alt wie die Menschheit selbst. Immer schon haben die Mächtigen sie benutzt und missbraucht. Schon die Troubadoure wurden nicht selten von ihren Fürsten manipuliert. Der moderne Journalismus kennt das Rezept des Geschichtenerzählens seit jeher. Nicht mit der Analyse beginnen, sondern zuerst eine Persönlichkeit, eine Kulisse, eine Stimmung, eine pikante Story präsentieren, das lehren sämtliche Nachrichtenmagazine ihre Schreiber vom ersten Tag an. Meister dieser Kunst ist seit zwei Generationen Der Spiegel. Doch diese Informationserzähler wissen auch, dass eine Anekdote nicht die Substanz ersetzt, die genau recherchierten, aussagekräftigen Fakten. Neben den Hohepriestern der „Storytelling“-Messe, wie sie in den USA zelebriert wird, sind sie nur Chorknaben. Für Christian Salmon steht der allmächtige Fernsehsender Foxnews für eine Wende in der Mediengeschichte. Salmon erinnert an das, was Walter Benjamin 1936 schrieb: „Jeder Morgen unterrichtet uns über Neuigkeiten des Erdkreises. Und doch sind wir an merkwürdigen Geschichten arm. (...) Mit anderen Worten: Beinahe nichts mehr, was geschieht, kommt der Erzählung, beinahe alles der Information zugute.“ Der Rückschwung des Pendels ist spektakulär: Heute ersetzt Foxnews Fakten durch „stories“. Fast nichts von dem, was auf den Bildschirmen geschieht, kommt der Erklärung zugute. „Wir haben drei Milliarden Dollar für diese TV-Progamme ausgegeben“, erklärt David Boylan, Chef von Fox Tampa Bay. „Wir werden selbst entscheiden, was Informationen sind. Nachrichten sind das, was wir als Nachrichten servieren.“ Diese mächtige Maschinerie hat beim Irakkrieg die Thesen von Bush und Blair verstärkt. Die Machthaber und die Geschichtenerzähler haben sich Hand in Hand ins Zeug gelegt. Auch der internationale Terror inszeniert sich durch Geschichten. Die Anschläge vom 11.September 2001 waren die blutigsten. Wie zufällig wurden die Ereignisse quasi live im Fernsehen übertragen und dauerten anderthalb Stunden. Genauso lang wie ein Horrorfilm. Anschließend war es nicht weiter schwer, die Öffentlichkeit in dem Glauben zu wiegen, Irak besäße Massenvernichtungswaffen und biete Al Qaida Unterschlupf. Den Armadas der Ratgeber, die Unternehmen, Politikern und Einzelpersonen den Schritt in die Ära des Storytelling nahelegen, stehen die Vertreter des Rationalismus gegenüber, die Realisten, die „reality-based“, die sich mehr oder weniger zu einer Art moderner Widerständlergemeinschaft zusammengeschlossen haben. Und die es wiederum nicht leicht haben, den Aufschwung der evangelischen Fundamentalisten, der „faith-based“, zu bremsen. Es verwundert keineswegs, dass die Allmacht des Erzählens vor allem in der amerikanischen Gesellschaft triumphiert. Aus dieser Gesellschaft sind schließlich zahlreiche epische Schicksale hervorgegangen. Sie hat ein Kino und eine Literatur geschaffen, deren große Erzählkunst ihresgleichen sucht. Doch heute, im Zeitalter der Medieninvasion, nimmt das Phänomen Proportionen an, von denen sich die ihrer Kultur der Skepsis verhafteten Europäer gar keine Vorstellung machen. In den USA hat nämlich auch das Management eine „erzählerische Wendung“ („narrative turn“) genommen. Angefangen hat es in der Werbung. Markenfirmen beschränken sich nicht mehr darauf, die Qualitäten ihrer Dienstleistungen aufzuzählen und allem und jedem ihr Logo aufzudrücken. Sie bemühen sich um eine eigene Geschichte, die sie sympathieheischend präsentieren. Steve Jobs, der Gründer von Apple, wandte sich eines Tages in Stanford mit folgenden Worten an die Studenten: „Ich habe nie an irgendeiner Universität einen Abschluss gemacht. Um ehrlich zu sein, wohne ich hier zum ersten Mal der Verleihung von Diplomen bei. Ich will euch heute drei Geschichten aus meinem Leben erzählen. Keine langen Reden, nur drei Geschichten.“ Damit war das Schlüsselwort gefallen. Auch sein Rivale Bill Gates kennt dieses Rezept. Wie Richard Branson und so viele andere. Prosaischer ist das Beispiel der Markenfirma Chivas, die, als sie in den neunziger Jahren an Prestige verlor, durch die Verbreitung einer Geschichte in zwölf Episoden wieder aufblühte: Sie lancierte die „Chivas Legend“, die den zwei Jahrhunderte langen Werdegang der alteingesessenen Marke schildert und allerlei legendäre Figuren ins Spiel bringt, von Königin Viktoria bis Frank Sinatra… Die Gurus des Storytelling sind noch weiter gegangen. Sie haben es sich in den Kopf gesetzt, Unternehmen davon zu überzeugen, ihre Belegschaften nach dem gleichen Muster zu lenken. Es reicht nicht mehr, mit Prämienversprechungen und Power-Point-Präsentationen die Begeisterung der Mitarbeiter zu schüren. Stephen Denning, Star auf diesem Gebiet, publizierte eine ganze Serie von Ratgebern wie „How Storytelling Ignites Action in Knowledge-Era Organizations“, „A Fable of Leadership through Storytelling“, „The Leader’s Guide to Storytelling“ und andere. Kurzum: Firmenangestellte sollen sich als Akteure einer spannenden, gemeinsamen Geschichte voller Emotionen, Erfolge und Niederlagen begreifen. Sie sollen sich für ihre Firma begeistern. Deren Geschichte muss allerdings erst erfunden und formuliert werden. Aber dafür gibt es ja die Berater. Eine Manie, die den alten weisen Männern sauer aufstößt. „Früher“, heißt es in einem gegen die neuen Gurus gerichteten Artikel der Financial Times, „hatten wir Manager, keine Storyteller.“ Zweifellos macht man sich seine Gedanken in dieser Redaktion, die aus nächster Nähe den Wahnsinn eines Bankensystems verfolgt, in dem auch so viele Führungspersonen und Broker sich in den Grenzlinien zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen virtual und real verirrt haben. Die Militärs stehen ihnen in nichts nach. Das Pentagon entwickelt in Zusammenarbeitet mit Hollywood-Experten halb fiktive, halb reale Szenarien, lässt sie filmen und ausstrahlen und setzt sie bei der Ausbildung junger Soldaten ein, die eher mit Computerspielen vertraut sind als mit Geografiebüchern. Vor Ort zeigt sich dann allerdings, dass Krieg etwas komplizierter ist und nicht ganz so begeisternd. Aber was soll’s, die schöne Story, die den Jugendlichen im Internet und im Fernsehen vorgegaukelt wurde, hat ihr Ziel erreicht: die Rekrutierung. Haben wir es nur mit einer Modeerscheinung zu tun oder mit einem Wandel der Wissens­­prozesse? Soll man dem Futurologen Rolf Jensen, dem Verfasser von „The Dream Society“, glauben? Er behauptet, dass „die Traumgesellschaft zeigt, wie eine Konsumkultur wie die unsere über gekaufte Produkte, Verkehrsmittel, Freizeit, Ferien, Wohnungseinrichtungen Geschichten erzählt… Selbst unsere Arbeit wird in Zukunft von Geschichten und Emotionen bestimmt sein.“ Eins steht fest: Wer einmal vor der Allmacht des Storytelling gewarnt wurde, der lauscht schönen Reden fortan mit anderen Ohren. Übersetzung: Maria Hoffmann-Dartevelle Jacques Pilet ist Journalist und Leiter der Medienentwicklung der Ringier AG. Er gründete das Magazin L’Hebdo und die Zeitung Le Nouveau Quotidien (heute Le Temps) Foto: Picture Alliance

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