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In Castros Reich
„Wie prachtvoll Kuba einmal gewesen sein muss!“ Fünfzig Jahre Unterdrückung und sozialistische Marktwirtschaft haben die Sonneninsel ruiniert. Büchner-Preisträger Martin Mosebach blickte für Cicero hinter die Fassaden von Havanna. Von der erhofften Aufbruchstimmung nach der Ära Castro spürte er nichts
Es ist viel Unheil in der Welt geschehen, aber wenig, das den Nachkommen soviel Freude gemacht hätte wie der Untergang von Pompeji“, heißt es in Goethes „Italienischer Reise“. Der Vulkan, der sich über Havanna ergossen hat, war der Kommunismus mit seinen Enteignungen, verschärft durch das amerikanische Embargo, das, so gesteht man es sich heute wohl ein, das solideste Fundament der Castro-Herrschaft war. Nun liegt die Stadt vor den Augen des Betrachters, als sei sie ausgegraben worden, nicht mehr richtig bewohnbar, aber mit zahllosen Erinnerungen an eine anderswo längst vergangene Zeit.
Die erste Überraschung: wie prachtvoll Havanna einmal gewesen sein muß. Eine romanische Großstadt voller Paläste, Museen, Opernhäuser, Universitäten, Ministerien, Boulevards, mit winkliger Altstadt und im Schachbrettmuster angelegten großzügigen neueren Vierteln, mit Festungen und Kirchen, an einer Meeresbucht gelegen, auch an schwülen Tagen von salzigen Winden durchweht. Und nun das Ganze verzaubert, entrückt, wie aus einem unterirdischen Traumland aufgestiegen: die Hauptstadt des Hades. Kaum Straßenlaternen, keine Fernsehantennen, sehr wenig Verkehr, die dinosaurierhaften fünfzig Jahre alten „Plymouth“- und „Pontiac“-Limousinen, hundert mal neu lackiert, in schleichender Fahrt, die Insassen in den Tiefen der ausgeleierten Polster versunken, kaum mit der Nasenspitze aus dem Fenster guckend. Die gemauerten, stuckumkleideten Säulen der endlosen Arkadenstraßen sind in neue geheimnisvolle Substanzen verwandelt, eine Materie aus Schwamm, Pilz, Moos, Dreck, verfaultem Kork, Rost, Staub, das alles in so vielen Abstufungen von Grau, daß ein Maler vor Wonne darüber verrückt werden müßte.
Die Häuser haben in ihrem dramatischen Verfall eine Persönlichkeit bekommen, die eine glatt verputzte Fassade nie erreichen kann. Jede ihrer Poren hat sich geöffnet, überall erblühen die Organismen der Verwesung. Sie werden bewohnt, wie auf Piranesi-Stichen Hirten und Ziegen in römischen Ruinen hausen. Zwischen zwei korinthischen Kapitellen wie aus Zigarrenasche ist eine Wäscheleine gespannt, an der ein roter Tanga trocknet. Die Häuser sind längst stärker als ihre Bewohner, es krabbelt und regt sich in ihnen, und wenn man in ihre Tiefen blickt, dann findet sich oft ein leise schwankender Schaukelstuhl wie das Pendel einer alten Kaminuhr, das die Arbeit eines unsichtbaren Werks aus Anspannung und Entlastung anzeigt. Irgendwann ist dann der Höhepunkt dieses Lebendigwerdens erreicht – dann stürzt das Haus in einer letzten gewaltigen Kraftanstrengung in sich zusammen. Um es klar zu sagen: Dieses zerbröselnde ruinierte Havanna ist von einer düsteren, ergreifenden Schönheit. Es ist die Schönheit der Agavenblüte, die aus dem Kranz der Stachelblätter erst aufschießt, wenn der Tod der Pflanze kurz bevorsteht. Havanna, dies Wunderwerk des spanischen Kolonialismus, es steht noch da, die eingestürzten Häuser bilden noch keine allzu großen Lücken. Wenn die Zyklone mit ihren Regenmassen kommen und Wasserlasten auf die brüchigen Häuser entladen, fallen die Balkone auf die Straße wie reife Äpfel; häufig stand gerade jemand darauf oder ging darunter einher.
Übrigens sprach schon Graham Green in „Unser Mann in Havanna“ 1958 von den „Ruinen Havannas“ – damals hatte der Diktator Batista die Altstadt im Ganzen aufgegeben und plante eine amerikanisierte Hochhausstadt, einige sehr schöne Hochhäuser sind sogar schon entstanden. Der Kommunismus, der die Entwicklung verschärft vorantreiben wollte, hat die Zeit stattdessen angehalten, Kuba verschwand dazu noch hinter der Dornröschenhecke des nordamerikanischen Embargos. Wie sähe ein Havanna aus, das sich als Teil des nordamerikanischen Machtbereichs hätte entwickeln müssen? Wäre es etwa das geworden, was die kubanischen Emigranten in Miami hingestellt haben? Schönheit hat ihren Preis. Was es die Bewohner Havannas kostet, in diesen Gemäuern zu wohnen, kann der Spaziergänger nur ahnen. Die Zahl der Habaneros, die noch einen Blick für die spezifischen Schönheiten ihrer von Schimmel und Gestank erfüllten Stadt haben, ist wahrscheinlich klein. Man muß vielleicht aus deutsch-urbaner Wüstensterilität stammen, um für das Bild einer weithin ausgebreiteten, reichen, unzerstörten Stadt des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts in ihrem Untergang Dankbarkeit und Bewunderung zu empfinden.
Aus der alten DDR kennt man noch das Bestreben, den Städten „Weltniveau“ durch Leuchtreklame zu verleihen, obwohl doch der kapitalistische Wettbewerb und der Kampf um den Kunden verpönt waren: „Plaste und Elaste aus Schkopau“ leuchtete es über der Dresdner Prager Straße. Da waren Castros Nerven stärker. Havanna ist auch heute eine Großstadt ohne Werbung. Dafür gibt es auf Hauswänden und Tafeln politische Parolen, Losungen für den Alltag und den Feiertag der Kubaner. Manche sind alt und haben sich mit dem abblätternden Putz so verbunden, daß sie nur noch schwer lesbar sind. „Die Ideen sind die wesentlichen Waffen im Kampf um die Humanität“ – um dieses Wort zu entziffern, braucht es Zeit, denn es stammt wohl aus der Frühzeit der Revolution. Unrealistisch war das nicht: Castro schickte sein Volk ohne Rohstoffe, ohne nennnenswerte Industrieproduktion, ohne Wirtschaftskraft in den Kalten Krieg mit den Vereinigten Staaten – alle Ausrüstung mußte von jenseits des Meeres kommen; er steuerte vor allem die explosiven Ideen bei. Daß es bei diesem Kampf um die ganze Menschheit ging, durfte man, als diese Inschrift gepinselt wurde, gleichfalls behaupten, schließlich hatte der Kommunismus in Kuba die Neue Welt erreicht und war in nächste Nähe der kapitalistischen Zentren gelangt.
Ein Volk in Waffen, das drückt sich in der nächsten noch ganz frischen Parole aus: „Studium! Arbeit! Gewehr!“. Das Wort vom Gewehr trifft die Wirklichkeit, denn das Militär in den weltberühmten grünen Kampfanzügen ist allgegenwärtig, immerfort rollt ein Lastwagen voller Soldaten vorbei; auch studiert wird gewiß in Havanna; nur statt „Arbeit“ könnte man inzwischen besser „Scheinbeschäftigung, Prostitution, Schwarzmarkt“ einsetzen, aber das würde vielleicht zu lang.
In einem Schulhof, einst der Kreuzgang eines barocken Konvents, mitten in der baufälligen Altstadt, prangt über einem lecken Abflußrohr, von üblen Gerüchen umweht, die Ermahnung: „Der Jefe befiehlt: absolute Sauberkeit, fleckenlose Ordnung, keine Schlamperei!“ Das hat in seinem unüberbrückbaren Gegensatz zum Zustand der Umgebung weniger etwas von einem Befehl als von einem Traum.
„Vaterland und Tod!“ – Da ist die Menschheit, um die es anfangs ging, schon ferngerückt, die Ziele sind nah gesteckt, die Hoffnung, sie zu erreichen, scheint geschrumpft. „Fünfzig Jahre revolutionärer Triumph: Einheit, Festigkeit, Siege“ – jetzt geht es schon gar nicht mehr um ein Ziel, sondern vielleicht gar um das Staunen, daß es wirklich Siege einmal gab und die Kubaner immer noch leben. Auch das große Wort Castros, das Schlußwort seiner Verteidigungsrede von 1953, „Die Geschichte wird mich freisprechen“, findet sich auf den Mauern Havannas. Ein prophetisches Wort, mit einer guten Chance, in Erfüllung zu gehen. Die Geschichte verurteilt tatsächlich viel seltener als man so glaubt. Auch Nero und Dschingis Khan werden von der Fachwelt heute sehr verständnisvoll gesehen.
Irgendwoher klingt Musik; in Alt-Havanna gibt es kaum einen Ort, an dem man nicht lustig scheppern, rasseln, klopfen hört; wo keine hellen heiseren Stimmen kunstvoll gegen den Rhythmus der Schlaginstrumente ansingen, wo die Musik-Wespen nicht eine erwartungsvolle gespannte Unruhe erzeugen. Immerfort sieht man eine Salsa-Band, fünf bis acht ältere und jüngere Männer ihre Instrumente, Gitarren, Akkordeons, Trompeten und hohle Kürbisse, aus denen es wie von Klapperschlangen tönt, umherschleppen, um sich ein neues Publikum zu suchen. Wo sie ein paar Touristen sehen, bauen sie sich im Halbkreis auf und sofort schweben die vertrauten Akkorde in der Luft. Abgerissen und dünn sind die Musikanten, viele tragen Hütchen, die Jeans umschlottern die Beine. Aber die Nahrung scheint Musik zu sein; die Energie, mit der sie spielen, wird durch die selbst hervorgebrachten Töne erzeugt, solange sie spielen, sind sie unsterblich. Und welche Macht sie über die Leute besitzen. Kein Passant bleibt ungerührt, wenn er sich der Musik nähert. Musik hören und tanzen ist eins. Die junge Mutter, die den Kinderwagen schiebt, läßt das Hinterteil in der engen Trikot-Hose kreisen. Die zahnlose streichholzdünne Bettlerin setzt ihr Becken in Bewegung und breitet die Arme aus. Die dicken Männer im Café tanzen im Sitzen. Die blondgefärbte Kaffeebraune mit dem gürtelbreiten Röckchen und der schwarze Athlet im Unterhemd tanzen mit geschlossenen Augen. Die Musik läßt ihnen keine Wahl: sie ist ein Befehl zu tanzen. Es herrscht Tanzzwang. Die berühmte Szene aus der „Zauberflöte“ kommt mir in den Sinn: Papageno, der von den Mohrensklaven des heimtückischen Monostatos verfolgt wird, läßt sein Zauber-Glockenspiel erklingen und versetzt die gefährlichen Häscher in eine selig tanzende Trance: „Wie klinget das so herrlich!“ Wie klinget das so schön!“ singen die Mohren unter dem unerbittlichen Diktat der klingenden Melodie.
Kuba, die Insel der Musik, der lachenden und tanzenden Menschen, die alles Elend mit einer unerschütterlichen Bereitschaft zum Festfeiern besiegen – so möchte sich dieses Land mancher gerne vorstellen, so suggeriert es eine auf Ferienfreude gestimmte Reiseliteratur, und so bestätigt sich das schließlich doch auch in den Straßen des alten Havanna. Warum kamen mir die Leute dann so ernst und still vor? Wenn es nicht gerade aus den geschüttelten Kalebassen rasselte und aus der zerbeulten Trompete heulte, war dies eine beinah lautlose Stadt, auch wenn nicht das Sich-Winden und Sich-Wiegen in die Leiber fuhr, war es Bewegungslosigkeit, die das Straßenbild bestimmte. Wie tot lagen die Straßenhunde in der Sonne, und ebenso erschöpft sahen die Menschen aus: in den Zimmern der verwahrlosten Häuser, die zur ebenen Erde lagen, saßen sie schweigend in Schaukelstühlen oder lehnten an den hohen Fenstergittern wie Gefangene, die gedämpft und vorsichtig zu Vorübergehenden Verbindung aufnehmen wollen. Weil kein Mensch richtige Schuhe trug, nur Gummischlappen und Turnschuhe, blieben die Schritte lautlos; es war, als schleiche man durch die Stadt. Eine Barpianistin versuchte mir die Augen zu öffnen. „Glauben Sie der Fröhlichkeit der Salsa-Musiker nicht“, sagte sie, als ich ihr auf ihre Klagen über die Zerstörung Havannas etwas schwärmerisch versicherte, „diese ganze Stadt besteht nur aus Musik“. „Niemand macht hier spontan Musik – dieser Eindruck ist eine Inszenierung, die einzige, die hier richtig gut funktioniert. Alle Salsa-Musiker, die wie zufällig herumstehen, sind Angestellte des Staates – es wird sogar kontrolliert, ob sie lächeln! Sie müssen so tun, als mache die Musik sie glücklich. Die Touristen sollen uns als musikverliebte Naturkinder erleben, die sich jede Katastrophe mit ein paar Tanzschritten vom Leib halten.“ Sie sah schwarz, sie war verbittert. Sie hatte Konzertpianistin werden wollen und mußte nun froh sein, für ein paar „konvertible Pesos“ – so heißt die nichtkonvertible Touristenwährung Trinkgeld – die Nächte hindurchzuklimpern. Ganz glauben wollte ich ihr nicht, daß ihre Miene ausschließlich im Dienste der Regierung stand, dazu war ihr Lächeln, wenn sie dann schließlich doch lächelte, zu schön.
„Mit Las Casas ging in Latein-Amerika die Linke an Land: man befreite die Indianer und versklavte die Schwarzen“, hat ein kolumbianischer Skeptiker jeglicher Reformpolitik geschrieben. Bischof Las Casas kam schon zur Zeit Karls V. nach Kuba und sah das fürchterliche Elend der unterworfenen Ureinwohner der Insel, die bei der erzwungenen Plantagenarbeit massenhaft starben. Die afrikanischen Schwarzen vertrugen das feuchte und heiße Klima bei harter Arbeit besser und wurden deshalb zu Hunderttausenden nach Kuba auf die Zuckerrohrfelder verkauft. Ihr Schicksal scheint im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert etwas gnädiger gewesen zu sein als das der nordamerikanischen Sklaven: Familienbande waren dem Recht nach geschützt, und es gab die Möglichkeit, sich für einen nicht unerschwinglichen Betrag freizukaufen. An der Stelle, an der die erste Heilige Messe in Havanna zelebriert wurde, steht ein kleiner Gedächtnis-Tempel. Die schwarze Wärterin erklärt das hübsche biedermeierliche Gemälde in seinem Inneren, auf dem die Einweihung dieses Tempelchens festgehalten ist. „Sehen Sie hier – zwischen den Gouverneuren und Ministern steht auch ein Schwarzer im Frack, und dort hinten kniet eine schwarze Dame mit Mantilla unter den weißen Senoras.“ Sie spricht mit einem Nachdruck, der ihren Stolz verrät: „Keine Sklaven sind das!“ Und sie hat recht; in Nordamerika wäre ein solches Bild um 1830 unmöglich gewesen.
Hat Kuba das Zusammenleben zwischen Schwarz und Weiß gelöst? (Die Indianer fallen bei dieser Frage nicht ins Gewicht, denn sie haben auch nach ihrer Befreiung von der Sklavenarbeit die weiße Invasion nicht überlebt.) Wer in Havanna bloß spazieren geht, kann dazu nur ein paar Beobachtungen beisteuern. 1950 noch ist der regierende Diktator Batista aus dem Havanna Club gewiesen worden, weil seine Mutter eine Schwarze und sein Vater ein halber Chinese war. Diese Zeiten sind vorbei. Da sind die weißen Kellner, die in einer Bar mit schwarzem Patron servieren. Da ist der dünne weiße Fahrradrikscha-Wallah, der einen Schwarzen fährt – es gibt Länder in Afrika, in denen dieses Bild immer noch Sensation machen würde. Aber in den Slums von Alt-Havanna wird man kaum einen Weißen in einer der einsturzgefährdeten Wohnhöhlen erblicken. Die Weißen leben in Vedado oder Miramar, und wenn auch dort die Häuser bröckeln, so gibt es jedenfalls Platz und frische Luft und üppige Gärten. Seltsam, wie sich das sortiert, nachdem die Gleichheit nun schon fünfzig Jahre lang rabiates Diktat ist. Oder vielleicht doch nicht ganz so rabiat?
Bezeichnend das Nebeneinander der Völker und Religionen in den katholischen Kirchen. Die schwarzen Sklaven brachten ihre afrikanischen Götter mit übers Meer und identifizierten sie im katholischen Kuba mit gewissen Heiligen der Kirche, der Gottesmutter vor allem, aber auch der Heiligen Barbara und dem Heiligen Lazarus. Ihnen weihten sie auch in der neuen Welt ihren Opferkult und ihre überlieferten Gebete. In den Kirchen kann man Reiskörner, Kuchen und Zigarren neben der Statue des Heiligen Lazarus finden, das scheint die Priester nicht zu stören. Die schwarze Madonna von Regla sieht ohnehin beinahe wie eine Kali in Spitzen aus. Ein dekorativer Aspekt des „Santeria“-Kultes: Die schwarzen Schamanen, die „Babalao“ heißen, gebieten ihren Anhängern gelegentlich, sich ein Jahr lang ganz in Weiß zu kleiden, in Strümpfe, Schuhe und Rüschenröcke, in Fransenschals und kleine Turbane – das sind die einzigen Frauen in Havanna, die nicht aussehen, als wohnten sie auf einem Campingplatz. Aber bei der Messe des päpstlichen Nuntius in der überfüllten französisch-nüchternen Barockkathedrale San Cristobal, da war es wieder wie auf dem Gemälde in dem anfangs erwähnten Tempelchen: unter etwa sechzig Priestern nur ein Schwarzer, und auch in der Gemeinde gab es nur wenige schwarze Gesichter. Ja, diese Kathedrale schien irgendwo in Westeuropa zu stehen, hier versammelte sich der nicht emigrierte Teil des weißen Bürgertums, von dem in langen Streifzügen durch die Stadt sonst nicht eine Spur zu sehen ist.
Gehört am Ende auch die Führung der kubanischen Kommunistischen Partei zu diesem Bürgertum? Nach einem halben Jahrhundert antirassistischen Kampfes ist die erste Garnitur des Staates jedenfalls weiß geblieben, so rein weiß, als folge Fidel Castro damit dem kultischen Gebot eines Babalao.
Zunächst sieht es aus, als sei der riesige Friedhof von Havanna vor allem ein Pantheon der Republik Kuba: prachtvolle Grabbauten aus dem weißesten Carrara-Marmor aller Zeiten türmen sich über den Gräbern der großen Familien der Insel, die für die Vertreibung der Spanier kämpften, obwohl sie zugleich einen Kult mit der Reinheit ihres spanischen Blutes trieben. Besonders beliebt waren die Obelisken, über die eine falten- und fransenreiche Decke geworfen ist, lebensecht herausgemeißelt. Neben manchen solcher Gräber weht eine kubanische Fahne, die anzeigt, daß nicht nur die bürgerliche Republik, sondern auch Fidel Castro wirkungsvolle Unterstützung in der alten Bourgeoisie gefunden hat. Nur ein einziges Grab in all diesem gefrorenen Prunk ist mit Blumen überhäuft, knallbunt leuchtet es auf einem weißen Meer. Wo Amelia Milagrosa begraben liegt: Sie starb bei der Geburt ihres Kindes, das Kind wurde zu ihren Füßen begraben, aber als man sie Jahre später exhumierte, da fand man das Kind in ihrem Arm. Nun wird sie als Heilige verehrt, Hunderte von Marmortäfelchen auf den Nachbargräbern danken Amelia für ihre Fürsprache, und ihre lebensgroße Marmorstatue hält die kleine schlaffe Säuglingsleiche an der Brust. So ist der erste Eindruck: wenn die vertriebenen und geflüchteten Familien nach Kuba zurückkehrten, würden sie die Gräber ihrer Ahnen in einem erheblich besseren Zustand wiederfinden als ihre Häuser.
Aber wie werden die vielen begraben, die heute diese Häuser bewohnen? Daß sie nicht unter Marmorpyramiden liegen, verwundert nicht. Der große Friedhof ist gewissermaßen ein Abbild der heutigen Stadt. Die auffälligen Monumente repräsentieren Alt-Havanna mit seinen wenigen restaurierten Barockpalästen. Aber dahinter erstrecken sich die Felder mit den Grüften der Namenlosen, Kunststeinplatten schließen den Grabschacht und keine Aufschrift verrät, wer hier liegt. Und man liegt hier schließlich auch nur kurze Zeit, da kann man sich die Inschrift sparen.
Im Schatten eines Baumes lagern Menschen, mehrere Familien, wie sich beim Näherkommen herausstellt. Sie vereint, daß es auf den Tag zwei Jahre her ist, daß sie einen Verwandten bestattet haben. Nun werden die Grüfte geöffnet; kräftige Männer in bunten T-Shirts ziehen und heben die Särge ans Tageslicht, große gleichförmige schwarze Blechkisten; aber die Deckel sind aus dünnem Holz und verrottet, ein Haufen feuchter Latten liegt zwischen den Gräbern. Die nächstsitzende Familie wird herbeigewinkt, um ihr Gelegenheit zu geben, sich von der Verwesung des Leichnams zu überzeugen. Ein brauner Totenschädel ist einer schwarzen Anzugjacke auf die Schulter gesunken; Jacke und Hose haben der Zersetzung widerstanden und erscheinen beinahe leer, ein paar Knöchelchen sind von Händen und Füßen geblieben. Unterdessen schreibt ein junger Schwarzer mit einem Pinsel in ungelenken Buchstaben „Juan Melendez“ auf eine Betonkiste im Format eines Sektkartons. Sie ist bestimmt, die Überreste aus dem Sarg aufzunehmen, auch die Kleider werden dazugestopft – nein, die Jacke ist zu dick, sie wird zur Seite geworfen. Jetzt erklärt sich, woher die Kleiderfetzen zwischen den Gräbern stammen. In großen mehrstöckigen Scheunen werden diese Betonkisten zu schiefen Türmen gestapelt, aber die Daten auf den Kisten sind sämtlich alt – so wird auch die Betonkiste nicht letzte Station der Gebeine sein.
Bei einem Sarg stockt die Prozedur. Die herbeizitierten Angehörigen wenden sich ab, sie sind sichtbar bewegt. Die Leiche ist offenbar noch nicht zerfallen. Ein älterer Mann erhält einen Flacon und gießt dessen Inhalt über der Leiche aus. Weihwasser? Gebetet wird jedenfalls nicht bei dieser Besprengung. Während der Sarg wieder in die Gruft gelassen wird, sieht der Mann ihm hinterher, um schließlich, wie in einem Wutanfall, das Fläschchen gegen die entfernte Friedhofsmauer zu schleudern, wo es wie eine Glühbirne zerplatzt.
Der ausgedehnte Spaziergang durch Havanna macht niemanden zum Kuba-Kenner, aber er läßt einen die reiche politische Literatur über Kuba mit anderen Augen lesen. Und deshalb zögere ich nicht, hier das mir sympathischste Buch über die kubanische Gegenwart zu nennen, besser zu loben und nachdrücklich zu empfehlen. Der Autor heißt José Manuel Prieto, ein Schwarzer, keiner von denen, die enteignet und ins Gefängnis geworfen worden sind, er wurde auch nicht gefoltert und hat keinen Verwandten, den Che Guevara hat ermorden lassen. Im Gegenteil – Prieto hat die Schokoladenseite der Castro-Diktatur kennengelernt. Sein Vater war Arzt, er ist in einer, wie er selbst schreibt, palastartigen Villa aufgewachsen, deren Eigentümer vertrieben worden waren. Er ist dankbar für seine Erziehung auf einer kommunistischen Elite-Schule, einem revolutionären „Eton“, die ihn für das Leben in Europa vorzüglich vorbereitet habe. Zum Studium wurde er in das befreundete Rußland und zwar nach Sibirien geschickt, dort erlebte er die Perestroika des Präsidenten Gorbatschow – Prieto ist heute einer der bedeutendsten Romanciers der lateinamerikanischen Literatur, in seiner Heimat aber natürlich, wie man leider sagen muß, nicht mehr geduldet. „Die kubanische Revolution und wie erkläre ich sie meinem Taxifahrer“ heißt sein leidenschaftlicher, witziger und von einem überlegenen Sinn für Mäßigung und gesundem Menschenverstand getragener Essay. Jeder Taxifahrer in Paris und Madrid gratuliere ihm, wenn er sich als Kubaner vorstelle. Habe es Fidel Castro nicht geschafft, sein kleines Land fünfzig Jahre lang dem Einfluß der Nordamerikaner zu entziehen? Sei seine Herrschaft nicht die Erneuerung des Sieges von David über Goliath? Es gibt ein berühmtes Foto, das den berühmten „Comandante en Jefe“ im Kampfanzug zu Füßen der Kolossalstatue des Abraham Lincoln zeigt, das sprechende Bild einer versteinerten Weltmacht, die den kleinen kühnen Anarchen nicht in ihre Gewalt bekommen kann. Diese Freiheitsidee wirkt noch heute berauschend auf viele Nicht-Kubaner, keinesfalls nur Linke. Aber Prieto sieht sie als einen Irrsinn, einen Aufstand gegen die Realität und Gesetze der Geopolitik. Niemals sei Kuba frei gewesen in seiner Geschichte, weder als die Spanier dort regierten, noch als die Nordamerikaner den Kubanern halfen, die Spanier zu vertreiben – nur um selbst an deren Stelle zu treten –, noch auch unter Castro, der die schon kaum mehr indirekte nordamerikanische Herrschaft nur abschütteln konnte, indem er sich dem Einfluß der Sowjetunion öffnete. Die Chimäre Freiheit hat Kuba in bitterste Armut gestürzt, hat eine Diktatur der Brutalität gefördert, hat alle Begabungen aus dem Land vertrieben, das Land in schmutzige Kolonialkriege in Afrika verwickelt und den kostbaren kulturellen Besitz, die prachtvollen Städte dem Untergang preisgegeben. Prieto weist die Theorie von der Notwendigkeit der kubanischen Revolution mit Entschiedenheit von sich. Er kennt kein Übel, das durch eine Revolution nicht noch schlimmer würde, keinen Mißstand, der sich nicht durch eine allmähliche gewaltlose Entwicklung schließlich von selbst beseitigte. Und deshalb ist ihm der Gedanke an eine neue Revolution nach Castros Tod auch gleichermaßen schreckenerregend. Eine verfrühte Einführung der Demokratie in diesem jeder Tradition der Selbstverantwortung entfremdeten Land hält er für verhängnisvoll. Dieser Schriftsteller hat zu einem urkonservativen Vertrauen in die naturrechtliche Institution des Privateigentums gefunden; wie ein zweiter Solschenizyn hält er die Wiedergewährung von Privateigentum für die lebensrettende Neuerung, die der Wiedergesundung des Landes vorausgehen müsse, wobei er das Problem der Restitutionsansprüche der Emigranten freilich ausspart. So schwankt der Ton seines kleinen, aber ergreifenden Buches zwischen Verzweiflung und Hoffnung, Zorn und Liebe zu seinem schönen Heimatland. Man muß dieser Stimme Glauben schenken, deren Lebhaftigkeit und Ungezwungenheit nichts anderes sind als ein Mittel der Diskretion, um die Weisheit des Sprechers zu verbergen.
Foto: Picture Alliance
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