() Deutscher Soldat beim Einsatz in Afghanistan
Wer hat mehr Söhne?
Die Bundesregierung wehrt sich gegen das Drängen der Nato, noch mehr Soldaten in den Süden Afghanistans zu schicken.
Unsere Loyalität zum Nato-Bündnis steht außer Frage. Deshalb schicken wir eine Kampftruppe von 200 Mann nach Afghanistan. Aber wir kennen auch die Verstimmung darüber, dass unsere Soldaten nur im relativ sicheren Norden antreten, während die Partner aus Kanada, den Niederlanden, den USA und dem Vereinigten Königreich im Süden regelmäßig in verlustreiche Gefechte geraten.
Dass unsere Verbündeten überhaupt um Beistand rufen müssen und unsere eigene Bevölkerung nicht einmal die jetzt vorgesehene Verstärkung billigt, gibt Gelegenheit, die Betonung der Bündnistreue mit einer Einschätzung unserer Kräfte zu verbinden.
Bis etwa 1935, als europäische Nationen noch einen Großteil der Erde kontrollierten, wurden Aufstände mit Armeen niedergeschlagen, in denen vorrangig dritte oder vierte Söhne der Alten Welt kämpften. Das letzte Kontingent für diese Machtentfaltung gehörte den Geburtsjahren 1900 bis 1915 an. Damals hatten die meisten Frauen Europas so viele Kinder wie heute die Mütter in Afghanistan und an anderen Einsatzräumen westlicher Truppen. In den Kolonien wurden damals nur drei Kinder pro Frau aufgezogen, während es in den Mutterländern leicht sechs und mehr sein konnten. Wenn eine Rebellion gegen den Westen einen von zwei oder gar den einzigen Sohn einer Familie das Leben gekostet hatte, gab es für eine weitere Kampfrunde kaum noch Reserven.
Deshalb hatten wir Europäer damals nur unseresgleichen zu fürchten. Im Ersten Weltkrieg verbrannten wir acht Millionen junge Männer auf den Schlachtfeldern. Zyniker konnten anmerken, dass dieses „Menschenmaterial“ – mit der Ausnahme Frankreichs – aus der demografischen Portokasse genommen wurde. Bereits im Zweiten Weltkrieg jedoch starben alle europäischen Nationen aus der Substanz. Schon beim deutschen Überfall auf Polen im September 1939 waren 15 Prozent der deutschen Gefallenen einzige Söhne. Sie gehörten den Jahrgängen nach 1915 an, als sich die Geburtenraten glatt halbiert hatten.
1945 endete unser kontinentaler Bürgerkrieg, und seit spätestens 1955 verloren wir Europäer auch in der Ferne fast jeden Krieg. Die demografische Asymmetrie hatte sich gedreht. Nun konnten die abhängigen Gebiete dritte und vierte Söhne in die Schlacht werfen, während Europas Familien kaum mehr als einen Jungen aufzogen, bei dessen Tod sie vor der demografischen Auslöschung standen.
Für das Verständnis unseres Zögerns, mehr Truppen nach Afghanistan zu schicken, ist unsere Vergangenheit aber viel weniger wichtig als der aktuelle Umstand, dass Deutschland von allen alternden Nationen den tiefsten Fall erlebt. Auf 1000 Männer im Alter von 40 bis 44 Jahren folgen bei uns nur noch 475 Knaben im Alter von 0 bis 4 Jahren. Gerade 310 davon sind noch ethnodeutsche Jungen. Bei ihnen handelt es sich um die einzigen Kinder ihrer Mütter. Bei unserem amerikanischen Partner folgen auf 1000 Männer immerhin noch 977 Knaben. Aber auch zwischen New York und San Francisco ist – statistisch gesehen – jeder Junge bereits der einzige Sohn seiner Familie.
In Afghanistan hingegen folgen auf 1000 Männer im Alter von 40 bis 44 Jahren 4060 Knaben zwischen 0 und 4 Jahren. Das ist dreizehnmal mehr als bei ethnodeutschen Müttern und immer noch viermal so viel wie in den USA. Den 4,5 Millionen Afghanen im Alter zwischen 15 und 29 Jahren, aus denen sich heute unsere Gegner rekrutieren, folgen 7,5 Millionen Jungen im Alter zwischen 0 und 14 Jahren, die uns morgen gegenüberstehen. Bei uns kommen nach 7,3 Millionen männlichen Einwohnern im Alter von 15 bis 29 Jahren nur noch 5,8 Millionen Jungen zwischen 0 und 14 Jahren. Wie sollte da unsere militärische Lage am Hindukusch morgen besser sein als heute? Jährlich erreichen 500000 afghanische Jungen das Kampfalter. 350000 davon sind überzählige Söhne. Selbst wenn nur jeder zehnte von ihnen zu den Waffen greift, erwächst der Nato-Kampfgruppe von heute 35000 Mann jedes Jahr ein zusätzlicher Gegner gleicher Stärke, für den Sieg und Heldentod gleichermaßen ehrbare Optionen darstellen.
Hätte Deutschland sich seit 1945 (damals 75 Millionen Einwohner) so vermehrt wie Afghanistan (von 8 auf 32 Millionen Einwohner) stände man 2008 bei 300 und nicht bei nur 82 Millionen Einwohnern (66 Millionen davon ethnodeutsch). Die Frage nach der Erfüllung militärischer Bündnispflichten würde sich nicht stellen. Aber unserer Hilfe würde man auch kaum bedürfen. Das Vereinigte Königreich beispielsweise stände bei 200 und nicht bei 60 Millionen Einwohnern. Statt auf vier Millionen junge Männer zwischen 20 und 30 Jahren – einzige Söhne oder gar Kinder –, könnte es auf 25 Millionen Männer zurückgreifen. Es hätte – oder erlitte – einen klassischen youth bulge mit mindestens 30 Prozent aller männlichen Einwohner im Alter zwischen 15 und 29 Jahren. 15 Millionen Nachgeborene ständen für überseeische Expeditionen zur Verfügung. Niemand müsste an nachbarliche Türen klopfen, um eine Truppe von 35000 Mann in Afghanistan aufzustocken.
Deutschland bleibt auch in Zukunft im Bündnis demografisch am fragilsten. Als wir im Verbund der Nato 1999 Serbien schlugen, gehörte der Gegner mit gerade noch 1,5 Kindern pro Frau ebenfalls zum vergreisenden Teil der Welt. Durch Kriegsverbrechen wollte Belgrad drehen, was es gegen die Kosovo-Albaner mit damals sechs Kindern pro Frau im Kindbett verloren hatte. Die fundamentale Menschenrechtsregel „wer die Babys hat, bekommt auch das Land“, die den europäischen Kolonialmächten nach 1945 blutig dämmerte, wird nun in ganz Europa verstanden.
Wir sind zuversichtlich, dass auch die übrige Welt unserem demografischen Weg folgen muss. Aber wir sehen nicht, dass es ihr bis dahin so viel anders ergehen könnte als Europa zur Zeit seiner Bevölkerungsexplosion und Welteroberung (1500 bis 1915). Solange – wie in Afghanistan, aber auch in Kenia oder im Tschad, wo jetzt nach Intervention gerufen wird – drei bis vier Brüder pro Vater aufwachsen, er aber doch nur eine Laufbahn freimachen kann, werden eben auch unfriedliche Aufstiegswege versucht. Wir beobachten diese entsetzlichen Vorgänge in fast fünfzig Nationen und wissen, dass wir einschreiten müssten. Doch wie oft kann eine deutsche Mutter ihr einziges Kind oder ein amerikanischer Vater seinen einzigen Sohn in Lebensgefahr schicken, um draußen zehn dritte und vierte Brüder vom Töten oder auch nur vom Verschleiern ihrer Schwestern abzuhalten?
Weil die neuen Partner der Nato in Osteuropa ebenfalls zu den schnell alternden und schrumpfenden Nationen gehören, ist das Bündnis für Kampfeinsätze kaum stärker geworden. Da sich überdies der demografische Niedergang fortsetzt, wird die Zustimmung zu militärischen Einsätzen nicht wachsen, sondern weiter zurückgehen. Damit daraus nicht zusätzliche Irritationen erwachsen, muss die zukünftige Strategie der Nato ihrer demografischen Zerbrechlichkeit gerecht werden:
Militärisches Eingreifen in Regionen, deren junge Männer um ein Gleichgewicht zwischen Ambitionen und Positionen kämpfen, wird immer wieder darauf hinauslaufen, auf einer Seite mitzumachen und auf dieser eben auch zu sterben. Vor jeder Intervention ist deshalb zu prüfen, ob sie in einen youth bulge geraten wird. Unsere angloamerikanischen Verbündeten haben diese Falle im Irak übersehen. Doch auch wir erkannten sie nicht, weshalb wir in Afghanistan mit seiner noch heftigeren demografischen Aufrüstung ohne großes Nachdenken mitmarschiert sind.
Attackiert – wie 2001 das talibanische Afghanistan – eine Youth-Bulge-Nation unsere Seite direkt, dann dürfen die raren Söhne – und zwar aus dem gesamten Bündnis – nach wuchtigem Gegenschlag und Sieg nicht in Besatzungsaufgaben verschlissen werden. Da ein solcher Gegner zu einer weiteren Überraschung kaum fähig ist, muss er seine aggressiven Potenziale wieder daheim exekutieren.
Die noble Hilfe beim Aufbau von Parlamentarismus und Zivilgesellschaft soll keineswegs unterbleiben, aber erst nach dem Abflauen eines youth bulge beginnen. Runde Tische wie in Georgien oder der Ukraine funktionierten vor allem deshalb gewaltarm, weil die Auszehrung dieser Länder durch Abwanderung und Kinderlosigkeit akzeptable Positionen auch für die Opposition garantierte. In Youth-Bulge-Ländern dagegen kann das Blutvergießen noch im Konferenzsaal beginnen, weil gleich zehn junge Männer auf einen Stuhl drängen.
Gunnar Heinsohn ist Sprecher des Raphael-Lemkin-Instituts für vergleichende Völkermordforschung an der Universität Bremen. Einschlägig zum Thema ist sein 2006 erschienenes Buch „Söhne und Weltmacht. Terror im Aufstieg und Fall der Nationen“ (Orell&Füssli)
Foto: Picture Alliance
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