?Im Wedding ist das Leben als Jude die Hölle?

Für Arye Sharuz Shalicar war der tägliche Weg zur Schule im Berliner Stadtteil Wedding ?die Hölle?. Muslimische Mitschüler lauerten ihm auf und verprügelten ihn, nachdem sie erfahren hatten, dass seine Familie zwar aus dem Iran kam, er aber Jude ist. Vor zehn Jahren zog er von Deutschland nach Israel, heute ist er Sprecher der israelischen Armee und hat über seine Jugend in Berlin ein Buch verfasst.

Herr Shalicar, Ihre kürzlich erschienene Autobiographie trägt den Titel ?Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude?. Was hat es auf sich mit diesem Satz? Das ist eine gängige Redensart in Iran. Meine Eltern können sich noch gut daran erinnern, wie ihnen dieser Satz im Ghetto von Babol hinterhergerufen wurde. In Iran werden Juden als Menschen zweiter Klasse betrachtet. Deshalb sind sie vor meiner Geburt nach Deutschland gezogen. Sie wollten in der Bundesrepublik ein besseres, von antisemitischen Anfeindungen freies Leben führen. Haben Ihre Eltern diese Entscheidung rückblickend bereut? Ja und nein zugleich. Einerseits waren wir in Deutschland viele Jahre außerordentlich glücklich. Wir wohnten viele Jahre im friedlichen Berliner Multikulti-Stadtteil Spandau, dort wurden wir als Juden akzeptiert und hatten viele gute Bekannte. Dann zogen wir in den Wedding, was ein kolossaler Fehler war. In diesem Ortsteil herrschen Zustände, die es rund sechseinhalb Jahrzehnte nach Hitler nicht geben darf. Was genau änderte sich durch den Umzug? Erst einmal nicht viel. Nur dass man auf den Straßen keine Deutschen mehr sah, sondern nur noch Türken und Araber. Weil ich jedoch genauso dunkel aussah wie alle Jugendliche im Wedding, habe ich schnell Anschluss gefunden. Alle nahmen an, dass ich wie sie ein Muslim sei. Bis Sie eines Tages mit einer Goldkette zur Schule gingen, um mit Ihren Kollegen, die alle Halsketten trugen, mithalten zu können. Nur hingen an Ihrer keine arabischen Schriftzeichen, sondern ein großer Davidstern. Ja, von dem Tag an hat mein bester Freund Mahavir, ein muslimischer Inder, nicht mehr mit mir geredet. Weil alle Juden Todfeinde von Muslimen seien und verrecken müssten, erklärten alle Muslime im Wedding mich zu ihrem Feind. Seitdem war nichts mehr wie zuvor. Mein Leben wurde von einem Tag auf den anderen zu einem Spießrutenlauf. Es war die Hölle. Inwiefern? Ich wurde von den muslimischen Jungs gequält, erniedrigt und gedemütigt. Sie versuchten, mich systematisch fertigzumachen. Am schlimmsten war eine Begegnung in einer U-Bahn-Station mit den sogenannten ?PLO-Boys?, einer palästinensischen Gang. Mit deren Anführer Fadi hatte ich vor meinem ?Outing? öfters zusammen Basketball gespielt, nun befahl er mir: ?Jude, mach das Maul auf!?, stopfte mir Erdbeeren in den Mund und ohrfeigte mich. In meiner Weddinger Zeit wurde ich oft beschimpft, bespuckt und geschlagen, aber den Mund im wahrsten Sinne des Wortes gestopft zu bekommen hat mich mehr traumatisiert als alles andere. Wie geht ein 13-Jähriger mit so einer massiven körperlichen und seelischen Verletzung um? Im Gespräch mit meinen Eltern wollte ich unbedingt verstehen, warum ich auf einmal anders gesehen wurde. Was haben Ihre Eltern geantwortet? Mein Vater sagte: ?Sharuz, bevor ich anfange, dir Geschichten zu erzählen, um dir verständlicher zu machen, wer oder was du bist, musst du eins im Voraus wissen und es dein ganzes Leben lang behalten: Du bist Jude, und die ganze Welt hasst dich!? Es klingt komisch, aber bevor er mir das sagte, wusste ich nicht, dass wir Juden sind. Wir haben zwar regelmäßig meine Großeltern in Israel besucht, aber meine Eltern haben mich nie mit etwas Jüdischem konfrontiert. Würden Sie sagen, dass es diese fortwährenden Anfeindungen im Wedding waren, die Sie zum Juden gemacht haben? Lesen Sie im zweiten Teil des Interviews, warum sich Arye Sharuz Shalicar ausgerechnet bei der Bundeswehr zum ersten Mal als Jude in Deutschland angekommen fühlte.

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