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Totale Transparenz - Die veröffentlichte Gesellschaft

In einer Gesellschaft, in der außer Pädophilie und Antisemitismus fast nichts mehr tabu ist und die sich im unaufhörlichen Bild- und Tonverkehr schier grenzenlos online präsentiert und exhibitioniert, löst sich das Private zunehmend auf. Ein Beitrag in Kooperation mit dem Tagesspiegel

Autoreninfo

von Becker, Peter

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Am 15. März 2014 zeigt Deutschlands größte Tageszeitung auf ihrer Titelseite einen korpulenten Herrn im Hemd, der an einem rot-weiß karierten Tisch im Freien ein Glas Wein trinkt. Eine Nahaufnahme, doch offenkundig mit einem Teleobjektiv geschossen. Die „Bild“-Legende zum Foto und der Titelschlagzeile „Der Tag danach“ lautet: „Uli Hoeneß (62) sitzt gestern um 12.42 Uhr auf der Veranda seines Hauses in Bad Wiessee und trinkt Weißwein. Familienhund Kuno (14) ist an seiner Seite“.

Dazu gibt es im Innenteil weitere Fotos vom mittäglichen Idyll der Familie Hoeneß. Herbeigezoomt werden außer Herr und Hund auch Ehefrau, Tochter, Schwiegersohn, ein Enkel in der Wiege, plus noch mehr Getränke, Freunde, das Ganze garniert mit einem Minutenprotokoll – vom Urteil im Fall Hoeneß, der abendlichen Fahrt vom Münchner Justizpalast ins Haus am Tegernsee und eben dem „Tag danach“: mit dem Verzicht auf die Revision, dem Rücktritt von den Fußballämtern, dann Wein, Weib und Weiteres auf der privaten Veranda.

Privatheit löst sich auf
 

Privat? Es geht hier nicht um das womöglich zu milde, zu schnelle Urteil und nicht um die noch unaufgedeckten Hintergründe der ganzen Causa. Es geht vielmehr um einen Rest von Privatsphäre und ein Recht auf Privatleben, das auch einem prominenten Steuersünder (und seiner Familie) noch zusteht. Oder haben sich Hoeneß und Anhang ganz freiwillig vor den draußen an den Ufern des Tegernsees lagernden Reportern präsentiert? Und inszeniert?

Egal. Es wird einem dabei halt mulmig. Mulmig wie im ganz anderen Fall Edathy, bei dem der Ankauf irgendwelcher Nacktfotos von Minderjährigen allemal unappetitlich ist. Aber falls das nach geltenden Gesetzen keine Straftat bedeutet, muss man auch einem ehemaligen Bundestagsabgeordneten das Persönlichkeitsrecht zugestehen, über seine Privat- oder gar Intimsphäre zu schweigen. Sogar öffentlich zu schweigen.

Als der amerikanische Anwalt Samuel D. Warren und der spätere US-Bundesrichter Louis Brandeis in Harvard Ende 1890 erstmals ein mit der allgemeinen Pressefreiheit konkurrierendes individuelles Grundrecht auf Privatheit vorschlugen, sprachen sie auch von einem „Right to be let alone“. Das klingt, lange vor allen Paparazzi-Realitäten oder gar Orwell- Visionen formuliert, fast unheimlich hellsichtig.

Vor gut 50 Jahren hatte der Soziologe und werdende Philosoph Jürgen Habermas in seiner Habilitationsschrift zum „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ bereits die Auflösung des Bürgerlich-Privaten im politisch, wirtschaftlich und massenmedial Vermengten beschrieben. Auch dieser Befund war scharfsinnig, wirkt aber mittlerweile fast rührend – angesichts der digitalen Explosion des Privaten im Internet und auf allen mobilen Datenträgern.

Totale Transparenz
 

Für die amerikanische Regierung und ebenso für die Briten hat die allgemeine Sicherheit inzwischen Vorrang gegenüber jener Freiheit, die das Bundesverfassungsgericht noch „informationelle Selbstbestimmung“ nannte. Mit den technologischen Möglichkeiten der NSA ist das Brief- und Fernmeldegeheimnis, bis vor kurzem noch ein staatsbürgerliches demokratisches Kernrecht, für den Mailverkehr und Handytelefonate praktisch obsolet geworden.

Das neue Schlag- und Machtwort heißt nun: Transparenz. Ob Terroristen, Steuerhinterzieher, Politiker, Seitenspringer, das Handeln (fast) aller ist potenziell transparent, selbst das Treiben der Geheimdienste bleibt nicht mehr geheim. Wenn Angela Merkel abgehört wird, sind wir empört, trifft es Berlusconi, Erdogan oder auch nur Sarkozy, herrscht Begeisterung. Oder zumindest Neugier. Italienische oder mexikanische Mafiabosse werden aufgespürt, weil Polizeibehörden in vielen Ländern sich um die Persönlichkeitsrechte oder Unschuldsvermutung weit weniger scheren als (immerhin) noch in Deutschland.

In einer Gesellschaft, in der außer Pädophilie und Antisemitismus fast nichts mehr tabu ist und die sich im unaufhörlichen Bild- und Tonverkehr schier grenzenlos online präsentiert und exhibitioniert, löst sich das Private oder gar Intime zunehmend auf. Kein Wunder, dass es da ein paar (noch) schwache Gegenbewegungen gibt. Botho Strauß, der seismografische Poet, erinnert an den letztmöglichen Fortschritt: in die Welt des „Idioten“. Dieser war, im Altgriechischen, kein Schwachsinniger, sondern der Eigensinnige, der ursprüngliche Privatmann. Der etwas für sich bewahrte. Zum Beispiel ein Geheimnis. Ohne das es keine Liebe gibt, keine Kunst und keine Überraschung mehr.

 

 

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