- Was liest...
Manche Gespräche beginnen tatsächlich noch so. Am Kreuzberger Ufer, als die Admiralsbrücke in der letzten Sonne lag, saß ich in einer beliebten Pizzeria, wartete auf meine Pizza «Gustaio» und wurde gefragt: «Mal wieder was Gutes gelesen?» Mir fiel auf, dass einem die schlechten Beispiele zuerst einfallen. Es sei denn, man steckt mitten in einem phantastischen Buch.
Manche Gespräche beginnen tatsächlich noch so. Am Kreuzberger Ufer, als die Admiralsbrücke in der letzten Sonne lag, saß ich in einer beliebten Pizzeria, wartete auf meine Pizza «Gustaio» und wurde gefragt: «Mal wieder was Gutes gelesen?» Mir fiel auf, dass einem die schlechten Beispiele zuerst einfallen. Es sei denn, man steckt mitten in einem phantastischen Buch. Leider fängt man dann meistens dort, wo man steckt, auch an zu erzählen, und es dauert eine Weile, ehe man sich herausgearbeitet hat ins Verstehbare und im Gesicht des Gegenübers ein Erkennen aufblitzt.
An diesem Abend
schlug ich mich tapfer durch den europäischen Wald der letzten
zweitausend Jahre, denn davon erzählt die schwedische Autorin
Kerstin Ekman in ihrer großen essayistischen Beschwörung des
Waldes. Sie zeigt den Wald als komplexes Ökosystem, aber auch als
literatur- und kulturgeschichtliches Phänomen, beginnend mit dem
gefährlichen Zedernwald im Gilgamesch-Epos, über den unheimlichen
Wald in Goethes «Erlkönig» bis zum gefährdeten Wald in Tschechows
«Onkel Wanja». Sie beschreibt den Wald als Spiegel menschlicher
Ängste und Sehnsüchte, als Quelle der Phantasie oder als das
Unfassbare, an dessen Grenze sich die Menschen ihrer selbst bewusst
werden oder den Verstand verlieren.
Ekman schildert Thoreaus Naturromantik, folgt dem Naturforscher
Carl von Linné in die vom Menschen geordnete Landschaft, sieht mit
Rousseau den von der Zivilisation verdorbenen Wald, taucht in
Freuds dunkel lockenden Wald des Unbewussten, aber auch in den
schwedischen Wald hinter ihrem Haus ab, und zwar in einem grandios
leichten und zugleich melancholischen Stil, bewundernswert
übersetzt von Hedwig Binder. «Dring hier ein, wenn du deinen Eimer
mit Sanddorn aus dem letzten Schutzkranz gefüllt hast, und hör der
Drossel Schattenlied zum Abschied des Sommers, der einen ebenso
wunderlichen Namen trägt wie der Wald. Allein in diesem Sommer gab
es zwanzig oder mehr Sommer, und einer davon war sehr entfernt und
schummrig und roch nach Baldrian und dem Rauch einer Zigarette, die
im Moos ausgedrückt wurde.»
Vielleicht war die Zigarette der Anlass, während wir auf die Pizza
warteten, auf den Geschmack zu sprechen zu kommen, der auch erlesen
sein will, und auf ein Buch, das einer großen Kochkünstlerin des
beginnenden 20. Jahrhunderts huldigt, der inzwischen fast
vergessenen Schriftstellerin und Salonnière Julie Elias. Sie
gehörte mit ihrem Mann Julius, einem Nordisten, der Ibsen und Munch
für das deutsche Publikum entdeckte, zu den engsten Freunden Max
Liebermanns und vertrat die Auffassung, Kochen bilde als «ein Akt
der Kultur den Ausgangspunkt reflektierter, erlernbarer
Sinnlichkeits-und Geschmackserlebnisse». In einem leinengebundenen,
auf edlem Papier gedruckten Buch des für seinen gestalterischen
Geschmack bekannten Potsdamer vacat-Verlags hat Ursula
Hudson-Wiedenmann Rezepte von Speisen versammelt, die Julie Elias
im engsten Freundeskreis auftischte: Labskaus oder «Äpfel mit
spanischem Wind». Ich las darin auch wegen der sprachlichen
Verlockungen – «hachierte» Eier, «vier Lot Kaffee» oder
«Trittmadam» sind die besten Schreibanreger –, und um es anfassen
und an seinem würzigen Westminsterpapier riechen zu können. Auch
hier brauchte ich eine Weile, um mich, ohne rot zu werden,
verständlich zu machen.
Aber mir gefallen
auch jene Taschenbücher aus den sechziger Jahren, die nicht nur
gestalterische Katastrophen sind, sondern schon jede
Leserfreundlichkeit für einen Verrat am Text halten. Meine Ausgabe
von James Baldwins Roman «Giovannis Zimmer» ist ein solches, auf
mittlerweile vergilbtes, störrisches Papier in kleiner, enger
Schrift gedrucktes Buch. Für mein eigenes aktuelles Schreibvorhaben
interessierte mich Baldwins literarische Technik, mit der er das
Kunstfertige dieses poetischen Klassikers so in den Hintergrund
treten lässt, dass die sexuelle Selbstfindung des Helden nicht nur
den Intellekt, sondern auch den Instinkt anspricht und eine
körperlich spürbare Spannung erzeugt.
Von Baldwins Paris zurück an der Berliner Admiralsbrücke fiel mir
auf, dass man bei Gesprächen wie diesen, sind sie intensiv genug,
manchmal Passagen und Sätze auswendig weiß, ohne sie je gelernt zu
haben. Und an diesem Abend wusste ich eines der Gedichte von
Alexander Gumz auswendig, die ich nachts gerade am liebsten las,
und nachdem die Pizza gebracht und gegessen war und ein neuer
Weißwein bestellt, fand ich mich tatsächlich
rezitierend:
KURZ VOR
KÜSTENSCHLUSS
bricht sich der regen auf dem pflaster: zirkuswagen / im
verdreckten licht: ganz easy bei einer anderen / physik geklaut.
sammlungen, die zu hause lässt, wer auf übergroße / touren geht.
auch die freunde bemühen sich, / für ein paar tage niemanden zu
verraten:
landkarten werden gefälscht bevor die arme / der reihenhäuser nach
ihnen greifen. von der luft aus / gut erkennbar: achterbahnen
mit eigens für sie aufgestellten winden. eine verschwörung / aus
kapital und angst: dünne wurzeln unterm fuß. / die wärme leerer
fenster
beim nachhausegehen. ist das schimmern der holzpferde / von hier
aus noch zu sehen? das meer klatscht / am ende der promenade in die
hände.
manche sagen, sie könnten nur so trauern: vergessen / was geblieben
ist. möwen? nein: affenschreie / überm strand.
James Baldwin
Giovannis Zimmer. Roman
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Kerstin Ekman
Der Wald. Ein literarischer Spaziergang
Piper, München 2009. 527 S., 24,90 €
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Alexander Gumz
Ausrücken mit Modellen. Gedichte
(unveröffentlicht)
Ursula
Hudson-Wiedenmann
Meisterwerke für uns’ren Gaumen. Max Liebermanns
Geselligkeit und feine Küche
vacat, Potsdam 2009. 143 S., 26 €
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Antje Rávic Strubel, 1974 in Potsdam geboren, studierte nach einer Ausbildung zur Buchhändlerin in Potsdam und New York Literaturwissenschaft, Psychologie und Amerikanistik. Für ihre Prosa wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erschienen der Roman «Kältere Schichten der Luft» (2007) und die «Gebrauchsanweisung für Schweden» (2008). Sie lebt als freie Autorin in Potsdam.
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