Die Antike: Modelle mit Zukunft - Wanderer, kommst du nach Treptow

Phantastische Ausschweifungen über die "Odyssee" und Sparta, über Musik und Mathematik. Eine Begegnung mit Friedrich Kittler

Am Anfang kratzt und knistert es ein wenig, das ist die Plattenspielernadel, dann zwei Paukenschläge, noch einmal zwei, dann wabern tiefe, kaum menschliche Laute in akustischer Zeitlupe, und endlich hebt ein Crescendo an aus flirrenden, zischenden, psychedelischen Gitarren. Und klingt wieder ab. Knapp andert­halb Minuten dauert diese orgiastische Sound-Collage, sie eröffnet das «Electric Ladyland» von Jimi Hendrix, sein wohl komplexestes Album. Die Platzierung zu Beginn gibt dem Stück etwas Demiurgenhaftes: die Geburt eines Universums. Und da es den Titel «… And the Gods Made Love» trägt, könnte die Botschaft des alten Hesiod dazu passen: Die Götter schlafen miteinander, und so entsteht die Welt. Warum nicht.

Der Gelehrte, der zu solchen Assoziationen fähig ist, heißt Friedrich Kittler, Neugermanist, Romanist,
Medienhistoriker, Kulturwissenschaftler, vielleicht auch Philosoph und jedenfalls einflussreicher Inhaber eines Lehrstuhls für Ästhetik und Geschichte der Medien an der Berliner Humboldt-Universität. «Die Götter schlafen halt miteinander, und dadurch entsteht die Welt», wiederholt er im Gespräch; unklar, ob dies Glaubensbekenntnis oder Tatsachenbehauptung oder eine schlichte Zusam­men­fassung von Hesiods «Theogonie» sein soll. Wir sitzen in seiner Wohnung in Berlin-Treptow – im Wohnzimmer, Arbeitszimmer und Bibliothek sind nebenan –, viele Zigaretten lang. Fest steht, der Satz von der welterzeugenden Liebe unter Göttern klingt aus Kittlers Mund wie eine schöne Selbstverständlichkeit. Als seien jene die Verrückten, die an die Schöpfung der Welt aus dem Nichts glauben. Und als habe nicht schon Herodot, wie ein geheimer Vorläufer des religionskritischen 19. Jahrhunderts, das Göttliche auf die Projektionsfähigkeit des Menschen zurückgeführt, wenn er schrieb: «Homer und Hesiod haben den Griechen die Götter geschaffen.»


«Aus Griechenmund, woher denn sonst?»

Wer mit Friedrich Kittler in die Antike reist, betritt ein fremdes Land. Fremd nicht einfach, weil jene Welt nicht mehr zum vertrauten Bildungskanon der Gegenwart gehört. Sondern weil dieser Reiseleiter Ungewohntes zeigt und ungewohnt erzählt. Kittler, der vor einem Vierteljahrhundert die «Austreibung des Geistes aus den Geistes­wissenschaften» proklamierte, der in seiner noch immer gut verkäuflichen Habilitationsschrift «Aufschreibesysteme» die Goethezeit mit den Instrumenten französischer Diskurs- und Psychoanalyse derart durchkreuzte, dass die zünftigen Literatur-Interpreten ihre liebsten Kinder nicht mehr kannten, der seinen scharfen Verstand weniger auf Gottfried Benns Gedichte als auf die frühen Pink Floyd, auf Schaltpläne und den Protected Mode des Computers zu richten schien – dieser heute 62-jährige Rock ’n’ Roller der Theorie hat sich, etwa seit der Jahrtausendwende, in die Welt des alten Griechenland vertieft. Warum das?

Er sagt: «Ich habe inzwischen doch das Gefühl, dass man nichts anderes ist als ein Echo, ein Sprachrohr, eine Weitergabe-Instanz der Ahnen. Punkt. Und diese Ahnen, die gehören einfach gelesen und bedacht.» Und er schreibt: «Musik und Mathematik – woher die beiden Worte rühren? Von wo sie alle her sind, die zu denken geben. Aus Griechenmund, woher denn sonst?»

Auf den ersten Blick gehört Kittlers Griechentum durchaus in jene Tradition der Antike-Verehrung, die die Sehnsucht nach einem verloren gegangenen Ideal antreibt, eine sehr deutsche Tradition, die nicht nur die amerikanische Moderne, sondern auch das alte Rom mit Verachtung straft. Selbstverständlich beansprucht Kittler aber, sich von den großen deutschen Griechenlesern zu unterscheiden. «Es ist ja nicht einfach der Gott entschwunden, wie Hölder­lin und Heidegger dichten, son­dern es ist ein auf Männer-Frauen-Beziehungen gegrün­detes Fühlen und Denken und Musizieren entschwunden», erklärt er. «Ich habe ein bisschen Angst, dass die Pfarrer- und Mesnerkinder wie Hölderlin und Nietzsche und Heidegger von dem im Herzen nicht ganz überwundenen Christentum daran gehindert worden sind zu sehen, what’s at stake: wirklich ein Frommsein – ‹Religion› passt ja nicht zu den Griechen –, das die Götter und Göttinnen insofern ehrt, als sie sich mit den Sterblichen und diese sich auch untereinander paaren. ‹… And the Gods Made Love› habe ich immer so verstanden bei Hendrix.»

Feminist oder Womanizer?

Friedrich Kittlers neues Buch trägt den Titel «Musik und Mathematik I. Hellas 1: Aphrodite». Es ist der Beginn eines Projekts, das man nicht anders als herkulisch nennen mag: eine große Erzählung über die Liebe, ausgehend von den für Kittler seit jeher nahe liegenden Polen Musik und Mathematik. Die jetzt veröffentlichten vierhundert Seiten sind nur die erste Hälfte eines «Hellas»-Bandes, dessen zweite gegenwärtig in Arbeit ist: «Eros» wird sie heißen, mit Euripides, Platon und Aristoteles als zentralen Figuren. Als Fortsetzung ist ein Teil zu Römern und Christen geplant, zu «Sexus» und «Virginitas» (II); dann einer über Minne, Liebe und Sex seit dem Mittelalter (III: «Hesperien»); schließlich ein Band über die «Turing-Galaxis», das Computerzeitalter (IV).

Die Bibliografie des ersten Bandes weist schon einmal «den Stand unserer Forschungen von Band I bis IV» aus, und wenn Kittler über seine Lektüren spricht, fließen immer wieder Ideen aus allen Epochen ein. «Ich habe noch nicht jedes Buch genau im Kopf», sagt er, «aber ich mache Riesen-Exzerpte, für alle Bände.» Vielleicht denkt Kittler manchmal still an Michel Foucault: Hat nicht der französische Philosoph, als die erste Studie seiner «Geschichte der Sexualität» erschien, seinem Verleger wie dem Publikum fünf weitere Bände versprochen – und seinen Plan dann so fundamental geändert, dass er nur noch zwei Folgen veröffentlichte?

Foucault gehört jedenfalls seit mehr als dreißig Jahren zu Kittlers selbst erwählten Ahnen; eines der schönsten Portraits in dem Büchlein «Unsterbliche» (2004) ist ihm gewidmet. Grundlegender für die Matrix von «Musik und Mathematik» ist aber Martin Heidegger – oder das, was Kittler aus dessen Seinsgeschichte macht. Die 1998 gehaltene Vorlesungsreihe «Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft» kulminierte nicht nur in einer «bedingungs­losen Liebeserklärung» an Heidegger, sondern zugleich in folgendem Gedanken: Mit der Seinsgeschichte sei etwas Neues an die Stelle von Descartes’ zeitloser Methode getreten, nämlich «der kulturgeschichtliche Radikalismus, jeder historischen Formation Europas im nachhinein einen radikal anderen Sinn von Sein zu unterstellen». Kittler legt, wenn er Heidegger folgt, die «Geschichte vor jeder Einzelgeschichte» frei. Seine Ambition erschöpft sich also nicht darin, historische Gewohnheiten von Musikern und Mathematikern oder variierende Sexualpraktiken nachzuerzählen, sondern er will unterschiedliche Weisen des Seins im Ganzen aufweisen. «Es ist der Versuch, den späten Heidegger ganz ernst zu nehmen», sagt er im Gespräch, «und daran zu glauben, dass es solche Schnitte gibt: seinsgeschichtliche Wandlungen, die unvorhersehbar sind, die man nicht erklären kann – aber sehen und zeigen.»

Für sich genommen, sind die historischen Einschnitte, die der Plan von «Musik und Mathematik» zugrunde legt, noch nicht originell. Dass die Übersetzung der griechischen Kultur ins Lateinische, dass die Geburt des Christen­tums Umwälzungen ersten Ranges darstellen, ahnt man auch ohne Seinsgeschichte. Interessanter ist, wo und wie Kittler die Grenze innerhalb der griechischen Welt zieht. Sie verläuft in der klassischen Zeit; auch Euripides und Homer trennen nicht nur Jahrhunderte, sondern ganze Seins-Welten voneinander, so Kittler.

«Vergleichen Sie zum Beispiel die verschiedenen Reaktionen auf Helena», erklärt er – Helena, die schöns­te aller Frauen, deren Entführung den Trojanischen Krieg auslöste. «Bei Homer, im dritten Gesang der ‹Ilias›, sagen die alten Trojaner: Wir sollten Helena, das Miststück, dem Menelaos, ihrem Mann, zurückgeben, dann hätten wir Frieden und keinen Krieg mehr. Dann kommt sie. Und die Greise sehen Helena und sagen: Nein, so unsterblich schön, gegen eine solche Frau kann man nichts sagen. Euripides sagt in 19 Stücken, Helena ist eine Hure, und in einem Stück sagt er, sie ist eine treue Ehefrau. Und Horaz schreibt in den ‹Satiren›: Schon lange vor Helena waren Fotzen – wörtlich: cunnus – der stinkends­te Kriegsgrund. Also drei Sexualmoralen zu drei Zeiten, von denen die eine sich vor der Schönheit beugt, die zweite die Schönheit als Zügellosigkeit schlechtmacht, und die dritte im Schönen das Stinkende wahrnimmt, also das Obszöne.» Eine kleine, mündlich vorgetragene Verfallsgeschichte des Respekts vor den Frauen. Ist Kittler Feminist? Oder ein «Womanizer», wie er selbst einmal lachend meint?

Hat Odysseus die Sirenen doch angerührt?

Der jetzt veröffentlichte Band «Hellas 1» zerfällt seinerseits in zwei Teile, «Musik» heißt der eine, «Musik ruft Mathematik» der andere. Zunächst schreitet Kittler, scheinbar harmlos nacherzählend, durch die «Odyssee» und tastet die 24 Gesänge auf ihre musikalischen Implikationen hin ab. Wobei «schreiten» und «abtasten» beinahe wörtlich zu verstehen ist. Denn namentlich die Verse der Sirenen hat Kittler nicht nur im Studierzimmer von Berlin-Treptow gelesen. Er ist tatsächlich auf die, wie er sagt, Sirenen-Insel gereist, auf Gallo Lungo, südlich von Neapel – und hat damit «die Philologie endlich einmal auf eine experimentelle Basis gestellt». Sowohl die Lektüre als auch die Reise ergeben: Odysseus kann den Sirenen, vor deren honigsüßem Lockruf er gewarnt war, in Wahrheit nicht entkommen sein. Er muss am Ufer gelandet sein. Kittler führt Textstellen an, denen zufolge Odysseus’ Schiff zumindest wieder abgelegt hat. Und vor allem hat die Recherche an den Klippen gezeigt, dass die Sirenen-Verse vom Schiff aus zwar zu vernehmen, nicht aber zu verstehen gewesen sind. Um den Sinn des Sirenengesangs zu hören, blieb Odysseus nichts anderes übrig als zu landen. «Quod erat demonstrandum», notiert der Forscher, «nach beinah drei vergeudeten Jahrtausenden.»

Ausführlich beschreibt Kittler die Entstehung des Vokalalphabets (und ruft so in Erinnerung, dass er Medien­wissenschaftler bleibt). In einem weiteren Kapitel behan­delt er drei Autoren, von denen er, abermals nach Heideg­ger, behauptet, dass sie keine Literatur, sondern Dichtung hinterlassen hätten: Knapp kommentiert er Aristophanes, Sophokles ausführlich, der Dichterin Sappho widmet er zehn Seiten, deren Hingebung nur übertroffen wird von der hörbaren Begeisterung, mit der Kittler Sapphos einziges vollständig erhaltenes Gedicht rezitiert – aufgenom­men auf dem kürzlich erschienenen Hörbuch «Musen, Nymphen und Sirenen», das ohnehin vorzüglich in Kittlers Griechenland einführt.

Der Protagonist des zweiten Teils von «Hellas 1» ist Pythagoras, als Scharnier zwischen Musik und Mathematik. Mathematik vor Pythagoras war angewandte Geometrie: In Ägypten und Babylonien mussten regelmäßig Landflächen rechtwinklig vermessen werden. «Demgegenüber dachten die Pythagoreer die Zahl und den Winkel allgemein», so Kittler. «Spätestens Archytas, der letzte Pythagoreer, macht die erste mir bekannte allgemeine mathematische Aussage, die nur noch davon lebt, dass alle Zahlen entweder gerade oder ungerade sind. Seitdem kann man also in unserem Sinne allgemeine Aussagen machen. Man hat nicht mehr Rechnungswesen, sondern eine Zahlentheorie.» Dass nicht zuletzt musikalische Schönheitsverhältnisse mathematisch beschrieben werden können, leuchtet ein. Doch diese Einsicht bezieht Kittler nicht nur auf Intervalle und Frequenzen, sondern auch auf ganz Handwerkliches: «Allgemeinaussagen vom Typ, wie Platon sie getroffen hat – dass die Idee des Guten uns alle leiten soll –, die sind leicht zu machen. Aber eine allgemeine Aussage etwa darüber, wann ein Musikinstrument gut gestimmt ist, scheint mir viel effektiver zu sein.»


«Tanz als Nachvollzug der Götter»

«And the gods made love»: So heißt ein zentraler Abschnitt in diesem Buch, und wie der Titel sagt, berichtet er von verschiedenen Paarungen unter Unsterblichen. Zuerst Ares und Aphrodite in der «Odyssee»: «Hierher, liebe, komm ins bett, geniessen wir das liebesspiel», ruft der Kriegsgott der Göttin zu (so bei Kittler; Johann Heinrich Voß’ immer noch geläufige Übertragung aus dem 18. Jahr­hundert klingt beschaulicher: «Komm, Geliebte, zu Bette, der süßen Ruhe zu pflegen!»). Kittler ruft in Erinnerung, dass Ares und Aphrodite selbst in Liebe gezeugt wurden und beschreibt, wie in Hermes, als dieser mit anderen Göttern den Liebenden zusieht, das Begehren wächst, selbst bei Aphrodite zu liegen. Woraufhin allgemeines göttliches Gelächter ausbricht.

Fragmente einer Serie der Liebe sind das, aus denen Kittler zunächst schließt: «Die Kette dieser Wiederholungen, von Zeus und Hera, Ares und Aphrodite bis zu Hermes’ Wunsch nach Wiederholung selbst, verzaubert Liebe in Gesang.» Es folgt, fast beiläufig, der Appell an jene neu-alte Frömmigkeit, die Kittler im Gespräch so betont hat: «Ohne Götter, die miteinander schlafen, gäb es keine Sterblichen, ohne Eltern, die miteinander Liebe machten, keines von uns Kindern. So bleiben einzig Dank und Wiederholung.» Und im nächsten Satz die nächste Pointe: «Nichts anderes heisst Griechen, solang sie dichten und nicht Reden oder Literatur verbrechen, mimesis, Tanz als Nachvollzug der Götter.»

Mimesis, vulgo Nachahmung, als fortgesetzte Liebe? Man kann nicht behaupten, dass die gesamte Theorie-Tradition, die sich um den Mimesis-Begriff gebildet hat – von Aristoteles über Erich Auerbach bis zur zeitgenössischen Medienwissenschaft –, unter dem Druck dieser Bemerkungen in sich zusammenfallen würde. Was Kittler aber gelingt, wenn er die alten Texte neu verdichtet, ist, eben jene Tradition – zu kitzeln.
 

Sparta, eine Männerphantasie

Wie Kittlers Kunst des stilvollen Kompilierens funktioniert, wird augenfällig, wenn er Geschlechterbeziehungen unter Sterblichen beschreibt. Er wählt Sparta als Schauplatz und beruft sich bei seinen Schilderungen auf Spartas legendären Gesetzgeber Lykurgos. Wir lesen, wie Spartas Kinder mit sieben Jahren dem Elternhaus entrissen werden, um in großen Gruppen miteinander zu leben, Jungen und Mädchen gemeinsam. «Beide Geschlech­ter dürfen Wein geniessen; Städte wie Athen, wo Mädchen in den Hinterhäusern eingesperrt nur Weben lernen, untersagen ihnen jeden Rausch.» Wir lesen, wie im Alter von zwölf Jahren die Geschlechter getrennt werden, von Kampfspielen, die die jungen Männer nackt bestreiten, von der Liebe unter den Epheben, wir lesen, wie leicht bekleidet auch die unverheirateten jungen Frauen beim Sport waren und dass unter ihnen «Liebesspiele erwünscht (sind), nicht bloss erlaubt». «So also – halbnackt – sieht schon der Alltag auf den Strassen aus. Sparta aber ist die Stadt der Feste und Musiken.» Und obendrein: «Krieg liebt Sparta nicht: Wenn es halbe Sommer über feiert, fliesst trotz Athener Angriffslust kein Blut.»

Man reibt sich die Augen. Es muss ja niemand daran glauben, dass Sparta nichts als eine ideologisierte
Militärmacht gewesen sei, eine Art antike Sowjetunion, wie es Generationen von Schülern während des Kalten Krieges hören mussten; der Historiker Karl-Wilhelm Welwei hat kürzlich mit diesem Mythos aufgeräumt. Doch gerade bei dem von Kittler so intensiv ausgewerteten Plu­tarch finden sich über die Spartaner Sätze wie diese: «Keinem stand es frei zu leben, wie er wollte, sondern sie lebten in der Stadt wie in einem Feldlager nach strengen Vorschriften für all ihr Verhalten und ihre Beschäftigung in der Öffentlichkeit, und überhaupt glaubten sie nicht sich, sondern dem Vaterlande zu gehören.» Was also bedeutet es, wenn Kittler, dessen immenser Anmerkungsapparat doch jeden zweiten Satz im Text akribisch belegt, diesen Stadtstaat als weichgezeichnete Männerphantasie wahrnimmt? Kittlers Sparta ist – wie sein Griechenland – eine Phantasie mit Fußnoten. Andererseits lässt er keine Zweifel aufkommen an der Artifizialität seines griechischen Gebäudes: Die Sparta-Schilderung bezeichnet er selbst als «Sage». Und dort, wo Homers Epen die Muse anrufen, nämlich ganz am Anfang, heißt es in dem Buch: «Wir möchten euch Musik und Mathematik erzählen: das Schöns­te nach der Liebe, das Schwerste nach der Treue.» Überhaupt, die Sprache: Was Geoffrey Winthrop-Young in seiner erhellenden Einführung in Kittlers Denken als «Kittlerdeutsch» beschreibt (und mit dem adornitischen Idiom vergleicht), hat in «Hellas 1» eine eigene Qualität: rhythmisierte Prosa, die auf Latinismen, so weit es geht, verzichtet; nicht wenige Passagen sind in Aphorismus-Größe gehalten; gelegentlich wird direkt ein «du» oder «ihr» adressiert; und Scheu vor einem gepfleg­ten Kalauer kannte Kittler ohnehin nie. Diese große griechische Phantasie bleibt solange wahr, wie die Fußnoten stimmen – und der Leser den Idiosynkrasien des Friedrich Kittler folgen mag.

Sind Phantasien aber unwahr? Ich schreibe nichts als Fiktionen, hat Michel Foucault einmal geantwortet, als er nach dem Wahrheitsgehalt seiner historischen Studien gefragt wurde; und ein anderes Mal: Ich bin ein glücklicher Positivist. Dem Strudel, den die beiden widersprüchlichen Selbstaussagen hervorrufen, sind die Interpreten bis heute nicht entronnen. Friedrich Kittler bringt seine Leser in eine ähnliche Situation. Ei­ner­seits seine philologische Genauigkeit und die ausgestellte Begeisterung für Realien: jedes griechische Zitat wird zweisprachig abgedruckt, eigene Übersetzungen werden angefertigt, und die akustischen Verhältnisse der Sirenen-Insel müssen vor Ort untersucht werden.

Zum Schluss noch einmal die naive Leser-Frage, die Anti-Hermeneutiker wie er einst mit Spott überzogen hätten: Was treibt den Autor an, der solches schreibt? Warum Griechenland? Doch Kittler weicht nicht aus und sagt: «Ich möchte, dass es den jungen Leute mit ihrem Liebesleben besser geht als uns. Ich möchte, dass niemand, wenn er entdeckt, dass er schwul ist, sich dreimal umzubringen versucht, wie Foucault.» Und dann: «Stellen Sie sich mal dieses Wunder vor: eine Kultur, in der es keine Jesuiten gibt, keine Rabbiner, nichts. Das Rasende an Griechenland scheint mir die Freiheit zu sein – aber nicht die Freiheit, die George Bush im Kopf hat, wenn er von Demo­kratie und freiem Unternehmertum spricht, sondern die Freiheit zu lieben. Und die Freiheit der Feste, die Freiheit der Poesie.»

Schön war’s in Hellas. Draußen wartet Treptow.

 

Bücher von und über Friedrich Kittler

Friedrich Kittler
Musik und Mathematik I. Hellas 1: Aphrodite
Wilhelm Fink, München 2006. 409 S., 39,90 €
Musen, Nymphen und Sirenen
Supposé, Köln 2005. Audio-CD, 56 Min., 18 €
Unsterbliche. Nachrufe, Erinnerungen, Geistergespräche
Wilhelm Fink, München 2004. 152 S., 19,90 €
Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft
Wilhelm Fink, München 2000. 260 S., 22 €
Aufschreibesysteme. 1800–1900
5. überarbeitete Neuauflage.
Wilhelm Fink, München 2003. 504 S., 36,90 €

Friedrich Kittler, Cornelia Vismann
Vom Griechenland
Merve, Berlin 2001. 155 S., 12 €

Peter Berz, Annette Bitsch, Bernhard Siegert (Hg.)
FAKtisch. Festschrift für Friedrich Kittler zum 60. Geburtstag
Wilhelm Fink, München 2003. 374 S., 54 €

Geoffrey Winthrop-Young
Friedrich Kittler zur Einführung
Junius, Hamburg 2005. 200 S., 13,90 €

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