- Ein Instrument der Spaltung
Kolumne: Zwischen den Zeilen. Unter dem Vorwand des Selbstbestimmungsrechts kündigen die Starken den Schwachen die Solidarität auf – die Linken und ein weltberühmter Fußballtrainer machen mit
„Für Anwälte des Selbstbestimmungsrechts eines Volkes ist das Volk oft nur notwendiges Instrument der Machtergreifung“, notierte Ralf Dahrendorf 1989 in seinem Essay unter dem Titel „Nur Menschen haben Rechte“. Trefflicher hätte der Soziologe und Vordenker des Liberalismus die Situation in der Ukraine gute 25 Jahre später nicht beschreiben können.
Schließlich beruft sich Russland bei der Annektierung der Krim auf eben jenes Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Krim-Bevölkerung habe entschieden: frei, demokratisch, selbstbestimmt.
Instrumentalisierung des Selbstbestimmungsrechtes
Erstaunlich. Putin bezieht sich auf ein Recht, dass er innerhalb des russischen Territoriums nicht gelten lassen will. Er wählt ein Instrument, dass er innerhalb der Russischen Föderation verteufelt, und er widerspricht damit seiner eigenen Politik an der Peripherie. Mit Berufung auf das umstrittene Selbstbestimmungsrecht kreiert Putin eine Blaupause; vor allem in Tschetschenien sowie im Kaukasus dürften die Separatisten dieser Tage aufhorchen.
Es ist diese beispielhafte Instrumentalisierung des Selbstbestimmungsrechts durch die Mächtigen, wie sie Dahrendorf kritisierte. Gerade dann, wenn Putin sein Vorgehen mit Verweis auf den Kosovo rechtfertigt. Richtig. Deutschland, die USA und die NATO haben damals Völkerrecht gebrochen, als sie Jugoslawien ohne UN-Mandat den Krieg erklärten. Doch einerseits liegt der Fall Kosovo etwas anders als der Fall Krim. Andererseits legitimiert Putin im Nachhinein das Vorgehen des Westens. Folgen wir der Logik Putins, müsste Russland das Kosovo nun anerkennen.
Stattdessen steht das Putin-Paradox: Die völkerrechtliche Anerkennung, die Russland dem Kosovo bis heute verweigert, fordert es für die Halbinsel im Schwarzen Meer.
Die Krim ist nur ein Beispiel dafür, welch absurde Blüten die Praxis des Selbstbestimmungsrecht auf der internationalen Bühne treiben kann.
Dabei ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker gerade unter Völkerrechtlern sehr umstritten. Zwar wird es in Artikel 1 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte sowie in diversen Urteilen des Internationalen Gerichtshofes als universelles Recht anerkannt, eine genaue inhaltliche Ausformulierung fehlt aber. Zudem steht dem Selbstbestimmungsrecht der Völker das Recht auf territoriale Integrität der Staaten gegenüber. Eine völkerrechtliche Norm, die das Recht auf Sezession ausdrücklich erlauben oder verbieten würde, existiert nicht.
Selbstbestimmung führt zur Spaltung
Auf dem Papier ist es ein wunderbarer Gedanke: Selbstbestimmung, Unabhängigkeit. Doch das Selbstbestimmungsrecht muss allein schon wegen der fragwürdigen Definition des Wortes Volk scheitern. Denn was soll das eigentlich sein – ein Volk? Die Gefahr der Abgrenzung zwischen sich selbst zum Volk erklärenden Bevölkerungsgruppen, scheint vorprogrammiert. Ebenso die Unterdrückung von Minderheiten. Die Atomisierung von Staaten wird zu einer realen Gefahr.
Woodrow Wilson katapultierte das Selbstbestimmungsrecht der Völker ins 20. Jahrhundert, als er sich am Ausgang des Ersten Weltkrieges um eine neue Friedensordnung für die Welt mühte. Zwar schwebten Wilson eher staatsbürgerliche und weniger nationale Einheiten vor. Doch viel zu leicht konnte das Selbstbestimmungsrecht als ein auf Ethnien fußendes Recht uminterpretiert werden. Aus Selbstbestimmung wurde Abgrenzung, wurde Ausgrenzung. Die Folgen im 20. Jahrhundert sind bekannt.
Für Dahrendorf war das Selbstbestimmungsrecht daher „ein Zeugnis der Unfähigkeit zur Freiheit in Vielfalt“. Aus Dahrendorfs liberaler Sicht war das auf Kollektivrechten beruhende Prinzip der Selbstbestimmung nicht mit den Individualrechten des Einzelnen in Einklang zu bringen. „Es gibt kein Recht der Armenier, unter Armeniern zu leben“, so schrieb er, als die Sowjetunion implodierte. „Es gibt aber ein Recht für armenische Bürger ihres Gemeinwesens, Gleiche unter Gleichen zu sein, nicht benachteiligt zu werden, ja auch ihre eigene Sprache und Kultur zu pflegen. Das sind Bürgerrechte, Rechte der Einzelnen gegen jede Vormacht.“ Von dem „sogenannten Selbstbestimmungsrecht“ hielt der Soziologe gar nichts. Es habe „als Alibi für Homogenität gedient, und Homogenität heißt immer die Ausweisung oder Unterdrückung von Minderheiten“ und: „Kollektive Rechte dienen in aller Regel der Unterwerfung von Menschen, nicht ihrer Befreiung.“ Für Dahrendorf war das Selbstbestimmungsrecht „einer der großen Irrtümer des 20. Jahrhunderts.“
Kardinalfehler der Linken
Von Links gelangte das Selbstbestimmungsrecht über Lenin auf die Tagesordnung. Der russische Kommunist machte das Selbstbestimmungsrecht für die Linke salonfähig. In seinem Werk „Das revolutionäre Proletariat und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ formulierte Lenin seine Version. Lenin wandte sich gegen Kritiker wie Rosa Luxemburg, die sich bereits 1908 in der Zeitung „Sozialdemokratische Rundschau“ mit der Frage nationaler Selbstbestimmung auseinandersetzte. Luxemburg warnte vorausschauend, die Forderung nach einem Selbstbestimmungsrecht der Nationen würde zum Chaos in den Beziehungen aller Länder beitragen.
Lenin sah das anders und beging damit einen Kardinalfehler der Linken: Die Abkehr vom Internationalismus zugunsten eines kollektiven Selbstbestimmungsrechts. Die Folgen lassen sich bis heute bestaunen. Immer dann, wenn sich linke Gruppierungen blindlings mit dem Palästinensischen Volk solidarisieren oder jetzt im Namen eines vermeintlichen Selbstbestimmungsrecht der Völker für Putin Partei ergreifen.
Pep Guardiola und das freie Katalonien
Der Krimerfolg ruft nun andere Separatisten auf den Plan. Schon fühlen sich die Separationsbewegungen auf der ganzen Welt gestärkt. Zum Beispiel in Schottland oder Spanien. In Katalonien hat die Abspaltung der Krim den Sezessionsbefürworter neue Argumente an die Hand gegeben. Die Regierung in Barcelona möchte das für Herbst geplante Referendum über die Unabhängigkeit Kataloniens nun vorziehen.
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Die Bewegung hat auch in Deutschland ein prominentes Gesicht. Pep Guardiola, der Trainer des FC Bayern München, macht sich seit längerem schon für die Unabhängigkeit Kataloniens stark. Nun kursiert im Internet ein Spot, der die Loslösung der Region von Spanien fordert. Das pikante: Guardiola spricht auf deutsch, auf dem Trainingsgelände des FC Bayern. Auf Nachfrage von Cicero Online erklärt der Mediendirektor des FC Bayern, Markus Hörwick, es handle sich dabei um die private Meinung Guardiolas und habe nichts mit dem FC Bayern zu tun. Gewusst habe der FC-Bayern davon nicht. Das sei auch nicht notwendig, denn Guardiola sei ein erwachsener Mensch, der seine Meinung frei äußern könne.
Der Trend zeigt: besonders wirtschaftlich starke Regionen melden Ansprüche auf Eigenständigkeit an. Katalonien beispielsweise ist im krisengeschüttelten Spanien die wirtschaftlich stärkste Region. Auch im reichen Norden Italiens gibt es einflussreiche Separationsbewegungen. Das schottische Selbstbewusstsein speist sich aus wirtschaftlicher Stärke: riesigen Ölvorkommen.
Insofern bedeutet Selbstbestimmung nicht selten die Aufkündigung von Solidarität durch die separatistische Hintertür.
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