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«Alles Geld verdampft»: Der Soziologie Jakob Arnoldi analysiert den virtuellen Kapitalismus der Gegenwart

Als im Gefolge der «Lehman»-Pleite das Märchen von der Gier der Manager aufkam, ließ die Replik nicht lange auf sich warten. Statt die Grandseigneurs anzuprangern, solle man lieber vor der eigenen Haustür kehren, war in der Zeitung zu lesen. Steuerhinterzieher, Sozialschmarotzer und Kleinrentner, die den Hals angeblich ebenfalls nicht vollkriegen können, wurden in den Zeugen­stand gerufen.

Im Wirtschafts­teil der FAZ wurde die Gier sogar zur ökonomischen Tugend umgewertet: Ohne dieses Betriebsmittel laufe in der Marktwirtschaft gar nichts, ließ Redakteur Rainer Hank wissen. Auf die wundersamen Geldvermehrer, die Gewinne per Mausklick «generieren», lassen wir offenbar so leicht nichts kommen. Ist das Gezeter über die Unersättlichen am Ende ein Ausdruck klammheimlicher Bewunderung?

Jakob Arnoldi hat sich den Untiefen des moralischen Diskurses gar nicht erst ausgesetzt. Statt die Investmentbanker zum Therapeuten zu schicken, fasst der Soziologe von der Aarhus School of Business das ökonomische Kalkül ins Auge, das sich hinter deren abenteuerlichen Transaktionen verbirgt: «Das Finanzwesen ist heute nicht nur global organisiert, es ist auch extrem wissensintensiv», stellt er in einem ebenso schmalen wie brisanten Bändchen mit dem Titel «Alles Geld verdampft» fest. Chancen und Risiken des Marktes «objektiv» zu bewerten, ist demnach längst zu einem Hauptanliegen des Finanzkapitalismus geworden. Darauf lassen allein schon die universitären Kader­schmieden schließen, aus denen er einen Großteil seines operativen Personals bezieht.


Wie radioaktiver Müll

Die Mathematiker Fischer Black und Myron Samuel Scholes unternahmen 1973 einen ersten Vorstoß in das wissenschaftliche Neuland. Die von ihnen aufgestellten Gleichungen sollten den Weg zu berechenbaren Profiten weisen, und dafür wurden sie prompt mit dem Nobelpreis geadelt. Dass die Erfinder des Long-Term Capi­tal Management bei ihren eigenen unternehmerischen Aktivitäten wenig Gutes ausrichteten und sogar wegen Steuerhinterziehung vor Gericht kamen, konnte den Glauben an einen mathema­tischen Weg zum Glück kaum mindern. Denn so wurden Finanzprodukte mit Tarnbezeichnungen wie Collateralized Debt Obligations, Structured Investment Vehicles und Credit Default Swaps ins Leben gerufen, deren komplexe Wirkungsweise selbst ihre Erfinder nicht mehr verstanden.

Natürlich handelte es sich nicht um Produkte herkömmlicher Art. Weder konnte man sie anfassen noch einem nützlichen Zweck zuführen. Es waren rein fiktive Besitztitel, die Schrottkredite durch Bündelung und Umschich­tung scheinbar in Wertpapiere verwandelten und ihre Verlustrisiken auf die Schultern möglichst vieler Investoren verteilten. Doch politische Implikationen, globale Abhängigkeiten, nicht beabsichtigte Nebenfolgen und in mathematischen Modellen nicht erfassbare Zukünfte aller Art ließen das Kartenhaus im September des vergangenen Jahres einstürzen.

Auf die astronomische Summe von 58 Billio­nen US-Dollar beziffert Jakob Arnoldi allein den Betrag, der für Kreditausfall-Swaps (Vereinbarungen, künftige Zahlungsströme auszutauschen) weltweit verausgabt wurde und der heute als strahlende Erbschaft der Krise in den Tresoren der Banken lagert. Der Vergleich mit radioaktivem Müll liegt nahe, denn die Risiken des Finanzkapitalismus sind denen anderer Risikotechnologien durchaus verwandt. Ulrich Beck, auf dessen Theorie der Weltrisikogesellschaft sich Arnoldi bezieht, hat diese zweifelhaften Errungenschaften der Moderne erforscht. Sie gelten zwar als technisch beherrschbar, können im Falle eines Unfalls aber unermessliche Schäden anrichten. Die wissenschaftlichen Expertisen, auf denen sie beruhen, vermindern das Risiko nicht etwa, sondern vervielfachen es.


Trübe Quelle mit frischem Geld

«Performativität» nennt Arnoldi die Neigung des Menschen, sich seinen Apparaten anzuverwandeln. «Die Einrichtungen selbst werden zu Fakten; und zwar solchen, die uns prägen», meinte einst der Philosoph Günther Anders zu diesem Thema. Auch die Instrumente der Finanz­branche vermittelten eine Sicherheit, die umso unsicherer war, je fester an sie geglaubt wurde. Schon ein paar Randbedingungen, sogenannte frames, die bei der Modellierung unter den Tisch fielen, bedeuteten den Totalschaden. Seither sind wir Zeugen einer Kapitalvernichtung, die die Idee vom «arbeitenden Geld» eindrucksvoll als Illusion enthüllt: Ein Lauffeuer von Wertberichtigungen ging über den Erdball, und der Markt kehrte überall zur alten Geschäftsgrundlage zurück.

Die Zeche bezahlten die Habenichtse, denen immer weisgemacht worden war, auch für sie würde ein Stück vom großen Globalisierungs-Kuchen abfallen. Too big to fail, hieß es hingegen an die Adresse systemrelevanter Banken und Unternehmungen, die es nach marktwirtschaft­licher Lehre gar nicht geben durfte. Auch sämtliche toxischen Geschäftsmodelle blieben wie selbst­verständlich «am Markt», als sei der Deri­vatehandel nicht erst in den 1980er Jahren von der Liste der verbotenen Glücksspiele gestrichen worden.

Dass diese trübe Quelle auch die Realwirtschaft mit frischem Geld versorgt, wird zwar immer wieder behauptet, aber in Wirklichkeit ist neben der schlichten Warenwelt längst eine gigantisch aufgeblähte Scheinwelt entstanden, die aus Renditegründen nur noch um sich selbst kreist. Ist das noch der alte Kapitalismus oder bereits der neue Virtualismus? Über die «wachsende Präsenz der Zukunft in der Gegenwart» äußert Jakob
Arnoldi sich in seinem apokalyptischen Essay zur «Finanz­krise in der Weltrisikogesellschaft» nur am Rande. Das computergestützte Spielerparadies mit seinen bengalisch leuchtenden Zahlenkolonnen überlässt der ökonomische Aufklärer aus Aarhus der Vorstellungskraft seiner Leser: «Viva Las Vegas!»


Jakob Arnoldi
Alles Geld verdampft. Finanzkrise in der Weltrisikogesellschaft
Aus dem Englischen von Niklas Hofmann.
Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2009. 93 S., 10 €
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