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Megaroman „Europe Central“ - Totalitäres auf Tausend Seiten

Totalitarismus-Theorie in Gleichnissen: William T. Vollmanns gefeierter Megaroman „Europe Central“ verwandelt reale Lebensgeschichten des 20. Jahrhunderts in Literatur

Autoreninfo

Jungen, Oliver

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Wie war das mit Abel und Kain? Der eine, würde William T. Vollmann wohl sagen, ist des anderen Schatten. In einem dreitausendseitigen Schwurbelessay hatte der amerikanische Essayist, Romancier und Journalist sich im Jahr 2003 an der endlosen Fortzeugung von Gewalt und deren pseudomoralischer Legitimation abgearbeitet. Zwei Jahre darauf legte er den jetzt übersetzten Megaroman „Europe Central“ vor, der in immer neuen Anläufen zeigt, wie klein die Differenz zwischen den erbittertsten Gegnern ist; was sie nicht daran hindert, einander zu ermorden.

Die Parabel von der inneren Verwandtschaft der Lenin-Attentäterin Fanny Kaplan und Lenins Ehefrau, welche schließlich in eins fallen: „Ich bin du“, diese Parabel dient nur als Aufwärmtraining für den Tausendseiter mit seinen zahlreichen Korrespondenzen, die in Erinnerung rufen, wie sehr die Gewalt im 20. Jahrhundert zur bestimmenden Größe in menschlichen Interaktionen wurde.

Es steigert den Reiz dieser deutsch-sowjetischen Beziehungsgeschichte zwischen 1914 und dem Kalten Krieg, dass Vollmann zwielichtige Erzähler gewählt hat, die selbst Teil der kollidierenden Systeme sind und den Leser verschwörerisch einbeziehen. Auch wenn die einfühlsam erzählten Lebensausschnitte berühmter Militärs und Künstler wie Dmitri Schostakowitsch, Käthe Kollwitz, Anna Achmatowa oder Roman Karmen akribisch recherchiert sind, gibt der Autor nicht den Historiker: Er scheut weder Pathos noch Drastik und greift dichtend in den Geschichtsverlauf ein. Was die deutsche Perspektive angeht, scheint Vollmann geradezu verliebt zu sein in die nicht eben originelle Nibelungen-Allegorie. Ans Obszöne reicht dagegen die Darstellung nackter Gewalt, was ebenfalls ein Versuch sein mag, in die blinden Flecken der Historiografie das echte Leid wieder einzutragen.

Angewandte Totalitarismustheorie


Die Makrostruktur ließe sich als angewandte Totalitarismustheorie beschreiben. Auf die „moralische Gleichsetzung von Stalinismus und Hitlertum“ wird im Nachwort explizit verwiesen. Exemplarisch für diesen Chiasmus können die beiden größeren Erzählungen in der Buchmitte stehen. Es handelt sich um die arg idealisierend geratenen Porträts zweier führender Militärs, welche zuletzt den suizidalen Befehl verweigerten und nach der Gefangennahme erstaunlich bruchlos für die Gegenseite tätig wurden: General Wlassow, der an der Befreiung Leningrads teilnahm, und Feldmarschall Paulus, dessen 6. Armee vor Stalingrad aufgerieben wurde. Wenn auch keineswegs heroisch, so ist diesen Seitenwechseln etwas Subversives eigen: Sie führen das Fiktive des stalinistischen wie nationalsozialistischen Absolutheitsanspruchs vor Augen.

Weitere Helden kommen in den Blick, Kurt Gerstein etwa, jener Hygiene-Experte der SS, der versuchte, das Ausland über die Massenmorde in Vernichtungslagern zu informieren, sowie Soja Kosmodemjanskaja, eine junge Partisanin, die von den Deutschen öffentlich hingerichtet wurde, nachdem sie einen Pferdestall angezündet hatte. Sie tat einen letzten Ausspruch, den keine Propaganda mehr einfangen konnte: „Ihr könnt nicht hundertneunzig Millionen Russen aufhängen.“ Abstrakte Geschichte gibt es für Vollmann nicht, allein auf Menschenmaß heruntergebrochene. Jede Wahrnehmung ist dabei kontaminiert, oft mit Verzweiflung, im besten Fall mit Liebe –, und hier gilt es literarisch nachzuhelfen. Der Autor bekennt sich zum „Supernaturalismus“, sein Narrativ könnte der Wirklichkeit als Vorbild dienen.

Sowjetischer Komponist als zentrale Figur


Der wichtigste Held dieses Buches ist Dmitri Schostakowitsch. Temperamentvoll stürmt er voran, einzig der Kunst verpflichtet, und handelt sich unter Stalin prompt den lebensgefährlichen „Formalismus“-Vorwurf ein. Doch er arrangiert sich nur notdürftig mit den Verhältnissen und setzt sich durch: ein Beispiel für Integrität. Und nirgends ist Vollmann besser als in der Evokation von Schostakowitschs Kompositionen. Um der Musik ein lebensweltliches Pendant zu geben, weitet er die Affäre mit der bisexuellen Elena Konstantinowskaja, der späteren Ehefrau Roman Karmens, zu einer lebenslangen Liebesgeschichte aus.

Es spricht nichts gegen diese Aufwertung der Liebe, aber einiges gegen die symbolische Überhöhung, Elena gleich zur Verkörperung Europas zu machen. Überhaupt erliegt Vollmann oft der Symbolik, mitunter auch dem Kitsch. Noch schlimmer: Die Auswahl seiner Geschichten wirkt willkürlich, ohne programmatische Notwendigkeit. So hätte man munter weiter Fachbücher wälzen und akkumulieren können. Oder viel stärker raffen.

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