- „Das Ungeheuer“
Terézia Mora hat für „Das Ungeheuer“ den deutschen Buchpreis 2013 erhalten. Im Roman schickt sie ihren Helden auf eine Reise ohne Wiederkehr
Ein Mann. Eine Frau. Er trägt den Namen Darius Kopp, ist Ende vierzig, ein übergewichtiger, Pizza, Fernsehen und mit seiner umstandslos besitzergreifenden Art auch seine Frau Flora verschlingender IT-Mann – dieses Paar kennen wir schon aus Terézia Moras vorigem Roman «Der einzige Mann auf dem Kontinent». Sie, Flora, ist inzwischen seit mehr als einem Jahr tot, sie hat sich in einem Wald erhängt. So ist für Darius alles verloren, was seine Existenz für lange Zeit befestigt hatte: sein Job zuerst, dann seine Frau. Unfähig, nach einjähriger Trauerstarre wieder eine Arbeit aufzunehmen, setzt er sich in sein Auto und fährt los.
Expedition in die Finsterniss einer Depression
Ziellos, wie es scheint, aber nicht ohne Plan: Er will einen Ort finden, an dem er die Asche seiner Frau bestatten kann. Außer dem kleinen Päckchen mit Floras Überresten sind Darius nur Erinnerungen geblieben, die er nun allmählich aus seinem Gedächtnis aufsteigen lässt – und Floras Notate, ursprünglich in verschiedenen Ordnern mit zumeist ungarischen Titeln gespeichert auf ihrem Computer, nun in Darius’ Händen, in Papierform und ins Deutsche übersetzt.
Flora war Ungarin und führte von früh an eine in jeder Hinsicht prekäre Existenz: Die längste Zeit mutterlos aufgewachsen (weshalb die Mutter sie verlassen hat, versucht sie zu ergründen), herumgeschubst, isoliert, kommt sie schließlich nach Berlin. Welche Erfahrungen sie dort gemacht hat – körperlicher wie emotionaler Missbrauch und Ausbeutung im Wesentlichen –, erfahren wir aus ihrer schriftlichen Hinterlassenschaft. Auch, wie sie Darius traf, wie sie einander nahe waren und dann doch zunehmend weniger miteinander verbunden. Wir sehen, wie Flora sich vor Darius zurückzieht in das Häuschen einer Freundin im Wald, wie sie dort auf einem Hof arbeitet, innerlich aber immer weiter abdriftet von allem, was ihr einmal etwas bedeutet hat; vor allem aber wohl von sich selbst.
Floras Aufzeichnungen sind eine Expedition in die Finsternisse einer Depression, zugleich aber der Versuch, die Ursachen ihrer schwärenden inneren Verletzung aufzudecken. Doch das Schreiben hilft nicht, so wenig wie Medikamente und Therapieversuche. Darius, ohne auch nur eine Ahnung davon zu haben, was sich in und mit seiner Frau ereignet, wird dabei von einem Halt zunehmend zur Bedrohung. Die Unmöglichkeit, sich einander wieder anzunähern, gipfelt in einem so tückischen wie hilflosen Vergewaltigungsversuch. Im Jahr darauf setzt Flora ihrem Leben ein Ende.
Das Ungeheuer ist ein Gefühl
Eine Reise an den Ort, wo die Toten sind, ist dieser Roman insgesamt, in seinen beiden Stimmen. Denn auch in Darius, anfangs nur ratlos und getrieben, nimmt jenes «Ungeheuer» Gestalt an, das dem Roman seinen Titel gegeben hat: jenes nach und nach alles durchdringende Gefühl, nirgends in der Welt sich mehr verankern zu können, keinen Ort und schon gar keinen Menschen mehr zu haben, in dessen Gegenwart man einigermaßen beruhigt sein könnte.
Während Darius von Berlin nach Ungarn unterwegs ist – und von dort ins ehemalige Jugoslawien, weiter nach Albanien, dann nach Bulgarien, nach Istanbul, schließlich via Armenien nach Athen –, mal in Begleitung des Mädchens Oda, das ihn an Flora erinnert, dann mit dem genialen Schnorrer und Weltreisenden Doiv, liest er Floras Aufzeichnungen. Bewundernswert ist hier zu sehen, wie Terézia Mora zwei ganz unterschiedliche, auch zeitversetzte Bewegungen in ein immer engeres Verhältnis bringt: Kopps rasende Fahrt und den Abstieg Floras aus der Außen- in die Innenwelt, immer tiefer hinein in die seelische Krankheit, der sie sich tapfer widersetzt, der sie schließlich aber nichts mehr entgegenhalten kann.
Terézia Mora fordert den Leser auf jeder Seite
Mit Darius Kopp jagen wir auf der oberen Hälfte jeder Buchseite von Land zu Land, auf der unteren sind Floras Notate ihrer Reise ins Herz der Finsternis zu lesen. Das ist durchaus anstrengend zu verfolgen – der Leser ist gefordert, von Seite zu Seite zwei Geschichten parallel im Kopf zu behalten. Doch nur so kann Terézia Mora erzählen, was sich ganz allmählich als die eigentliche Geschichte herausstellt: eine Infektion zum Tode, die sich der dumpffreundliche Darius während seiner Lektüre zuzieht. Denn obwohl er in seinem Reise-Furor nicht einhält, verwandelt er sich Schritt für Schritt in jemanden, der allmählich den Kontakt zur Welt verliert: eine Ansteckung durch Lektüre, durch Nach-Fühlen. Am Ende sitzt er im Flugzeug, unterwegs zum Ätna. Will er Floras Asche dort hineinstreuen? Oder will er sich selbst, wie es die Legende vom Philosophen Empedokles erzählt, mit ihr zusammen dort hineinstürzen?
So meisterlich und tief beklemmend hat Terézia Mora ihren Roman bis an diesen Punkt vorangetrieben, dass kein Zweifel bleibt, dass wir hier Kopp auf seiner letzten Reise sehen.
Terézia Mora: Das Ungeheuer, Luchterhand, München 2013. 688 S., 22,99 €
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