- Von der Luxuskarosse zum E-Bike
Wie die Gesellschaft sich verändert, wandeln sich die Statussymbole. Wo früher Mercedes und Rolex herhalten mussten, signalisiern heute Öko-Produkte und hohe Mieten, wie weit es jemand gebracht hat. Selbst Kinder gelten als Aushängeschild
Die Recherche zu diesem Artikel führte mich durch einige der schönsten Orte Deutschlands, durch Orte, die mit der deutschen Romantik in Verbindung stehen, sogar durch deren Herz, das Saaletal. Hier, wie in Radebeul bei Dresden, locken zum Fluss hin sanfte Hänge, mit Wein bepflanzt, inmitten der Frühlingssonne. Ich war froh, dass ich mit dem Zug unterwegs war und nicht mit Auto oder Flugzeug. Mir wäre das Grün an den Rainen sonst vollkommen entgangen. Wahrer Luxus wäre gewesen, die Strecke zu laufen, aber dazu fehlte mir die Zeit, das kostbarste Gut überhaupt.
Vor einigen Jahren kauften Studenten unter Aufbringung all ihrer finanziellen Moglichkeiten ein Auto. Es war ein Ausweis von Freiheit. Auf dem Campus der Frankfurter Universität gab es eine studentische Autovermietung, die mit einem Wochenendangebot warb, das "Kleine Fluchten" hieß, einen Opel Kadett enthielt und eine gewisse Anzahl Kilometer. Man hatte es damit knapp bis Italien geschafft, oder zur Oma in den Schwarzwald und wieder retour. Einige jener, die damals davon Gebrauch machten, bekleiden heute hohe Ämter. Einen Kommilitonen, er lehrt nun an einer Privathochschule fur Juristen, sah ich kürzlich als Sachverständigen zur US-Wahl in der Tagesschau.
Damals, Ende der neunziger Jahre, saßen ein paar Freunde und ich während einer Party im Leipziger Westen gelangweilt um einen Küchentisch und überlegten, was wir mit uns und unserer Zeit anfangen sollten. Zum Glück hatte einer von uns ein Auto dabei, einen Renault mit Göttinger Kennzeichen. Dieses Fabrikat hatte ich oft an Tankstellen gesehen. Immer dieselben Kasten, immer Göttinger Kennzeichen und immer drei ältere Studenten mit Lederhosen, die in der Tankstelle eine mittelgroße Toblerone kauften. Wir fuhren also zu dritt nach einem Zwischenstopp an der Tankstelle nach Rügen. Denn ich hatte damals zur Rettung des Abends einen Vater beizusteuern, der auf Rügen eine Pension betreibt und zu dem wir nun flohen.
So hatten wir uns von den Eltern einen ordentlichen Status zusammengeliehen. Heute müsste ich, um meinen damaligen Vorstellungen zu genügen, eine statusgemäße Nickelbrille tragen und mit einem Füllfederhalter schreiben. Aber beides hatte ich mir schon in der späteren Jugend zu- und kurze Zeit darauf wieder abgelegt. Statussymbole verweisen eher auf einen Status, den man einnehmen will, als auf den, den man hat, und sie sind nicht immer praktisch. Man denke nur an die Halskrausen auf holländischen Barockgemälden. Die Ostsee ist heute immer noch Ziel vieler gelangweilter Berliner oder erholungssuchender Kreativer, aber kaum einer hat noch ein eigenes Auto. Auch deshalb sind die WG-Zimmer karger und individueller geworden, denn wie will man ohne Auto zu Ikea fahren?
Mit der Abkehr vom Statussymbol Auto werden wir eines Tages gewaltige ökonomische Probleme bekommen. Das Auto ist eine Triebfeder der deutschen Wirtschaft. Und letztlich ist es für diese ein Glück, dass der jugendliche, kreative und autoskeptische Mittelstand derzeit nur den lautesten, buntesten und mithin sichtbarsten Teil der Gesellschaft ausmacht. Die Zeitung meldete Ende April einen Gewinneinbruch bei Daimler mit einem Foto des bedrückt dreinblickenden Vorstandsvorsitzenden Dieter Zetsche.
Die Ökonomen führen derartige Vorgänge auf Konjunkturschwankungen zurück. Aber warum schwankt die Konjunktur? Wo kommen die Veränderungen her? Europa ist schon lange nicht mehr der boomende Wachstumsmarkt der Branche, asiatische Firmen beginnen, ihre eigenen Produktlinien zu entwickeln. Dacia hat das erkannt und wirbt mit Understatement. Der Dacia sei das Statussymbol für alle, heißt es, die kein Statussymbol brauchen. Im Werbetrailer packt Mehmet Scholl eine Gruppe von Jungen, die auf der Wiese Fußball gespielt haben, in einen Kombi der Billigmarke. Geschickt werden Kinderreichtum, Fußball und elterliche Fürsorge zu einem Paket verschnürt. Mehmet Scholl wird zur Symbolfigur des Mittelstands.
Andererseits verzeichnet die Fahrradindustrie geradezu asiatische Zuwachsraten. Laut dem Auto Club Europa (ACE) nutzen mittlerweile 1,3 Millionen Deutsche Elektro-Fahrräder. Diese Zahl hat sich seit 2010 knapp verdreifacht. Der Umsatzanteil von E-Bikes am gesamten Fahrradmarkt stieg auf 10 und könnte bald 15 Prozent aller neu verkauften Räder betragen. Schon 2012 legte Daimler sein serientaugliches „smart ebike“ vor. Für dessen Entwicklung hatte der Konzern die Berliner E-Bike-Schmiede Grace mit an Bord geholt. Ein untrügliches Zeichen für den Wandel ist auch, dass heute sowohl Aldi-Süd als auch Aldi-Nord Elektrofahrräder vertreiben.
In der Nähe von München, in Großhelfendorf bei Aying, besuche ich die Firma M1 Sporttechnik. Herr Schmid, ein jüngerer Mann, unglaublich freundlich und gut gelaunt, Marketingleiter bei M1, empfängt mich im Vestibül eines modernen Bürogebäudes. Er ist in Eile, denn die Firma beteiligt sich an zwei großen Messen, in Schanghai und in Halle/Westfalen, um ihre Carbonräder und E-Bikes vorzustellen.
Es sind Produkte im höheren Preissegment, sie nähern sich finanziell dem Kleinwagen, und wenn man bedenkt, dass eine vierköpfige Familie vier Fahrräder braucht, sind wir schnell bei den Kosten für einen Mittelklasse-PKW.
Das Wort E-Bike ließ mich bislang an wohlhabende Rentner denken. Die Produktlinie der Firma M1 belehrt mich eines Besseren. Auch die Elektroräder sind schnittige Fahrzeuge mit sportlicher Optik. Es gehe darum, erfahre ich, dem weniger Trainierten das Mithalten zu ermöglichen. Wenn Paare aus einem Sportler und einem Nichtsportler bestehen, soll Letzterer mit Ersterem auf gleicher Höhe fahren
können.
Die Firma hat sich für den Stammsitz die passende Gegend gewählt, ein Idyll, das von zahlungskräftigen Mittelständlern bewohnt wird. Schmids Augen leuchten, als ich ihn darauf hinweise. Wenn es nicht so neblig wäre, könne man die Gipfel der Alpen sehen. Dabei hat er in Maastricht studiert, in den Niederlanden, dem Fahrradland schlechthin. Dort kaufe man nur einmal im Leben ein Fahrrad, sagt er, und
nachdem es gestohlen wurde, stiehlt man selbst. So könnte auch die Aufhebung des Eigentums durch Sozialisierung verlaufen. Davon aber sind wir weit entfernt. Allein ein Fahrradschloss kostete mich jüngst 60 Euro.
Herr Schmid betont die ökologische und verkehrspolitische Dimension des neuen Statussymbols Fahrrad. Ein Fahrrad ist in einer verstopften Innenstadt weniger Möglichkeit als vielmehr Bedingung eines zügigen Fortkommens. Zudem gewährleistet das Fahrrad im Gegensatz zum Auto dieSichtbarkeit seines Besitzers; er verschwindet nicht im Bauch, sondern schwingt sich beherzt als Herrscher auf den Sattel, ist eher stolzer Reiter denn Fahrer, kein Angestellter mehr, kein Chauffeur. Ein Fahrrad signalisiert Freiheit und Überlegenheit.
Die Alleen der blühenden Apfelbäume sind bevölkert mit radelnden Mittvierzigern. Verwegenheit ist ihnen kein Wert mehr, sie tragen schicke Fahrradhelme und achten darauf, dass auch die Kinder sich wappnen. Eine solche Szene kann man in den Weinbergen um Meißen oder im Saaletal täglich beobachten.
Weinanbau ist ein Statussymbol für eine privilegierte Gegend. Wo Wein angebaut wird, lebt es sich gut. Das führte zum Beispiel dazu, dass es eine Marke gibt, die von Reblingen stammt, die auf dem Südhang eines ehemaligen Tagebaus angepflanzt wurden. Auf ihrem Etikett prangen die gekreuzte Spitzhacke und der Hammer: „Blauer Steiger vom Geiseltalsee“. Benachbart sind die Saale-Unstrut-Gebiete. Aber auch Brandenburg winzert inzwischen, zum Beispiel im Weingut Welzow.
Aus Weinanbaugebieten haben sich in den vergangenen 20 Jahren exklusive Wohngebiete entwickelt. Radebeul bei Dresden hat die höchste Millionärsdichte Deutschlands. In Radebeul zu wohnen, bedeutet enormen Statusgewinn. Vor dem May, der sich eben dort seine „Villa Bärenfett“ errichten ließ. Die Einnahmen aus seinen Büchern ließen es zu, und sie ließen auch zu, dass er im Alter Reisen in einen Teil jener Gegenden unternehmen konnte, die er zuvor in seinen Büchern beschrieben hatte. Ein Zeichen des Niedergangs des Autos als Statussymbol ist es wahrscheinlich auch, dass der Bahnhof von Radebeul gerade saniert wird, der über die Jahre vor sich hin verfiel.
Mit Karl May wird jemand beschrieben, der zu seinen Lebzeiten den Kampf um Statusgewinne erfolgreich bestanden hat. Der sich herausarbeitete aus der Kleinstadt Hohenstein- Ernsttal und der Kleinkriminalität, der Gefängniserfahrungen machte, sich dem Leben als Genießender hingab und schließlich imstande war, seine Individualität auszukosten. Er verwuchs mit den Insignien guten Lebens, wurde selbst zum Symbol einer mitteleuropäischen Werteordnung. Und er machte jene Reisen, von denen er jahrelang geträumt hatte, wandelte auf den Spuren Kara ben Nemsis und fuhr mit dem Orientexpress. Die Beziehung von Karl May zu seinen Figuren ist ein Gleichnis zum Statussymbol: Der Autor träumte sich in eine Rolle, die er literarisch ausführte und schuf sich gerade so die Mittel, diese Rolle im realen Leben einzunehmen.
Wer es nicht schafft wie May, seine Träume als Bestseller zu verkaufen, oder in den angestrebten Status hineinzuwachsen, fällt zurück. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu beschreibt diesen Vorgang in seinem Werk „Die feinen Unterschiede“ als soziales Altern; es gibt demnach kein Stehenbleiben auf der Status-Treppe. Wer sich nicht nach oben fortwährend verjüngt, rutscht ab. „Soziales Altern“, so Bourdieu, „stellt nichts anderes dar als diese langwährende Trauerarbeit oder, wenn man mag, die gesellschaftlich unterstützte und ermutigte Verzichtsleistung, welche die Individuen dazu bringt, ihre Wünsche und Erwartungen den jeweils objektiven Chancen anzugleichen.“
Die ironische Aufzählung der drei dominierenden Statussymbole Haus, Boot und Auto in einem Werbespot der neunziger Jahre gilt heute nur noch bedingt. Während in abgeschiedenen ländlichen Gebieten die Grundstücks- und Immobilienpreise verfielen oder zumindest stabil geblieben sind, explodierten sie in den Ballungsräumen und Großstädten. München zum Beispiel, berichteten unlängst Makler, kennt„Fantasiepreise mit irrwitziger Dynamik selbst in schlechter Lage“. So wird neben dem Haus selbst die Mietwohnung zum Statussymbol. „Wir haben historische Höchstpreise“, wird Stephan Kippes, der Leiter des IVD-Marktforschungsinstituts, in der Süddeutschen Zeitung zitiert. Die Preise für neu gebaute Eigentumswohnungen haben erstmals die 5000-Euro-Grenze erreicht – pro Quadratmeter. Wer sich in München oder Hamburg etwas leisten kann, hat es im Grunde geschafft. Dort trennt sich die Spreu vom Weizen – und wer herausgehoben wohnt, will herausgehoben einkaufen.
In München eröffnete deshalb im April 2013 die „Maison Louis Vuitton“. Eine Kultmarke der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts kehrt zurück und lädt im Herzen des Reichtums in ihren Tempel. Anonyme und gesichtslose Warenhäuser waren gestern, heute erlebt jene Einkaufskultur eine Renaissance, die Walter Benjamin in seinen „Pariser Passagen“ beschrieb: „Zu beiden Seiten dieser Gänge, die ihr Licht von oben erhalten, laufen die elegantesten Warenläden hin, sodass eine solche Passage eine Stadt, ja eine Welt im Kleinen ist.“
Beate Klingenberg, Geschäftsführerin von Louis Vuitton Deutschland, ist die Herrin eines solchen Paralleluniversums. Sie sagt: „Der Luxusbereich hat sich schon immer durch ein außergewöhnliches Einkaufserlebnis in entsprechender Umgebung ausgezeichnet und dies verbunden mit einem außergewöhnlichen Service – denken Sie nur an die Ateliers der großen Couturiers des 19. oder 20. Jahrhunderts.“ In diesem Bereich will das Statussymbol nicht nur Zeichen der Gruppenzugehörigkeit sein, sondern darüber hinaus die Individualität
der Trägerin betonen. „In der neuen Maison in München“, so Klingenberg, „bieten wir erstmals in Deutschland den sogenannten ‚Haute Maroquinerie‘-Service an, der es Kunden ermöglicht, eine Tasche von Louis Vuitton aus verschiedenen Formen, Lederarten und Größen nach eigenen Vorstellungen selbst zu kreieren.“
Ein Fehler wäre es jedoch, Luxus und Statussymbol in eins zu setzen. Es gilt zu unterscheiden zwischen der Uhr, die man trägt als bloßen Schmuck, und jenem Instrument, welches die Zeit vorschreibt und den Rhythmus anzeigt. Als Luxusobjekt muss die Uhr gar nicht unbedingt präzise funktionieren, tut es aber meist, weil die Präzision, die sich aus der Bearbeitung erlesener Materialien ergibt, auch die Schönheit eines Gebrauchsgegenstands ausmacht. Und ihr Käufer hat einen Blick für die Besonderheiten der Mechanik, für die Restlaufzeitanzeige der „Lange 01“. Er kauft die Uhr aus Liebe zum Detail.
Luxus überschreitet die Grenzen des Gewöhnlichen und des Notwendigen gleichermaßen. Außerdem, weiß Bourdieu, ist da „kein materielles Erbe, das nicht zugleich auch kulturelles Erbe ist“. Die Funktion des Familienbesitzes beschränke sich keineswegs auf die „bloße sachliche Bestätigung der Anciennität und Kontinuität des Familiengeschlechts und … auf die … Anerkennung ihrer gesellschaftlichen
Identität“. Jedes private Gut, heißt das, ist immer auch Produkt der Kultur, in der es entstand.
In München, wohl der deutschen Hauptstadt des Luxus schlechthin, erscheint auch ein Magazin für die stillen Genießer. Man ist auf Diskretion bedacht und verzichtet auf Außendarstellung. Hier wird zum Beispiel über soziales Engagement berichtet, das es nicht nötig hat, an die große Glocke gehängt zu werden. Diskretion als Statussymbol scheint paradox, aber dennoch drückt es einen Stand aus, der sich jenseits der Bestandssicherung bewegt. Unauffällig wie eine Eule im alten Baumbestand des Nymphenburger Parks. Es geht dabei nicht nur um Genuss, sondern auch um sichere Reproduktion des eigenen Wohlstands. Und so können sich zum Beispiel auf den ersten Blick waghalsige Anlagen in Afrika durchaus als sichere Zukunftsinvestitionen erweisen.
Luxus wird in der Regel erst dann zum Statussymbol, wenn er ausgestellt wird. Im Gegensatz zum Luxus ist das Statussymbol ein Signal, das sich nach außen richtet. Vergleichbar einem Label, zeigt es die Zugehörigkeit zu einer Gruppe an, verkündet den Status des Trägers in der Gesellschaft, jenen, den er tatsächlich innehat, oder jenen, den er meint innezuhaben, oder jenen, den er anstrebt. Man muss nicht im Einzelnen mit der Gruppe identisch sein, man muss aber nach außen die Zugehörigkeit anzeigen, um zugerechnet zu werden.
Wenn man als Bahnangehöriger verkleidet über einen Bahnhof ginge, würde man nach Rat gefragt, um Auskunft gebeten hinsichtlich Abfahrtszeiten, Wagenreihung, Gepäckmitnahme. So funktionieren Statussymbole: Sie bilden die Struktur einer Gesellschaft ab, zeigen Zugehörigkeiten an, schaffen aber nur bedingt Identitäten. Darüber hinaus unterliegen die Statussymbole wie die Gesellschaft selbst einem Wandel, sie sind dynamischer als bloße Luxusobjekte.
Wenn es vor 20 Jahren noch außergewöhnlich war, einen Geschäftspartner beim Sushi zu treffen, so würde dieses Ansinnen heute ein müdes Lächeln entlocken, sind doch Sushilokale inzwischen so außergewöhnlich wie Bockwurststände. Deutsche Küche taugt hingegen wieder als verbindendes Statussymbol, wenn sie nur angemessen modern ist, das heißt entzuckert und entfettet und mit Produkten aus biologischem Anbau.
Statussymbole sind geschmeidig. Sie passen sich den gesellschaftlichen Gegebenheiten an. Zielwerte werden rasch durch neue ersetzt. Das Auto kann nur dann Statussymbol sein, wenn Schnelligkeit, gepaart mit Individualität, das erstrebenswerte Ziel ausmacht. Individualität blieb attraktiv bis heute, aber Schnelligkeit wurde im 21. Jahrhundert durch Entschleunigung ersetzt und Individualität an Gesundheit gekoppelt, an einen enormen ökologischen Anspruch.
Ein Informatikingenieur, den ich kenne, arbeitet für eine Softwarefirma und muss Deutschland, Europa, zuweilen auch Amerika durchqueren, um Computersysteme zu betreuen. Privat fährt er einen Kombi aus dem einzigen Grund, weil sein Rennrad in den Fond passt. Sonst wäre er, obwohl Top-Verdiener, mit einem Kleinwagen unterwegs. Allerdings muss es ein veritables Rennrad sein, sonst könnte er auf eines der gemächlichen neuen Falträder zurückgreifen oder auf das M1 Secede, das E-Bike mit teilbarem Rahmen, das in den Kofferraum eines Kleinwagens passt. Das Auto ist lediglich das Gehäuse für das eigentliche Statussymbol, das teure Rennrad.
Mein Freund, der Informatikingenieur, und ich sind heute fast 50 Jahre alt, fühlen uns fit wie 20, ernähren uns ökologisch mit Tendenz zum Veganismus und sind bekennende Europäer. Unsere Kinder besuchen nicht notwendig das Gymnasium, obwohl wir es uns wünschen, und unter unserem Kopfkissen liegt der Bestseller des Fernsehphilosophen Richard David Precht, in dem er uns die Misere des deutschen Bildungssystems erklärt. Der mündige Bürger liebt nichts so sehr, als über sich, seine Zukunft und die Zukunft seiner Kinder nachzudenken. Bildung wird immer ein Statussymbol bleiben. Das dreigliedrige Schulsystem hat die Tendenz, soziale Unterschiede zu manifestieren. Die Vorstellung Prechts, man könnte eine Einheitsschule zur bindenden Form machen, führt in die Irre.
Prechts Modell, das er wie jeder Bildungsbürger mit Humboldt begründet, verfestigt letztlich die Verhältnisse. Klassische Bildung, wie er sie verlangt, führt geradewegs zu einer elitären Persönlichkeit, wie Precht selbst sie darstellt. Diese Form der Bildung ist autoreferenziell und somit Statussymbol, weil sie nur in jenen Schichten funktioniert, die ihr Wissen in Bücherwänden aufbewahrt, im Arbeitszimmer des Vaters. Precht tappt in die Statusfalle. Indem er sich selbst verabsolutiert, verabsolutiert er die Struktur, die ihn hervorgebracht hat.
Zunächst scheint es merkwürdig, Kinder als Statussymbol zu betrachten, aber noch merkwürdiger ist, dass bei allgemein zurückgehender Geburtenrate sich bestimmte Stadtviertel durch ihren Kinderreichtum auszeichnen. Was in Berlin der hierfür berühmte Stadtteil Mitte, ist in Leipzig das Viertel Schleußig. Auf engem Raum gibt es Spezialgeschäfte für Umstandsmode, Kindermode und Spielwaren, eine Krimibuchhandlung, ein Geschäft für Naturseife, die International School und einen florierenden Bioladen. Selbst der Spätverkauf bietet Windeln und eine große Auswahl biologischer Lebensmittel an.
Bezeichnend für die hiesige Population ist das Fachgeschäft für Kinderbekleidung „Grünschnabel“, ausdrücklich „für kleine und große Weltverbesserer“. Es wirbt mit „fair“ produzierten Kinderklamotten. Was bezweckt die Kundschaft mit dem Einkauf gerade in diesem Geschäft? „Ja, natürlich“, antwortet mir eine Frau, die ohne Kind, aber mit zwei Kindersitzen am Fahrrad zum Laden kommt, als ich sie frage, ob sie mit dem Einkauf hier wirklich die Welt verbessern könne. So etwas hat natürlich seinen Preis. Ein Geschäft, das T-Shirts in der Kindergröße 104 für mindestens 30 Euro anbietet, wäre im sozial schwachen Leipziger Osten längst pleite. Diese regionale Aufteilung sorgt dafür, dass sich die Bewohner entsprechender Stadtteile auch im Urlaub an den Kleideretiketten erkennen können. So wird Durchmischung verhindert.
Wer hier wohnt, muss lärmresistent sein, nicht nur wegen des Kinderlärms. Mütter und Väter, die ihre Kinder bei der Tagesmutter abgegeben haben, führen vor meinem Fenster gerne Gespräche von einer Länge, dass ich mich manchmal in ein proletarisches Viertel sehne, in dem am Tage Ruhe herrscht und in der Nacht natürlich auch. In einer Fußnote in seinem Hauptwerk „Das Kapital“ schreibt Marx, dass der gesellschaftliche Reichtum sich im Reichtum an Freizeit ausdrücke. Schon im 19. Jahrhundert führte der wohlbestallte Pariser Flaneur seine Schildkröte spazieren, und auch heute wird öffentliche Freizeit mehr und mehr zum Statussymbol. Die städtischen Parks sind wochentags gefüllt mit wohlangezogenen Bürgersleuten, Eltern stehen stundenlang vor meinem Fenster und reden.
Dieselben mitteilungsbedürftigen Eltern übrigens treffen sich am Sonntag vor der evangelischen Kirche. Ein Bau, der in den Dreißigern vielleicht Avantgarde war, heute eher an eine Festung gemahnt, platzt am Sonntag aus allen Nähten. Ein junger Pastor verabschiedet nach dem Gottesdienst die Gemeinde, die Mütter und Väter holen noch schnell den Nachwuchs aus dem Kindergottesdienst. Der Mittelstand orientiert sich an einer gewissen Biedermeierlichkeit, Kinder, Küche, Kirche erhalten eine ganz neue Bedeutung, taugen zum frei gewählten Statussymbol einer urbanen Elite. Man liest wieder Eichendorff, der schon der Eisenbahn misstraute, weil sie ihm zu laut und zu schnell war. Wer es sich leisten kann, flieht aus der Zeit. Solche kleinen Fluchten sind das begehrteste Statussymbol überhaupt.
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