- Sex, Aufklärung – Bevormundung
Kolumne: Zwischen den Zeilen. Ratgeber funktionieren immer. Besonders, wenn Sex im Spiel ist. Doch sie nerven, weil sie uns glauben machen, die Perfektion sei möglich
Der Beruf des Sexologen gehört wohl zu den drei Berufen, neben Maklern und Society Experten, die nun wirklich kein Mensch braucht. Das wissen wir spätestens seit eine Sexpertin im Auftrag des MDR durch Berlins Straßen irrt, Passanten nach ihrem Liebesleben befragt und das Unwissen der Befragten dann mit mitgebrachten Studien verifiziert.
„Make Love“ heißt die Doku, die sich dem Sexualleben der Deutschen widmet. Bis ins letzte technische Detail wird erklärt, wie Mann Frau befriedigt und umgekehrt. Aber polemisch gefragt: Wenn eine Gesellschaft selbst zum Ficken zu doof ist, hat sie es dann nicht verdient auszusterben?
Ratgeber nerven. Es sind Bevormundungsdienstleistungen verpackt in pädagogisch meist gutgemeinte Services. Wenn alles durchdekliniert wird, bleibt wenig Raum für die eigene Fantasie. Wenn die Politik, wenn der Staat, belehrend in die Welt des Individuums einzugreifen versucht, wird der Staatsbürger zu Recht misstrauisch. Doch das Misstrauen des Bürgers endet in dem Moment, da er als Konsument in vermeintlich freier Entscheidung als Marktteilnehmer aufzutreten beginnt. Hier kann er gar nicht genug bekommen – von Anweisungskonzeptionen. Es wird konsumiert, was den Menschen Richtung gibt. Überwürzt mit Sexualität ist der Verkauf gesichert.
Penisneid triff Küchenpsychologie
Und es sind wirklich erstaunliche Erkenntnisse, die bei „Make Love“ zu Tage treten: „Kaum eine Frau erkennt sich wirklich da unten.“ Wundert sich die Sexologin bei einem Tässchen Kaffee. Bei Jungs sei das anders, sagt sie: Dort gebe es Penisvergleiche, Weitwichsen und so. Frauen machten so etwas überhaupt nicht. Zwischenfrage: Ja wie sollten sie auch?! So ganz ohne Penisse. Die Sexologin führt fort: Jungs seien quasi von Natur aus bevorteilt, müssten ihren Penis schließlich in die Hand nehmen, wenn sie pinkelten. Auch das noch: Penisneid trifft Küchenpsychologie.
Dann eine Botschaft, bei der man die Männer am heimischen Fernsehgerät regelrecht aufatmen hört: „Da der empfindsame Bereich der Vagina vorne liegt, kann auch ein kleiner Penis ausreichend stimulieren.“
Schließlich werden dem Zuschauer Jessica und Olli vorgestellt. Das Problempaar der Sendung. Denn: Sie haben nur alle drei Monate Sex. In einem Gespräch vertraut Jessica der Sexologin an, was sie an Olli stört: „Seine Art der Orientierung ist sehr zielorientiert.“ Mit anderen Worten: Olli ist ein fieser Grabscher.
Schnitt. Wie zwei orientierungslose Mallorcaurlauber auf Usedom starren Olli und Jessi auf ein mitgebrachtes Vaginabild. Ach was, das ist die Perle?, aha, ja, so sieht das aus, oho. Dann holt die Sexologin die „Mösette“ raus. Eine überdimensioniertes Schamlippen-Muschi-Modell zur besseren Veranschaulichung. Und während Olli eigentlich längst auf die Sexologin scharf ist, weil die die ganze Zeit vor seiner Nase Beckenübungen simuliert, muss er jetzt ran an die Gummi-Mösette und zeigen, was er alles so falsch macht. Einmal im Monat. Bei Jessi.
Doch Olli ist hellwach: Die Riesenmuschi in der Hand, gesteht er: die äußeren Schamlippen habe er nie großartig beachtet. Dass sich der Rest da auch verändere, sei ihm nicht bekannt. Olli atmet durch.
Wo liegt was und wie könnte man(n) es anfassen? Viel Theorie für Olli. Vielleicht sollte er mitschreiben. Doch nicht genug, die Expertin geht in die Verlängerung: Es geht nämlich darum, den Beckenboden bewusst zu finden. Und während ich das fleißig mit tippe, glitscht schon wieder ein schrumpeliger Männerpenis durchs Bild. Danke MDR.
Die Botschaft der Sendung: Liebe machen kann man lernen. Ja, vielleicht. Nur, was diese und ähnliche Sendungen vermitteln, ist noch etwas viel entscheidenderes: Sie suggerieren die Möglichkeit vollendeter Zufriedenheit. Du musst nur dein Leben ändern.
Im Sex-Doku-Fall heißt das: Es gibt sie, die sexuelle Zufriedenheit auf Lebenszeit. Ihr müsst halt nur mehr Knöpfe drücken, mehr miteinander reden, blablabla. Schlimmer noch: Sie machen uns glauben, die Perfektion sei möglich. Man müsse sich nur tüchtig anstrengen und ein paar Regeln befolgen. Das Fehlerhafte im menschlichen Wesen wird quasi privatisiert und individualisiert.
Es ist die immer gleiche Botschaft der Diplom-Bevormunder: Wenn dir was fehlt, ändere dich, es gibt das Vollkommene, DU machst was falsch. Als gebe es für alles eine Lösung. Gibt es nicht!
Mission: erfülltes Sexleben nach Rezept
Pornografie funktioniert im Übrigen auf der gleichen Ebene, hat denselben missionarischem Kern: Sie reduziert Sexualität auf einen technischen Ablauf zur Betäubung der eigenen Geilheit. Oralverkehr, Stellungswechsel, Nähmaschine von vorne, Stellungswechsel, von hinten, Stellungswechsel, Ejakulation, fertig. Sexualität als Disziplin.
Abwechslung wird zur Pflichtveranstaltung. Gleich einem Zehnkampf werden Muster abgespult und abgehakt, die als vorgefertigtes Bild in unser aller Köpfe spuken. Das erfüllte Sexleben nach Rezept. Der Mann als testosterongeladen Fickmaschine, die Frau als devot-konsumierendes Gefäß.
Und doch ist auch dieser Ansatz, Bevormundung als bevormundend zu kritisieren, irgendwie bevormundend. Also lassen wir es.
Was ist denn auch so schlimm daran, Einstellungen zu konsumieren, wo doch der innere Kompass in einer in Beliebigkeit ertrinkenden Welt zu viele Pole gleichzeitig ansteuern muss. Kein Wunder also, dass wir dankbar sind für jede Haltung, jede Warnung, jeden Hinweis, jeden Service.
Geschäftsmodell: Ratgeber reduzieren beängstigende Wahlfreiheit
Deshalb lassen wir uns vermutlich auch so gerne bevormunden. Vermutlich weil es zu viele Möglichkeiten gibt. Der Psychologe Barry Schwartz nennt das „Paradox of choice“. Maximale Freiheit basiert nur scheinbar auf maximaler Auswahl. Denn ein Zuviel an Möglichkeit, ein Zuviel an Auswahl, ein Zuviel an Freiheit hat letztlich den gegenteiligen Effekt und lähmt.
Zu viele Wahlmöglichkeiten machen das Leben unüberschaubar, davor will sich die Psyche schützen. Der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer sagt, die moderne Psyche sei stark von der Angst vor falschen Entscheidungen geprägt. Je mehr Wahlmöglichkeiten man habe, desto mehr falsche Entscheidungen könne man letztlich auch treffen. Im Umkehrschluss hieße das: Vermindern sich die Wahlmöglichkeiten, vermindert sich die Angst, vielleicht nicht die bestmögliche Auswahl zu treffen.
Das Leben zu vereinfachen, hieße also aktiv auf eine maximale Wahlfreiheit zu verzichten.
Ratgeber setzten genau hier an. Sie schränken das Maximale ein. Aber zur Wahlfreiheit gehört eben auch ganz bewusst und aus innigster Überzeugung die Freiheit zur falschen Entscheidung. Und die sollten wir doch bitteschön jedem selbst überlassen.
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