- Schöne lila Farbe
Kein 68 ohne Frauen: Alle sprechen von den Männern um Rudi Dutschke, aber wer kennt die Kämpferinnen von damals? Auf der Suche nach einem Nicht-Buch
Es sollen drei gewesen sein, oder sechs. Sicher ist, dass zumindest eine Tomate am Kopf des Frankfurter SDS-Funktionärs Hans-Jürgen Krahl zerplatzte, geschleudert von einer hochschwangeren Studentin. Helke Sander vom «Aktionsrat zur Befreiung der Frau» hatte dazu aufgerufen, die Machtverhältnisse im Sozialistischen Deutschen Studentenbund zu diskutieren: Warum klagten die Vertreter der Studentenbewegung den Imperialismus, die USA, ihre Nazi-Eltern oder die repressive Bundesrepublik an, ohne dabei ihre eigene repressive Rolle als Männer und Väter in Frage zu stellen? Der griffige Flugblattjargon der Zeit ging noch weiter und empfahl, «die sozialistischen Eminenzen von ihren bürgerlichen Schwänzen» zu befreien. In feministischen Kreisen ist die Tomatenwurf-Aktion legendär, aber im kollektiven Rebellionsgedächtnis hat sie es nicht unter die Top 5 geschafft. Vielleicht nicht mal unter die Top 20. Und dabei war 1968 doch auch der Urknall für ein neues Geschlechterverhältnis, für die Zerstörung der alten patriarchalischen Familienstrukturen, für die Utopie vom befreiten Sex.
Am Anfang gehörte das für einen winzigen Moment alles zusammen: die sexuelle Revolution und ein Rollenverständnis, in dem Ausbeutung und Unterdrückung beseitigt sind. Aber schon in der zweiten Sekunde nach dem Urknall war klar, dass die Wünsche nach befreitem Sex und befreiten Frauen nicht zur Deckung zu bringen sind. Am schönsten, gemeinsten und treffendsten hat das Jean-Luc Godard schon 1967 auf den Punkt gebracht, in «La Chinoise»: Eine kleine Gruppe junger Revolutionäre, Männer und Frauen, lebt in einer Wohngemeinschaft zusammen, studiert die Mao-Schriften und trainiert Politsprech. Wenn das Geld knapp wird, bittet man eine der Frauen mit peinlich berührtem Lächeln um Abhilfe. Und die geht dann kurz mal auf den Strich.
Demonstrantinnen und Drogenbräute
Weil die Theorie nicht mit der geschlechtsspezifischen Praxis zu vereinbaren war, richtete sich die neue Frauenbewegung nach 1968 auch gegen die Kommilitonen im SDS. Zuvor aber hatten die Studentenfunktionäre die politischen Erfolge für sich verbucht. Über Rudi Dutschke, Fritz Teufel, Dieter Kunzelmann, Gaston Salvatore oder Daniel Cohn-Bendit liest man überall etwas. Sigrid Fronius, Helke Sander oder Sarah Haffner sind nicht ganz so präsent; am ehesten noch Gretchen Dutschke, Rudis Ehefrau und Biografin. Während sich die Männer nach dem Che-Modus in Ikonen der Rebellion verwandelten, halten sich für die 68erinnen bis heute ziemlich genau zwei Klischees: sexy Demonstrantinnen und Drogenbräute. Aber daraus lassen sich keine Ikonen formen.
Tatsächlich findet sich im aktuellen Publikationsrausch nicht ein Buch, das 1968 als Keimzelle des weitreichendsten, die Erbschaft von Jahrtausenden irritierenden Ereignisses untersuchen würde: der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Man mag es hier mit einem vom gegenwärtigen Backlash gepeinigten Projekt zu tun haben; aber in Wahrheit werden all die hochfahrenden Weltveränderungstheorien zwischen Maoismus und Antiimperialismus von der realen Umwälzung des Geschlechterverhältnisses in den Schatten gestellt. Das Jahr 1968 hat nicht nur ein rotes, sondern auch ein lila Jahrzehnt in Gang gesetzt, und umso erstaunlicher ist es, welche geringe Rolle diese Abstammungslinie heute spielt.
Warum Fotos beiläufig aussortiert werden
Dabei ist es nicht so, dass die Protagonistinnen von 1968 in den jetzt erschienenen Rückblicken nun gar nicht vorkämen. Der Historiker Wolfgang Kraushaar widmet ihnen immerhin dreieinhalb Seiten, Götz Aly ein paar verstreute Absätze, und Albrecht von Lucke rechnet den 68erinnen den Kampf gegen die bürgerliche Familie hoch an. Aber wenn der Feminismus überhaupt auftaucht, wird er genauso verhandelt, wie es die damaligen Aktivistinnen verhindern wollten: als Nebenwiderspruch. Dazu kommt, dass kaum ein historisches Ereignis so sehr von visuellen Klischees umstellt ist wie 1968. Das Nicht-Buch über die «Revolte in der Revolte» wird von einer Bilderserie garniert, in der die immergleichen Ausschnitte zu sehen sind: die Brüste von Uschi Obermaier. Die nackte Kommune I. Der Harem von Rainer Langhans. Die politischen Kämpferinnen fehlen im Repertoire, oder sie werden als bloße Körper wahrgenommen.
Wer angesichts dieser krassen Geschichtsklitterung immer weitersucht, stößt im Antiquariat dann doch noch auf ein einschlägiges Buch: Es ist vor fünf Jahren erschienen, sehr lesenswert und trotzdem nicht neu aufgelegt worden. Die Journalistin Ute Kätzel hat 14 Protagonistinnen portraitiert, die ihren Beitrag zu «68» Revue passieren lassen – im SDS, in den Kinderläden, als Künstlerinnen, Mitbegründerinnen der Kommunen und Aktivistinnen gegen den Vietnamkrieg. Gemeinsam ist ihnen, dass sie politisch Handelnde der ersten Stunde waren und gleichzeitig die Geschlechterrollen in Frage stellten. In diesem «Portrait einer rebellischen Generation» findet sich auch ein interessanter Hinweis zur allmählichen Verfertigung der männlichen Polit-Ikonen: «Im Verlauf der Jahre wurden viele Fotos von Frauen, die in der Zeit um 1968 in Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt worden waren, aus den Fotoarchiven, vor allem aus den Pressearchiven, aussortiert», schreibt Ute Kätzel zu der Frage, warum der Mythos 1968 – ob nun positiv oder negativ bewertet – meistens ohne den Anteil der Frauen verhandelt wird.
Man braucht dieses Aussortieren nicht als bewusst geplante patriarchalische Offensive zu verstehen. Gerade das Beiläufige und Nichtgesteuerte an einem solchen Vorgang liefert einen interessanten Hinweis darauf, wie sehr das Großereignis 1968 nach einem bestimmten ikonografischen Raster geformt wurde. Frontfrauen passten nicht dazu. Aber vielleicht werden diese vergessenen Fotos ja fünfzig Jahre danach wieder ausgegraben. Von Historikern, die ein Auge darauf haben, was zwar sichtbar, aber nicht sagbar ist – und was deshalb vorerst aus dem kollektiven Bildarchiv verschwindet. Aber bis dahin müssen wohl noch «ganze Güterzüge von Tomaten verfeuert werden»; so kommentierte Ulrike Meinhof die Frankfurter SDS-Konferenz, in der «konkret» von 1968.
Jutta Person arbeitet als Kulturwissenschaftlerin und Kritikerin in Köln.
Ute Kätzel
Die 68erinnen. Portrait einer rebellischen
Generation
Rowohlt, Reinbek 2003. 320 S. (antiquarisch erhältlich)
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