- Schluss mit den Gemeinplätzen
Gudrun Krämer, Werner Ende und Udo Steinbach differenzieren den Blick auf die Welt zwischen Marokko und Indonesien
Dies ist die Zeit vordergründiger Thesen über die islamische Welt. Selbst der Historiker Dan Diner möchte deren «Stillstand» allen Ernstes mit der «sakral imprägnierten» gegenwartsfernen Schriftsprache der Araber erklären, also mit Religion. Als ob Zeitungen die arabischen Diktatoren nicht kritisieren könnten, weil ihnen die Worte fehlen; als ob 1,2 Milliarden Muslime alle Araber wären …
Da kommt Gudrun Krämers neue «Geschichte des Islam» gerade recht: weil sie die Vielfalt islamischer Ideen und Lebenswelten im Wandel der Zeiten vorführt, statt «den» unwandelbaren Islam zu erörtern. Krämer ist eine der besten Islamwissenschaftlerinnen nicht nur Deutschlands, vertraut mit den innerislamischen politischen Debatten, der Geschichte Palästinas, dem modernen Vorderen Orient. Nun also endlich eine Geschichte der gesamten islamischen Welt seit den Anfängen, eine Zusammenschau der Forschung, souverän gerade im Überblick, auch wenn manche Namen und Ereignisse schnell wie ein ICE vorbeirauschen.
Mit leichter Hand stellt Krämer Irrtümer richtig. Ja, die frühen Eroberungen schufen das bis dahin größte Reich aller Zeiten – aber nur der Fläche, nicht der Anzahl der Menschen nach. Krämer bringt die Dinge auf den Begriff und schaut dabei weit über den Tellerrand ihres Fachs hinaus. Sozialwissenschaftliche Konzepte etwa sind ihr nicht fremd, zum Beispiel das der Imagined Communities: die Vorstellung, dass bestimmte Begriffe wie die «Nation» nicht auf tatsächlich historische Ereignisse verweisen, sondern von der jeweiligen Gegenwart konstruiert werden, um eine Gemeinschaft zu bilden oder zu stabilisieren. Gudrun Krämer schreibt islamische Geschichte als Teil der Weltgeschichte.
Den Stoff erschließt der Blick auf die Zwistigkeiten, die all die gesellschaftlichen und kulturellen Formationen von Marokko bis Indonesien hervorbringen. Konflikte, oft Kriege nicht nur zwischen Muslimen jedweder Couleur, sondern auch zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, vor allem Christen: Krämer ist weit davon entfernt, den kulturschöpferischen Austausch zwischen Siegern und Besiegten als Multikulti-Fete weichzuzeichnen. So entdeckt sie auf der beigegebenen Miniatur von der osmanischen «Knabenlese», also der Aushebung und Zwangsbekehrung von christlichen Bauernsöhnen, die protestierenden Mütter – auch wenn dann ein derart rekrutierter Sinan im 16. Jahrhundert als Hofarchitekt Süleimans eine glanzvolle Karriere machen sollte.
Keine Flucht ohne Schleier
Wer nach Gudrun Krämers gelungener Vogelschau die islamische Gegenwart aus der Nähe studieren möchte, findet die lang erwartete Neuauflage des von Werner Ende und Udo Steinbach herausgegebenen Buches «Der Islam in der Gegenwart». Dieses monumentale Sammelwerk ist ein Work in Progress. 1984, kurz nach der islamischen Revolution in Iran, erschien die erste Auflage und avancierte über Nacht zum Standardwerk. 1996, bei der vierten Auflage, war die erste Neubearbeitung fällig und nun, kaum acht Jahre später, eine zweite: Die islamische Welt ist in einem Umbruch von welthistorischer Bedeutung – und das geht uns, wie wir seit 9/11 wissen, alle an. Viele Beiträge, etwa die über China, den Maghreb oder Russland, wurden von neuen Autoren verfasst. Und, rechtzeitig zum Aufstand in den Pariser Banlieues oder zum Streit um die Mohammed-Karikaturen: die Kapitel zum Islam im Westen sind aufs Doppelte erweitert.
Die hellsichtige Leitfrage dieses Werks war und ist: Wo in den säkularen Staaten von heute spielt der Islam – also die Religion und das islamische Recht, dessen Wiedereinführung islamistische Bewegungen ja fordern – noch oder wieder eine politische Rolle? Seriös beantworten lässt sich das nicht mit Gemeinplätzen, sondern nur wie hier: Land für Land. Zwischen der laizistischen Türkei und Saudi-Arabien – wo die Sittenpolizei im März 2002 vierzehn Mädchen ohne Schleier an der Flucht aus ihrer brennenden Schule hinderte und den Flammen opferte – liegen Welten.
Dabei verdient Ursula Spuler-Stegemanns seismografisches Protokoll der widersprüchlichen Entwicklungen in der Türkei höchste Aufmerksamkeit – bei Befürwortern wie Gegnern des türkischen EU-Beitritts. Aber letztlich gilt das für jeden einzelnen Artikel und nicht minder für die systematischen Beiträge etwa über die Erneuerungsbewegungen im Islam, kulturelle Selbstbehauptung, innerislamische Debatten und islamistische Bewegungen. Jeder einzelne von ihnen ersetzt ganze Bibliotheken.
Gudrun Krämer
Geschichte des Islam
C. H. Beck, München 2005. 334 S., 24,90 €
Werner Ende, Udo Steinbach (Hg.)
Der Islam in der Gegenwart. Entwicklung und Ausbreitung, Kultur und Religion, Staat, Politik und Recht
Neubearbeitete Auflage.
C. H. Beck, München 2005. 1064 S., 49,90 €
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