Das Journal - Schindlers andere Liste

Der Historiker David Crowe und der Lager-Überlebende Mietek Pemper portraitieren Oskar Schindler als sehr menschlichen Helden

Von Oskar Schindler haben Millionen Men­schen ein ziemlich klares Bild vor Augen, sie verdanken es Steven Spielbergs Film von 1993. «Schindlers Liste» erzählte ihnen ein Heldenepos: Ein deutscher Unternehmer, Mitglied der NSDAP, erkennt während des Zweiten Weltkriegs, welches Unrecht den Juden geschieht, wandelt sich zum Wohltäter und rettet über tausend Menschen das Leben. Eine Geschichte, wie gemacht für Hollywood, bewegend und anrührend – vielleicht aber auch zu schön, um der historischen Wahrheit zu entsprechen? Schindlers «wahre Geschichte» zu liefern, das bean­spruchen nun gleich zwei neue Bücher. Der amerikanische Historiker David M. Crowe hat, als Ergebnis siebenjähriger Forschung, eine voluminöse Biografie vorgelegt. Sie ist anschaulich geschrieben, hält kritische Distanz und schöpft aus enormem Faktenwissen. So akribisch wie möglich behandelt Crowe jeden Aspekt aus Schindlers Leben – das dürfte dem Buch den Rang eines Standardwerks sichern, allerdings auch manche Leser überfordern, denen an einer kompakten Darstellung liegt.

Um das außergewöhnliche Zeugnis eines Beteiligten handelt es sich bei Mietek Pempers Buch «Der rettende Weg». Pemper, polnisch-jüdischer Herkunft, war 1943/44 im Lager Krakau-Plaszów inhaftiert und dien­te dort unfreiwillig als persönlicher Schreiber des berüchtigten Kommandanten Amon Göth. Er erlebt die monströsen Verbrechen Göths aus nächster Nähe mit, gewinnt allerdings auch Einblick in die büro­kratischen Abläufe der Judenvernichtung. Und er wird zum Vertrauten des Emailwaren-Fabrikanten Schindler, dessen jüdische Arbeiter im Lager Plaszów untergebracht sind.


Epikureer auf roter Moto Guzzi

Beide Bücher stützen sich auch auf Dokumente aus dem 1997 entdeckten «Schindler-Koffer», beide ergänzen das Bild des deutschen Judenretters um zahlreiche neue oder bislang nur wenig bekannte Facetten. Sie weisen nach, dass so manche suggestive Szene aus «Schindlers Liste» (der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Thomas Keneally) erfunden ist. Natürlich war alles viel komplizierter. Am Kern der Geschichte ändert das nichts: Die Rettungstat Schindlers und die Lauterkeit seiner Motive werden von beiden Autoren bestätigt. Man darf Oskar Schindler tatsächlich als Helden betrachten.

Als einen sehr menschlichen Helden allerdings. Was Spielberg dezent andeutet, malt Crowe in allen Farben aus: Der Lebenswandel dieses Mannes war nicht gerade der eines Heiligen, und zumal den jungen Schind­ler muss man sich als echten Bruder Lustig vorstellen. 1908 als Sudetendeutscher im mäh­rischen Zwittau geboren – die Stadt kam nach dem Ersten Weltkrieg zur Tschecho­slowakei –, fällt er zuerst durch seine Leiden­schaft für Motorräder auf. Mit zwanzig kauft er sich eine rote Moto Guzzi mit 250 Kubik, damals, so Crowe, eine der schnellsten Maschinen in Europa.

Begeistert fährt Schindler Rennen – bis ihm das Geld ausgeht. Zu seinen finanziellen Nöten trägt auch die Neigung zum Alkohol bei. Mehrfach nimmt ihn die Poli­zei Anfang der dreißiger Jahre wegen Trunkenheit und Erregung öffentlichen Ärgernisses in Arrest. Die Mitgift seiner Frau Emilie verschleudert Schindler unter anderem für eine Luxuskarosse, wenig später zeugt er mit der Sekretärin seines Vaters zwei uneheliche Kinder. Er sei, bekennt er der Gattin, eben «von Natur aus ein Epikureer».

Von Widerstand gegen das NS-Regime zunächst keine Spur. Bei Crowe kann man nachlesen, wie Schindler die Expansionspolitik des «Dritten Reiches» anfangs aktiv unterstützte. Als V-Mann der deutschen Abwehr spionierte er zwei Jahre lang das Eisenbahnnetz der Tschechoslowakei aus und half damit, die Besetzung des Landes durch die Wehrmacht vorzubereiten. Nicht ganz klar ist, ob ihn dabei politische Motive trieben – er war damals Mitglied der hitlerhörigen Sudetendeutschen Partei – oder ob es ihm, wie ein tschechischer Be­am­ter notierte, vor allem darum ging, «mit wenig Arbeit viel Geld zu verdienen».

Eindeutig um schnellen Profit ging es Schind­ler, als er 1939 ins besetzte Polen zog und in Krakau eine Fabrik aus jüdischem Besitz, die spätere «Emalia», übernahm. Ausgerechnet dieser windige Typ wurde vom Ausbeuter seiner jüdischen Arbeiter nach und nach zu ihrem Beschützer – bis zum entscheidenden Schritt im Herbst 1944, als es ihm gelang, die von Liquidierung bedrohte «Emalia» samt ihrer Belegschaft nach Brünnlitz im Sudetenland zu verlagern.


Ein rettender Betrug

Dass die dafür benutzte Transportliste – «Schindlers Liste» – nicht so entstand, wie Spielberg es zeigt, kann als sicher gelten: Im Film diktiert Schindler dem jüdischen Büroleiter Itzchak Stern die Namen in die Schreibmaschine. Crowe behauptet, Schindler habe mit der konkreten Erstellung der Liste «überhaupt nichts» zu tun gehabt, ihr alleiniger Verfasser sei Marcel Goldberg gewesen, ein korrupter Funktionär des jüdischen Ordnungsdienstes in Plaszów. Hier widerspricht Mietek Pemper: Zwar habe Gold­berg die Liste nachträglich gegen Bezah­lung manipuliert, ursprünglich geschrieben worden sei sie jedoch von «mehreren Lager­insassen», darunter ihm selbst, nach Schindlers allgemeinen Vorgaben.

Im Mittelpunkt von Pempers Bericht steht jedoch eine ganz andere, bislang kaum gewürdigte Liste, die für das Überleben der «Schindlerjuden» ebenfalls unverzichtbar war. Bereits 1943 wurden in Polen die meisten Arbeitslager ohne Rüstungsproduktion aufgelöst, die jüdischen Häftlinge ermordet. Dass Plaszów erhalten blieb, obwohl seine Insassen überwiegend Textilien oder Kochtöpfe fertigten, ging auf ein dreistes Täuschungsmanöver zurück: Der SS-Wirtschafts­verwaltung wurde in gefälschten Produktionstabellen vorgegaukelt, dass Plaszów über immense Rüstungspotenziale verfüge.

Nicht ohne Genugtuung schildert Pemper, wie er diesen rettenden Betrug in die Wege leitete, die Tabellen erstellte und Göth dafür gewann, bei der Sache mitzuspielen. Schließlich war der Kommandant daran interessiert, das Lager und damit seine eigenen Privilegien zu bewahren. Pemper beansprucht für sich – und grundsätzlich unterstützt ihn Crowe darin –, in der wahren Schindler-Geschichte eine entscheidende Rolle gespielt zu haben, anders als in der Filmversion. Aus dramaturgischen Gründen machte das Drehbuch nämlich aus Mietek Pemper und Itzchak Stern eine einzige Figur. Und die trägt den Namen Sterns – und eben nicht den des bislang kaum bekannten Mietek Pemper.

 

David M. Crowe
Oskar Schindler. Die Biographie
Aus dem Englischen von Klaus Binder und Bernd Leineweber.
Eichborn Berlin, Berlin 2005. 855 S., 34,90 €

Mietek Pemper
Der rettende Weg. Schindlers Liste – die wahre Geschichte
Aufgezeichnet von Viktoria Hertling und Marie Elisabeth Müller.
Hoffmann und Campe, Hamburg 2005. 287 S., 21 €

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