- Die Diktatur der politischen Korrektheit
Der deutsche Mainstream-Konsens lässt sich in etwa so zusammenfassen: mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Nachhaltigkeit, weniger Markt, mehr Staat. Doch wer den Mainstream beleidigt, ist dumm oder schlecht. Wer die Wahrheit verteidigt, hat immer recht
Gott und der Teufel gehen zusammen spazieren. Gott findet ein kleines Stückchen Papier auf der Straße. Er hebt es auf. „Was steht denn drauf?“, fragt der Teufel.
„WAHRHEIT“, sagt Gott feierlich.
„Gib´s mir“, sagt der Teufel eifrig, „ich organisier das für dich.“
Der Physiker Amit Goswami erzählte diese Geschichte, um zu verdeutlichen, dass es die Identifikation mit absoluten Wahrheiten ist, die seit Jahrtausenden unermessliches Leid in die Welt gebracht hat. Das Teuflische an der Wahrheit ist, dass sie zwei so unterschiedliche Gesichter hat.
Für ihre Besitzer ist sie häufig so „offensichtlich“ und „alternativlos“, dass sie im Extremfall als Rechtfertigung für jede Art von Verbot und Unterdrückung dient. Für die Suchenden hingegen kann sie ein nie versiegender Quell der Inspiration und ein Ansporn zu gesellschaftlichem und technischem Fortschritt sein. Im besten Falle verbindet sie sich mit der Freiheit und ermöglicht es jedem Einzelnen nach der jeweils eigenen Wahrheit zu streben und zu leben.
Der deutsche Mainstream ist rot-grün
Zwischen diesen beiden Extremen gibt es wie so oft im Leben sehr viele Grautöne. Der deutsche Mainstream erstrahlt in einem davon. Nun sind mehrheitsfähige Ideologien in allen Gesellschaften zuhause, in Deutschland allerdings werden sehr viele der herrschenden Mainstreamthesen nicht nur von einer großen Mehrheit geteilt, sondern auch als letztgültige Wahrheiten aufgefasst. Wer dem „Konsens“ dann nicht zustimmt, kann somit nur verrückt, böswillig oder korrupt sein: Statt Argumenten setzt es dann Hiebe mit der Moralkeule. Verkürzt lässt sich der deutsche Mainstream-Konsens so zusammenfassen: mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Nachhaltigkeit, mehr Pazifismus, weniger Markt, weniger individuelle Freiheit, mehr Staat. Stille Voraussetzung: Wir Deutsche stehen immer auf Seiten des Reinen und Guten. „Gegen Lüge und Ausbeuterei. Wer das Leben beleidigt, Ist dumm oder schlecht. Wer die Menschheit verteidigt, Hat immer recht“, heißt es treffend im Loblied auf die Erste deutsche Einheitspartei.
Ein solches Meinungsklima fordert von so manchem Journalisten Selbstzensur; häufig werden Texte im Sinn der „erwünschten Wahrheiten“ zurechtgeschliffen. Kein Wunder also, dass konsenskonforme hohle Phrasen unhinterfragt bleiben und sich dadurch selbst verstärken. Wir sind heute so weit, dass selbst die dümmsten Klischees des Mainstream gar nicht mehr als solche erkannt, sondern als feinsinnige Verdichtung der Wahrheit beklatscht werden.
„Wir wissen doch alle, dass Kapitalismus Armut erzeugt.“, säuselt Roger Willemsen, und alles nickt sich die Köpfe schwindelig. Wo bleibt die Gegenfrage: „Und wer, verdammt noch mal, erzeugt den Wohlstand?“
Wie oft bekommen wir zu hören, dass die Welt am Abgrund stehe. Die einfache Frage, in welchem Jahr denn die Situation der Weltbevölkerung besser war als 2014, wird nicht gestellt, weil die Antwort nicht ins Konzept passt. Jüngstes Erzeugnis aus der politisch korrekten Phrasendrescher-Manufaktur: „Ohne EU ist der Friede in Europa gefährdet!“
Linksliberale Empörungsolympioniken
Wer derartige Selbstverständlichkeiten des Meinungskonsens kritisiert, gerät unter die Räder selbstgerechter Empörungsolympioniken und wird lautstark als „Populist“ abgekanzelt. „Die Reichen zur Kasse bitten“ und mit platten Parolen gegen Banken, Konzerne und „die Amis“ zu Felde zu ziehen ist dagegen offenbar Ausdruck ausgefeilter politischer Philosophie.
Der Glaube, im Besitz der alleinseligmachenden Wahrheit zu sein, kann zu Absurditäten grotesken Ausmaßes führen. Mit der richtigen Überzeugung im Gepäck, bringen es die stets betroffenen Ritter des Guten fertig, gegenüber dem Leiden von Millionen Menschen gleichgültig zu bleiben, während sie gleichzeitig für die Rechte des Juchtenkäfers auf die Barrikaden gehen. Die „Wahrheit“, die so etwas möglich macht: „Grüne Gentechnik ist grundsätzlich böse, amoralisch, unnatürlich und gehört verboten.“
Auf 200 Millionen Euro pro Jahr allein in Indien schätzen die Agrarökonomen Justus Wesseler und David Zilberman das Budget sogenannter „Umweltorganisationen“, um den Anbau von Goldenem Reis zu verhindern.
Diese Lobbygruppen geben Unsummen im Namen einer höheren Moral aus, um den Anbau eines Lebensmittels zu verhindern, das jedes Jahr Hunderttausende vor dem Erblinden und dem Tod durch Vitamin-A-Mangel retten könnte. Die deutsche Medizin-Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard meinte dazu: „Dieses Verhalten von Greenpeace ist zutiefst unmenschlich! Die setzen auch Menschenleben ohne Weiteres aufs Spiel.“
Der deutsche Journalismus ist ein Desaster
Wer die angelsächsische Presse verfolgt, die in wohltuendem Unterschied zu hiesigen Pressegepflogenheiten brisante Themen von Kommentatoren aller Meinungslager beleuchten lässt, stellt fest, dass wir Deutsche bei vielen Themen in einer selbstgerecht gezimmerten eigenen Welt leben, einer Parallelwelt des moralischen Eiapopeia. Ein deutscher Jurist bei der EU-Kommission urteilt im privaten Gespräch ähnlich: „Der deutsche Journalismus ist ein Desaster: komplett durch-ideologisiert.“
Dass da was dran ist, zeigen Umfragen, wonach sich die Mehrheit der Journalisten weltanschaulich rot/grün einordnet. Doch ist es ja nicht nur die Presse, die „durch-ideologisiert“ ist, sondern die deutsche Gesellschaft. Die Bandbreite der diskussionswürdigen Grundüberzeugungen hat sich seit Beginn der 1970er Jahre nicht nur nach links verschoben sondern auch sehr verengt. Wer die Vorstellungen der heutigen Parteien mit denen von Vordenkern des Seeheimer Kreises bzw. dem Stamokap-Flügel der SPD vergleicht, wird bemerken: Das gesamte Meinungsspektrum aller heutigen Bundestagsparteien hätte in Willy Brandts SPD Platz gehabt – mit Luft nach beiden Seiten.
Staatsgläubigkeit, Fortschrittsskepsis und – wie es ein Schweizer Kommentator ausdrückte – eine „kollektivistische Grundeinstellung“ der Deutschen sowie ein idealistisches Sendungsbewusstsein ziehen sich als roter Faden durch das graugräuliche Konsensgebäude des Mainstream. Wer nicht Konsens-korrekt auftritt und etwas Farbe ins Spiel bringt, ist nicht zu beneiden. ZEIT-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo: „Wir leben in einer Konsensgesellschaft und wer da rausfällt, der kriegt böse was über die Mütze.“
Fehlende Streitkultur
Wer allerdings die richtige Überzeugung vor sich herträgt, dem werden selbst reaktionäres Spießertum und Straftaten (z. B. das Verwüsten landwirtschaftlicher Anbauflachen) als Ausdruck höherer moralischer Gesinnung angerechnet. In diesem Land, in dem man kopfschüttelnd bis empört über Kritik an der Evolutionstheorie in den USA berichtet, regt es heute kaum noch jemanden auf, wenn eine Landesregierung naturwissenschaftliches Wissen aus ihren Schulen verbannt, weil es ihnen nicht in den Konsenskram passt. So hat zum Beispiel die rot-grüne Regierung Niedersachsens ein Projekt beendet, das den Schülern an vier Stützpunktschulen die Möglichkeit bot, „in eigens eingerichteten Laboren … mit biotechnologischen Methoden (zu) experimentieren“. Im Koalitionsvertrag heißt es ganz explizit, dass die „rot-grüne Koalition alle Möglichkeiten ausschöpfen (wird), Niedersachsen gentechnikfrei zu halten“. An einer bayrischen Schule haben vor einiger Zeit Eltern ihre Kinder per Elternbeiratsbeschluss davor bewahrt, durch eine von einem großen Unternehmen finanzierte „Roboter-Spielwiese“ mit Robotikkenntnissen infiziert zu werden. Begründung: „Jetzt greifen die Konzerne schon in den Schulen nach unseren Kindern.“ Demnächst werden dann wohl so undeutsche Wissenschaften wie Atom- und Kernphysik aus den Lehrplänen gestrichen.
Ideologie siegt über Vernunft.
Im Gegensatz zur Überzeugung vieler Wahrheitsbesitzer und Konsensfetischisten sind abweichende Meinungen nicht notwendigerweise ein Ausdruck von Amoralität oder Korruptheit, sondern wertvolle Instrumente der Bewusstseins- und Willensbildung einer freien Gesellschaft. Harter Streit, wie etwa bei der hierzulande wie zu erwarten verständnislos kommentierten Haushaltsblockade in den USA, ist gerade nicht etwas, das unbedingt vermieden werden muss, sondern Antrieb für die Eröffnung neuer Handlungsoptionen. „Nur wenn Meinungen aufeinanderprallen, kann sich der Bürger ein Urteil bilden. Doch bei uns … werden kontroverse Standpunkte bekämpft“, so der Historiker Arnulf Baring.
Das aber ist das Kennzeichen von totalitärem Denken in einer Gesellschaft, die Freiheit nicht aushält, in der eine tonangebende Schicht von Besserwissern sich im Besitz der Wahrheit glaubt und das Recht auf Volkserziehung anmaßt. Die Diktatur der politischen Korrektheit ist subtiler als die der Propagandaministerien und Reichskulturkammern, aber die Konsequenz ist die gleiche: ein entmündigter Bürger.
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