- Mal wieder Zeit für eine Renaissance
Der Philosoph Wolfgang Welsch fordert eine Revolution des westlichen Denkens
Dieser Artikel ist eine Kostprobe aus der August-Ausgabe des Cicero. Wenn Sie keine Ausgabe des Magazins für politische Kultur mehr verpassen wollen, können Sie hier das Abonnement bestellen.
Seine Mitarbeiter und Studenten kannten es schon. „Ich bin dann mal in meinem anderen Büro“, pflegte Wolfgang Welsch zu sagen, wenn er zu einem Spaziergang am Pazifik aufbrach. Im Jahr 2000 war das, er lehrte als Gastprofessor an der legendären Stanford University. Und als er eines Tages einmal wieder am Strand spazieren ging, da hatte er, wie er sagt, „ein regelrecht mystisches Erlebnis“. In Zukunft wusste er, warum er recht hatte mit seiner Rebellion gegen die universitäre deutsche Philosophie.
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Welsch, der gebürtige Franke aus Kulmbach, galt lange Jahre als Deutschlands einziger Vertreter der Postmoderne von Weltrang. Sein Standardwerk „Unsere postmoderne Moderne“ hat mittlerweile die siebte Auflage erreicht. Ob es „Homo mundanus – Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne“ auch so weit bringen wird? Im vergangenen Jahr ist der heute 66-jährige Welsch von der Universität Jena emeritiert worden, das eintausend Seiten dicke Buch begreift er als Abschluss seines Lebenswerks. Und damit als Ausdeutung dessen, was er damals am pazifischen Strand erlebte: „Wir sind alle Verwandte: die Wolken, das Wasser, die Kieselsteine, die Robben, die Bäume.“
Keine Ahnung vom „Ding an sich“
Das mag banal klingen, wenn nicht gar esoterisch. Unter philosophischen Vorzeichen aber ist es nicht weniger als das exakte Gegenteil zum Selbstverständnis der gesamten Moderne, wonach der Mensch und immer nur der Mensch sich selbst seine Welt mache. Das „anthropische Prinzip“ nennt es Welsch, „die Vorstellung, dass alles vom Menschen her zu verstehen, zu begreifen und einzurichten ist“.
Folgt man ein wenig der großen Erzählung, die „Homo mundanus“ mit enzyklopädischem Atem anbietet, dann steht am Anfang der Moderne eine Verlusterfahrung.
In der Renaissance lernt der abendländische Mensch, dass die Erde sich um die Sonne dreht – das heißt aber auch: dass die Welt nicht so ist, wie sie ihm naiverweise scheint. Von nun an kann sich der Mensch auf seine Sinne nicht mehr verlassen. Er kann die Welt nicht verstehen, ist fremd in ihr. Als die berühmte Subjekt-Objekt-Spaltung bleibt dieser Sprung prägend für die gesamte Neuzeit. Kant erklärte, warum wir vom „Ding an sich“ nichts wissen können und stürzte so Heinrich von Kleist in eine fundamentale Lebenskrise. Für Schopenhauer wiederum war die Welt programmatisch nur „Wille und Vorstellung“. Traurige Auskünfte.
Der Mensch kompensiert diese Kränkung, indem er sich selbst aufwertet. Mit der Renaissance beginnt er zu glauben, dass er allein es sei, der die Welt schaffe, indem er sie denke. „Unsere ganze Würde besteht im Denken“, sagt Blaise Pascal. Nur der Mensch ist demnach Geist, die Welt aber Natur. So von allem losgelöst zu sein, begreift der Mensch als bedingungslose Freiheit, sich selbst zu entwerfen und seine Welt gleich dazu.
Die wichtigsten Strömungen der Gegenwartsphilosophie sind sich heute einig, dass die Sprache nur Diskurse herstellt, statt die Welt zu beschreiben. „Unser Erfahrungs- und Erkenntnisgeschäft ist ein Spiel bei geschlossenen Türen“, sagt Welsch und wirft der universitären Philosophie Leerlauf und Selbstgerechtigkeit vor. Er ist überzeugt: Eine Philosophie, die nicht mehr nach Wahrheit oder auch nur nach Sachrichtigkeit fragt, ergeht sich in Scheingefechten. Sie dient nur der Vermehrung ihrer Forschungsanträge.
Deshalb zieht es Welsch immer öfter weg. An die kalifornische Küste oder hin zu Musik und Bildender Kunst, mit denen er sich leidenschaftlich beschäftigt. Oder er lehrt in Japan, wo er viel gelesen wird. Den asiatischen Weisheitskulturen, erklärt Welsch, sei die westliche Opposition zwischen Mensch und Welt fremd. Wenn in Japan ein Haus gebaut werde, dann geht der Architekt von der Natur aus.
In Europa dagegen schneide man die Natur auf die menschlichen Bedürfnisse zu und zerstöre sie damit. Man denke nur, fährt Welsch fort, an Le Corbusier, der ganz Paris niederreißen wollte, um es in geometrischen Formen neu aufzubauen. Überall schnappt die anthropische Falle zu. Die Finanzkrise etwa beschreibt Welsch als Resultat des Versuchs, sich eine Welt rein nach Zahlen zu konstruieren. „Die westliche Rationalität muss vernünftiger werden“, ist er überzeugt. In Japan fügt er dann immer hinzu, dass man gegen sie nur mit rationalen Argumenten ankomme.
Der Geist selbst ist Natur
Eben so, wie er selbst sein Pazifikerlebnis rationalisiert hat. Denn wenn die Wolken, das Wasser, die Kieselsteine, die Robben, die Bäume so gut zusammenpassen, überlegte Welsch, müsste das mit ihrer gemeinsamen evolutionären Geschichte zu tun haben. Ein Vogel fliegt nicht gegen einen Baumstumpf, eine Biene findet ihre Blüte. Beide erkennen die Welt richtig. Warum sollte es beim Menschen anders sein?
Aus den USA zurückgekehrt, begann Welsch stapelweise naturwissenschaftliche Forschungsliteratur zu lesen. Je mehr er las, desto mehr sah er sich bestätigt. Der Geist selbst ist Natur, ist nicht deren Gegenteil. Deshalb kann der Geist die Natur erkennen. Wenn er Wolken und Wasser schön findet, dann deshalb, weil er in ihnen das Prinzip wiedererkennt, nach dem auch er gebaut ist. Der eigenen Zunft bringt ein solches wildes Denken Welsch nicht näher: „Manche der heutigen Kollegen möchten einfach nicht zur Kenntnis nehmen, was man in den Naturwissenschaften weiß.“ Sie hätten Angst um ihr Deutungspotenzial.
Vielleicht ist es 500 Jahre nach der Renaissance ja einfach einmal wieder Zeit für eine Revolution des Denkens.
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