- Schlagt ihn tot, er ist ein Rezensent!
Musik und Musikkritik sind heute oft geschiedene Leute. Gute Kritiker sind selten geworden und oft sind die Rezensionen auf „Dschungelcamp“-Niveau. Doch es gibt Ausnahmen
Dieser Text erschien zunächst in der Printausgabe des Cicero (Mai). Wenn Sie das monatlich erscheinende Magazin für politische Kultur kennenlernen wollen, können Sie hier ein Probeabo bestellen.
Es war anno 2001: In der Lobby des Hotels, wo ich einchecken wollte, stand zufällig eine Kollegin vor mir, eine brillante amerikanische Musikerin, damals am Anfang ihrer Weltkarriere. Kopfschüttelnd gestikulierte sie, während sie in eine Tageszeitung schaute. „Ich fasse es nicht!“, sagte sie zu ihren Eltern, die neben ihr standen: „Ein ganzes Jahr arbeite ich an diesem Programm, und das Einzige, was diesem MANN einfällt, ist, mich ein ‚loliteskes Persönchen‘ zu nennen! Ich möchte ihn einmal auf der Bühne erleben!“
Darf man reagieren, wenn eine Kritik unter die Gürtellinie trifft? Legendär ist Max Regers Antwort: „Ich sitze im kleinsten Raum des Hauses. Ihre Kritik habe ich vor mir. Bald werde ich sie hinter mir haben.“ Als ich mit 15 begann, öffentlich aufzutreten, habe ich mit pochendem Herzen geblättert, um zu erfahren, wie der Rezensent meine Leistung bewertet hatte. Inzwischen kann ich behaupten, dass ich jede Art von Kritik erlebt habe. Neben köstlichen Verwechslungen wie „Donald Hope, der australische Pianist“ sind die Urteile mal so übertrieben positiv, mal so unglaublich schlecht, dass ich sicher bin: Dies kann einfach nicht sein. Trotzdem frage ich mich jeweils nach einer negativen Kritik, ob etwas davon stimmt. Der Dirigent Leopold Stokowski sagte: „Am gefährlichsten sind jene Kritiker, die von der Sache nichts verstehen, aber gut schreiben.“ Ich würde es anders formulieren: Eine schlechte Kritik, wenn sie kenntnisreich und fundiert ist, kann einem Künstler helfen und ihn weiterbringen.
Einer der gefürchtetsten Musikkritiker seiner Zeit war Eduard Hanslick (1825-1904), berühmt für seine von Ironie und Wortwitz sprühenden Rezensionen. Manche Künstler haben sich für die bösen Auslassungen revanchiert. Richard Wagner hat es seinem Widersacher heimgezahlt, indem er ihn in den „Meistersingern von Nürnberg“ in Gestalt des „Merkers“ Sixtus Beckmesser verewigte. Am berühmtesten ist Goethes Gedichtzeile: „Schlagt ihn tot, den Hund! Er ist ein Rezensent.“ Ein Schauspieler im Frankfurter Theater tat 2006 fast genau das: Er sprang von der Bühne runter, entriss dem Kritiker den Notizblock und beschimpfte ihn.
Es gab Zeiten, da die Leute Kritiken fasziniert gelesen haben, weil sie unbedingt etwas über die jeweils aufgeführten Werke und die mitwirkenden Musiker erfahren wollten. Damals waren die Zeilen informativ, kompetent, manchmal mit einer gesunden Dosis Ironie – aber niemals persönlich. Leider beherrschen nur noch wenige diese Kunst. Symptomatisch war eine Begegnung mit einem Studienfreund, der mir nach dem Besuch eines Konzerts erzählte, dass er nun Musik- statt Filmkritiken schreibe. Ich fragte ihn, wie er über das Konzert berichten wolle. Er bat mich, ihm zu raten, er selbst wisse nämlich nicht weiter. Heute kommt noch hinzu, dass viele Zeitungen, bedingt durch die rapide Abnahme von Werbeeinnahmen, bei der Musikredaktion radikal sparen müssen. Und mit dem Internet-Blogging scheint der Sofa-Kritiker endgültig etabliert zu sein. Jetzt muss sich der Rezensent sogar vor der ganzen Welt verteidigen: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er selber im Netz beurteilt wird. Die Spielregeln ändern sich.
Im November 2012 las ich einen bizarren Artikel mit der Überschrift „Unter dem Röckchen der Hure Klassik“. Zielscheibe dieser Tirade waren viele geschätzte Kollegen, die neben ihren Musikkarrieren andere Tätigkeiten wie das Schreiben oder Moderieren mit Erfolg ausüben. Der Artikel richtete sich auch gegen mich, wobei die trashigen Bemerkungen in meinem Fall ausschließlich mein Aussehen betrafen, und erinnerte mich eher an „Dschungelcamp“-Journalismus. Im Übrigen war der Autor derselbe, dem es gelungen war, sein Klassik-Vokabular in den elf Jahren von „lolitesk“ auf „Hure“ zu steigern.
Eine würzige Rezension, die hingegen wirklich saß, war von einem Kritiker, den ich sehr schätze. Sie erschien nach meinem ersten Auftritt mit dem Beaux Arts Trio in Boston. In der Kritik las ich, dass ein Newcomer eingesprungen sei, ein (immerhin!) feinfühliger Musiker, bei dem man es aber leider mit dem lautesten Fußstampfer seit Rudolf Serkin zu tun habe. Er habe bei Schumann so laut gestampft, dass man sich gewünscht habe, im Publikum säße ein Chirurg, der den fraglichen Fuß umgehend amputierte. Ein Jahr später spielte ich wieder in Boston und achtete peinlichst darauf, meine Füße keinesfalls zu bewegen. Anschließend schrieb derselbe Kritiker: „Vor einem Jahr hat Mr. Hope mit seinem lauten Gestampfe beinahe das ganze Schumann-Trio ruiniert. Diesmal hielt er seine Füße exemplarisch ruhig. Halleluja!“ Manchmal bewirken Kritiken doch etwas.
Daniel Hope ist Violinist von Weltrang. Sein Memoirenband „Familienstücke“ war ein Bestseller. Zuletzt erschienen sein Buch „Toi, toi, toi! – Pannen und Katastrophen in der Musik“ (Rowohlt) und die CD „Spheres“ (Deutsche Grammophon). Er lebt in Wien
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