- Genie, Wahnsinn und Alltag
Was macht der Mathematiker im Supermarkt? Wie leben die abstraktesten Denker unserer Zeit? Drei neu erschienene Biografien erzählen davon
Der alte Charles Darwin rühmte sich, über keine der Eigenschaften zu verfügen, die ein Genie ausmacht. Eine ungewöhnlich schnelle Auffassungsgabe? Fehlanzeige. Geistige Beweglichkeit? Nicht besonders. Seine Entdeckung, die die Welt veränderte, habe er nur seiner Beharrlichkeit und seinem lebenslangen Fleiß zu verdanken. Es spricht viel dafür, dass Darwin ein bescheidener Mann war. Doch ist sein britisches Understatement mehr als das. Es traf den Nerv einer Zeit, die das Understatement liebte. Zumindest in der Kirche ihrer Wissenschaften.
Spinnerei und wilde Geistesblitze gestand das 19. Jahrhundert seinen Künstlern zu. Wenn es sich jedoch seine Idealgelehrten ausmalte, kamen grundsolide, eher unauffällige Typen heraus: disziplinierte Arbeiter und Frühaufsteher, die sich nach Feierabend in sorgende Gatten und liebende Väter verwandelten. Staatstragend, pedantisch und ein bisschen langweilig. Als Ritter der Objektivität galt in diesen Jahren, wer in der Lage war, seine Persönlichkeit an der Tür des Laboratoriums oder der Bibliothek abzugeben.
[gallery:...keine Bücher mehr zu lesen]
Den Glauben an die Tugend der Selbstdisziplin haben wir gründlich verloren. Zumindest bezweifeln wir, dass sie zwangsläufig zur Wahrheit führt. Der langsame Fluss, in dem ein Alexander von Humboldt Band auf Band seiner epischen Naturbeobachtungen publizierte, vermag unser nervöses Zeitalter nicht mehr in Staunen zu versetzen. Das liegt auch daran, dass für Datenerhebungen mittlerweile Maschinen zuständig sind. Und abgesehen von Spielarten der Paranoia hat Big Data bisher keine packenden Narrative hervorgebracht.
Stattdessen faszinieren uns Wissenschaftlertypen, die beim Nachdenken Rockmusik hören, die ihre Fingernägel wachsen lassen oder sich nur noch von Milch ernähren: Exzentriker, Spinner und Hochbegabte, deren Erkenntnisdrang keine Grenzen kennt. Zu Darwins Zeiten nannte man das Genie. Als gute Sozialdemokraten ziehen wir es vor, von Kreativität zu sprechen. Wenn Wissenschaftler sich noch vor hundert Jahren als Arbeiter stilisierten, malen wir sie uns heute lieber als Kreative aus.
Dass die Grenzen zur Kunst und zum Irrsinn dabei fließend sind, macht den zusätzlichen Reiz der Sache aus. Oder woran liegt es sonst, dass Mathematiker so hoch im Kurs stehen? Drei Neuerscheinungen dieses Frühjahrs wagen sich in die dünne Luft des reinen Denkens vor. Sie sind der Frage gewidmet, wie man lebt, wenn man täglich mit Wlassow-Gleichungen oder der Hausdorff-Besikowitsch-Dimension Lévy-stabiler Prozesse umgeht. Sie wollen wissen, was Mathematiker machen, wenn sie Tafeln mit komplizierten Gleichungen vollschreiben. Und, mindestens ebenso wichtig, was sie machen, wenn sie das gerade nicht tun.
Was Grigori Perelman macht, wenn er seine Wohnung verlässt, kann man sich im Internet anschauen. Es gibt Youtube-Clips, die den berühmten Mathematiker im Supermarkt zeigen. Er hat lange Haare und einen wilden Bart, er trägt eine Plastiktüte und führt seine kranke Mutter am Arm. Nach den verwackelten Aufnahmen zu urteilen, müssen sie heimlich entstanden sein, in irgendeinem Plattenbauviertel am Rand von Sankt Petersburg. Im Jahr 2002 sorgte Perelman für Aufsehen in der Mathematikergemeinde, als er die Poincaré-Vermutung bewies, eines der sieben Welträtsel der Mathematik, das seit hundert Jahren auf seine Lösung wartete. Die Poincaré-Vermutung besagt ungefähr, dass in einer n-dimensionalen Welt jede Mannigfaltigkeit, die kein Loch besitzt, in eine n-dimensionale Kugel umgeformt werden kann.
Wenn man genauer verstehen will, was das heißt und warum es interessant sein könnte, muss man Kenntnisse in Topologie besitzen, und das tun nur wenige Menschen auf dieser Welt. Sie bewohnen ein gedankliches Paralleluniversum, das zu den fruchtbarsten der modernen Mathematik gehört und selbst unter Mathematikern im Ruf steht, kompliziert zu sein. Mit 36 Jahren löste Perelman dessen schwierigste Frage.
[[{"fid":"54599","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":839,"width":750,"style":"width: 200px; height: 224px; float: left; margin: 10px;","class":"media-element file-full"}}]]Grigori Perelman: Der Freak
Foto: Picture Alliance
Für seinen Beweis bekam er die Fields-Medaille, den Nobelpreis der Mathematik, der so prestigereich ist, dass Mathematiker ihn vor Ehrfurcht nur mit gesenkter Stimme erwähnen. Jedenfalls sollte er sie bekommen. Doch erstaunte Perelman seine Zunft ein weiteres Mal, als er sich weigerte, zur feierlichen Verleihung in Madrid zu erscheinen. Spätestens jetzt wurde der Fall des spleenigen Russen auch außerhalb der Fachwelt bekannt. „Wenn der Beweis richtig ist, bedarf es keiner weiteren Anerkennung“, lautete Perelmans lapidare Absage. Vier Jahre später tauchte er wieder nicht auf. Diesmal ging es darum, das Preisgeld von einer Million Dollar entgegenzunehmen, das das Clay Institute in Massachusetts auf die Lösung jedes der mathematischen Welträtsel ausgesetzt hatte.
Inzwischen hatte sich Perelman auch aus der Mathematikerwelt zurückgezogen, wohnte mit seiner Mutter am Stadtrand von Sankt Petersburg und lebte, darf man russischen Boulevardreportern glauben, mangels geregelter Einkünfte von Milch und Brot. Das Preisgeld hätte er gut gebrauchen können. Doch rückte er keinen Zentimeter von seiner Verweigerungshaltung ab. Im Trubel, den sein Rückzug zusätzlich anheizte, erblickte er die Verunreinigung seiner Leidenschaft, des reinen Denkens. Es steht zu befürchten, dass er entweder verbittert oder wahnsinnig ist. Er geht nicht ans Telefon und scheint seine Mutter daran zu hindern. Es gibt Leute, die meinen, dass er medizinische Hilfe braucht.
Die thrakische Magd, die den Philosophen Thales einst dabei beobachtete, wie er beim Betrachten der Sterne in den Brunnen fiel, soll in schallendes Gelächter ausgebrochen sein. Für dieses Lachen, das der Weltfremdheit des Theoretikers Rechnung trägt, ist Perelmans Fall zu enigmatisch. Vielleicht rührt die Faszination, die von dem bärtigen Eremiten ausgeht, daher, dass er sich unbeirrbar gegen seine Vermarktung wehrt. In einer Zeit, die auch die Kunst längst den Ökonomien des Geldes und der Aufmerksamkeit unterworfen hat, scheint er der letzte geniale Künstler zu sein.
Immer wieder hat Perelman beteuert, weder an Ruhm noch an Geld interessiert zu sein. Der Verdacht, er könnte an Asperger leiden, liegt auf der Hand. Doch gibt es auch Kollegen, die seinen Rückzug plausibel finden. So sagte Michail Gromow, ein renommierter russischer Mathematiker, der seine eigenen Auszeichnungen allerdings angenommen hat: „Um hervorragende Arbeit zu leisten, müssen Sie einen reinen Verstand haben. Sie dürfen nur an die Mathematik denken. Alles andere ist menschliche Schwäche. Wer Preise annimmt, zeigt Schwäche.“
Nachzulesen ist all das in der neuen Perelman-Biografie der russisch-amerikanischen Journalistin Masha Gessen. Um ihr Buch „Der Beweis des Jahrhunderts“ zu schreiben, nahm sie Topologieunterricht bei einem jungen Mathematiker. Die Kapitel, in denen der Kontext der Poincaré-Vermutung erläutert wird, gehören trotzdem nicht zu den eindrücklichsten des Buches. Es ist knifflig, denn ganz ohne geht es nicht, doch haftet dem Versuch, die Abstraktionen der reinen Mathematik in Alltagssprache zu übersetzen, etwas Unbefriedigendes an.
Was Gessen indes vorzüglich gelingt, ist, Perelmans Geschichte als sowjetisches Drama zu erzählen, das tief in die Schattenwelt des Kalten Krieges reicht. Sie leuchtet jene wenig bekannte Subkultur aus, in der schon ein Achtjähriger zu mathematischen Hochleistungen angespornt wurde: die Welt der Mathe-Clubs, Mathe-Olympiaden und Trainingslager, in denen kleine Jungs frühmorgens durch den Kiefernwald trabten, um anschließend an die Theoreme zu gehen.
Ähnlich wie im Schach bestand das Geheimnis des Erfolgs sowjetischer Mathematiker in der Nachwuchsarbeit eines Regimes, das sich gezwungen sah, seine politische Überlegenheit zu demonstrieren. In Anspielung auf die hohe gesellschaftliche Akzeptanz, die soziophoben Zahlenbegabten in der UdSSR entgegengebracht wurde, spricht Gessen von einer regelrechten Asperger-Kultur. Das ist die eine Seite der Geschichte. Die andere, untergründigere, besteht in der Faszination, die von der Mathematik selbst ausging. Im ideologischen Nebel des real existierenden Sozialismus besaß sie den Charme einer Gegenwahrheit, die, wie immer apolitisch, bis an die Grenzen der Dissidenz reichen konnte. Ein komfortables inneres Exil – und ein Samisdat des abstrakten Denkens. Es fällt auf, dass in sowjetischen Dissidentenkreisen Naturwissenschaftler eine tragende Rolle spielten.
[[{"fid":"54721","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":1196,"width":750,"style":"width: 200px; height: 319px; float: left; margin: 10px;","class":"media-element file-full"}}]]
Im Gegensatz zur klaustrophoben Welt der Kaderschmieden, in denen Grischa Perelman nichts als Mathematik kennenlernen durfte, hat Benoît Mandelbrots Leben episches Format. Die fraktale Geometrie, mit der er das Chaos der Natur in Formeln bezähmen wird, ist die Frucht eines chaotischen Jahrhunderts. 1924 in Warschau in eine jüdische Akademikerfamilie hineingeboren, kommt Mandelbrot mit dem Leben davon, emigriert nach Frankreich, überlebt Vichy und wird nach dem Krieg an der Pariser École Polytechnique zum Mathematiker ausgebildet.
Als Dreh- und Angelpunkt seiner Autobiografie, die im Deutschen den etwas platten Titel „Schönes Chaos“ trägt, erweist sich die anschließende Emigration in die USA. Auf deren zukunftsgewissem Boden entdeckt Mandelbrot zugleich einen neuen mathematischen Kontinent: Als Spross einer dynastischen Wissenschaftskultur, in der die begabtesten Schüler in die Clans ihrer Doktorväter einzuheiraten pflegten, betritt er die helle Welt der amerikanischen Think Tanks und Eliteinstitutionen, in denen in den fünfziger Jahren die Mathematik der Zukunft erfunden wird.
Die neuen Namen lauten Norbert Wiener und John von Neumann, die neuen Disziplinen Kybernetik, Spieltheorie und Komplexitätsforschung. Am MIT und bei IBM arbeiten junge Mathematiker mit Ingenieuren zusammen, betreiben Missbrauch von Heeresgerät und entwickeln das Herrschaftswissen des Kalten Krieges. Mandelbrot lässt sich in den Suburbs von New Jersey nieder, schlüpft ins Kostüm des „Organization Man“ und bricht mit der reinen, alteuropäischen Mathematik, die seiner visuellen Veranlagung schon immer fremd war.
In den achtziger Jahren werden seine bunten Fraktale zum Wissenschaftsschlager und machen die Idee der Komplexität populär. Dass die schöne neue Welt des Chaos dem jungen Mandelbrot zuerst beim Betrachten veralteter Mathematikbücher aus dem 19. Jahrhundert dämmerte, die noch üppig bebildert waren, ist eine dialektische Pointe, die der Kunstgeschichte nicht entgangen ist.
Es stimmt tatsächlich: Mathematiker haben eine Schwäche für Musik. Es muss da irgendeine untergründige Verwandtschaft geben, denn sowohl Grigori Perelman als auch Benoît Mandelbrot gehen leidenschaftlich in die Oper. Cédric Villani geht lieber auf Rockkonzerte. Er tritt im Fernsehen auf und liest auf dem Weg ins Labor in der U-Bahn japanische Mangas. Jünger, exzentrischer und begabter als die meisten Kollegen ist er der André Agassi der Mathematik. Nun hat er obendrein noch ein amüsantes Buch über seine Arbeit geschrieben. Seine Markenzeichen sind barocke Halstücher und eine Spinnenbrosche, die er gern am Revers seines seidenen Gehrocks trägt.
Wenn der Einsiedler Perelman die Figur des mathematischen Genies verkörpert, dann ist Villani der mathematische Kreative. Wenn der Russe nach der Reinheit der Kunst strebte, betreibt Villani Mathematik als Pop. Zumindest malt man sich beim Lesen plötzlich Hipster mit großen Brillen aus, die in Ladenlokalen herumsitzen und mit Boltzmann-Gleichungen jonglieren. Überhaupt offenbart die Königin der Wissenschaften auf den zweiten Blick ein verkanntes Pop-Potenzial: Genau wie Pop verwandelt sie Begriffe in Namen, weshalb mathematische Abhandlungen im Grunde aus Galerien von Gesichtern bestehen: Ricci-Fluss, Landau-Dämpfung, Gromow-Integration … Irgendwann wird diese Prosa noch zu Songtexten.
Das Theorem, das Villani am Ende seines Buches formuliert und das ihm 2010 die Fields-Medaille eintrug, hat mit statistischer Flüssigkeitsmechanik zu tun. Auf dem Weg zu diesem Happy End unternimmt er erhellende Streifzüge durch die Geschichte der Mathematik und wagt ein mutiges formales Experiment. Überhaupt hörten die mathematische Wissenschaften spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf, von Dingen zu handeln, die man sich vorstellen konnte.
Als Reaktion auf die Krise der Anschauung haben populäre Mathematikbücher seither mit mehr oder weniger Erfolg versucht, den Geheimcode der Gleichungen in Sprache zu übersetzen. Villani lässt ihn stehen, wie er ist. Die E-Mails, in denen er mit seinem Kompagnon um die Lösung des Rätsels ringt, kopiert er großzügig in sein Buch hinein. Dadurch entstehen Seiten von bizarrer Schönheit. Der Leser wird in die Situation des Ethnologen versetzt, der einem komplizierten Ritual beiwohnen darf. Verstehen wäre zu viel gesagt, doch lässt er sich von den Tänzen der Mathematiker umso lieber gefangen nehmen.
Masha Gessen
Der Beweis des Jahrhunderts. Die faszinierende Geschichte des Mathematikers Grigori Perelman. Aus dem Englischen von Michael Müller. Suhrkamp, Berlin 2013. 300 S., 22,90 €
Cédric Villani
Das lebendige Theorem. Aus dem Französischen von Jürgen Schröder. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2013. 304 S., 19,99 €
Benoît Mandelbrot
Schönes Chaos. Mein wundersames Leben. Aus dem Amerikanischen von Helmut Reuter. Piper, München 2013. 480 S., 24,99 €
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.