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Literaturpapst und Unterhaltungskönig Marcel Reich-Ranicki hat als schreibender Kritiker Maßstäbe gesetzt. Seine Lebensgeschichte war beeindruckend
Er wurde auf Titelbildern als Kampfhund dargestellt oder als wutgeladener Bücher-Zerreißer, es gibt Buchstützen, bei denen der unverkennbare Kopf und Oberkörper des berühmtesten deutschen Literaturkritikers den Lesestoff aufrecht halten sollen, und wohl kaum ein Zuschauer des „Literarischen Quartetts“, dem er von 1988 bis 2001 vorstand, hat sich nicht schon einmal an einer Parodie seiner charakteristischen Sprechweise versucht – der ernsthafte Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki ist über die Jahrzehnte zu einer Art Folklore-Figur des deutschen Kulturbürgertums geworden. Er stand dabei für das, was ihn von Berufs wegen am meisten beschäftigte: die deutsche Literatur, aber ebenso für eine gern auch mal ins Derbe, auf jeden Fall aber ins theatralisch Aggressive ausschlagende Unterhaltungskunst.
Dass ausgerechnet die Literatur und Reich-Ranickis stets höchst kuriose Show-Einlagen überhaupt im Fernsehen unter ein Dach kamen und ein Millionen-Publikum gewannen, war einzig dem enormem Performance-Talent des Kritikers geschuldet. Noch bevor man allgemein in solchen Kategorien dachte, war er eine Marke, und die signalisierte: Natürlich, hier geht es um Bildung, um die eigentlich in stiller Zurückgezogenheit ausgeübte kulturelle Praxis des Lesens – aber es geht zugleich auch immer darum, lustvoll mal ordentlich draufzuhauen. „Ein fürchterliches Buch!“, „Vollkommen misslungen!“, dies waren emotional hervorgestoßene Urteile, die er dem Zuschauer gleichsam abnahm: Der hätte sich selbst ja nie getraut, in aller Öffentlichkeit derart rigoros mit geistigen Gütern zu verfahren.
Doch gerade mit dieser Entlastungsstrategie tat der „Kritiker-Papst“ gute Werke sonder Zahl: Er brachte die Leute dazu, massenhaft Bücher zu kaufen und sie sogar auch noch lesen zu wollen – für die Verlage war das „Literarische Quartett“ allemal eine Segnung.
Ebenso spektakulär aber brachte er Autoren-Hoffnungen auch zum Scheitern, seine Feindschaften Günter Grass (dessen weltliterarisches Werk „Die Blechtrommel“ er 1958 verkannt und verrissen hatte) oder Martin Walser gegenüber (der sich mit dem Roman „Tod eines Kritikers“ rächte) waren legendär.
Was sich da ein gutes Jahrzehnt lang vor einem Millionen-Publikum abspielte, hatte allerdings biografisch schon eine lange Reich-Ranicki-Tradition. 1958 aus Polen in die Bundesrepublik gekommen, stieß er alsbald zur „Gruppe 47“ und löste dort mit seinen spontan vorgetragenen Radikal-Analysen literarischer Texte einen derart heftigen Unmut unter den Autoren aus, dass etliche die Gruppe verlassen wollten, wenn Reich-Ranicki weiterhin auf der Kritikerbank säße; Hans Werner Richter, Erfinder und Chef der losen Vereinigung, hatte seine liebe Mühe, die Harmonie wenigstens oberflächlich wieder herzustellen.
Denn fraglos zählte Reich-Ranicki, zunächst für die „FAZ“ und danach in der „Zeit“ schreibend, binnen kürzester Frist zu den führenden deutschen Literaturkritikern, da war Richter gut beraten, ihn weiterhin in der Gruppe zu halten. Als Literatur-Chef der „FAZ“ von 1973 bis 1988 konnte „MRR“ seine Papst-Position dann endgültig besiegeln und mit stets glänzend geschriebenen Rezensionen auftrumpfen. Doch erst das Fernsehen machte ihn zum einzigartigen Phänomen und scheinbar unumschränkten Herrscher im Reich der Literatur. Selbst, dass er das „Quartett“-Mitglied Sigrid Löffler im Jahr 2000 unter persönlichen Beleidigungen aus seiner Sendung herauskatapultierte, passte noch zu dieser Attitüde (das „Quartett“ freilich erholte sich von diesem Abgang nicht mehr).
„Wir werden über Bücher sprechen, und zwar, wie wir immer sprechen: liebevoll und etwas gemein, gütig und vielleicht ein bisschen bösartig, aber auf jeden Fall sehr klar und deutlich. Denn die Deutlichkeit ist die Höflichkeit der Kritik der Kritiker“ – so hatte Reich-Ranicki 1993 die Verfahrensweise in seiner Kult-Sendung auf den Punkt gebracht. Dass hinter der Fassade des großen Austeilers aber eine Lebensgeschichte stand, deren tief prägende Kennzeichen Angst, Verfolgung, Terror und Völkermord gewesen waren, erschloss sich seinem Publikum in vollem Umfang erst mit seiner Autobiografie „Mein Leben“ (1999). Ja, Reich-Ranicki war Jude, das wusste irgendwie jeder, und mit dem Kampfhund-Bildnis im „Spiegel“ hatte man ihm selbst in der Bundesrepublik noch eine der Perfidie des NS-Hetzblatts „Stürmer“ angemessene Karikatur zugedacht. Dass aber seine Lebensbilanz trotz aller Erfolge ungeschminkt hieß "kein eigenes Land, keine Heimat und kein Vaterland", das hatten die Zuschauer beim Toben und Loben des Kritikers eher nicht mitdenken mögen – dass die Literatur sein letztes und eigentliches Refugium war, sein unter allen Umständen zu verteidigendes Herzland, bildete aber den Hintergrund des genüsslich emotionalisierten Spektakels.
Nun ist er gestorben, 93 Jahre alt. Er hat als schreibender Kritiker Maßstäbe gesetzt und als grandioser Unterhalter für einen gar nicht so kurzen Zeitraum die Literatur zu einem populären Gegenstand gemacht. Seine Bücher – lesenswert, klug und, immer noch, einladend zum Streit – bleiben. Er selbst, mit seiner Lebensgeschichte, ist ein Mahnmal der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts: eine Aufforderung zum Erinnern.
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