- Marcel Beyer: Vergeßt mich
Es gibt ihn wirklich, den Jungen auf der Kinderschokolade. Seit fast dreißig Jahren gehört sein strahlendes Kindergesicht zur Alltagskultur, und in einem Interview bekannte der heute 42-jährige Abgebildete, die anhaltende Wiederkehr seines Schokoladen-Fotos sei zu einem Teil seines Lebens geworden; als es zeitweilig von der Packung verschwand, war ihm, als hätte «jemand mir ein Stück meiner Biografie weggenommen».
Es gibt ihn wirklich, den Jungen auf der Kinderschokolade. Seit fast dreißig Jahren gehört sein strahlendes Kindergesicht zur Alltagskultur, und in einem Interview bekannte der heute 42-jährige Abgebildete, die anhaltende Wiederkehr seines Schokoladen-Fotos sei zu einem Teil seines Lebens geworden; als es zeitweilig von der Packung verschwand, war ihm, als hätte «jemand mir ein Stück meiner Biografie weggenommen». Marcel Beyer erzählt in seinem kurzen Prosastück eine ähnliche Geschichte, allerdings in einer anderen Dimension. Hier versucht ein Ich-Erzähler, die schleichende Selbstzerstörung seines Freundes Lorenz zu fassen. Aus vierzigjährigen Freunden werden Fremde, die Verständigungsfäden reißen ab, als eine Reklame für Kindernahrung Lorenz plötzlich als Vierjährigen zeigt. Der erfolgreiche Anwalt für Urheberrecht muss überrascht feststellen: «Das bin ich.» Die Werbebotschaft führt in seiner Wahrnehmung zu einer Aufhebung von Raum und Alter; was bleibt, ist eine immer wieder retuschierte Anpassung des Originals an den jeweiligen Zeitgeschmack – Lorenz zeigt alle Symptome der Selbstentfremdung: Im Blick auf den kindlichen Stuntman seines eigenen Ich ist für ihn auch die Wirkung auf andere unabsehbar. Ausgestattet mit allen Insignien beruflichen Erfolgs, muss der Mann etwas gegen die Allgegenwart seines Kinderfotos setzen. Und wer hat überhaupt den Diskretionsbruch der Veröffentlichung zu verantworten – die Eltern? der Fotograf? die Werbewirtschaft? Lorenz beginnt allmählich, seine Gegenwart zu vergessen, längst hat er seine eigene Verunsicherung auch auf das Leben seiner Frau ausgedehnt. Er löst sich auf und findet nicht mehr heraus aus Bitternis, Einsamkeit und Entgeisterung. Marcel Beyer hat um dieses Erzählzentrum herum eine Rahmenhandlung gebaut, in der sich die Darstellungen der Werbung mit denen der Politik überlagern. Das Reklamefoto des kindlichen Lorenz taucht in der Erzählung nur in Spanien auf – Beyer stellt es in einen strukturellen Zusammenhang mit den ebenfalls immer neu aufgelegten Bildern vom kranken, sterbenden Diktator Franco. In Madrid erlebt der Erzähler die Atmosphäre nach einem Falangisten-Aufmarsch: «Die einen geben sich lächerlichen Wahnvorstellungen hin, sie haben die Erinnerung auf ihrer Seite, den anderen drückt die Erinnerung die Luft ab, aus den Alpträumen gibt es kein Entkommen.» Mit äußerstem Minimalismus erzählt Marcel Beyer nicht nur von der modernen Bilderwelt in ihrer massenhaften Reproduktion, sondern auch von ihren nicht beherrschbaren Folgeerscheinungen. Der Buchumschlag zeigt übrigens kein lachendes Kindergesicht, sondern einen schwarzen Raben.
Marcel Beyer
Vergeßt mich
DuMont, Köln 2006. 60 S., 7,50 €
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