- „Lance Armstrong ist ein klassischer Fall”
Im Gespräch mit Cicero Online erklärt der Sportsoziologe Moritz Böttcher, warum Lance Armstrongs Karriere trotz Dopingverurteilung eine typische Heldengeschichte ist, was überhaupt ein „Held” ist und warum wir Menschen wie Armstrong brauchen
Herr Böttcher, Lance Armstrong soll in einem Interview,
das am Donnerstag im amerikanischen Fernsehen ausgestrahlt wird,
systematisches Doping gestanden haben. Damit ist die Karriere, die
lange wie ein Märchen verlief, nun an ihrem Tiefpunkt angelangt.
Inwieweit ist der Fall Armstrong eine klassische
Heldengeschichte?
Lance Armstrong ist ein typischer Fall und fast eine klassische
Hollywoodstory. Der krebskranke Athlet, der dem Tod haarscharf
entgeht und sich dann an die Spitze seiner Disziplin hocharbeitet.
Er wird zum Dominator und holt sieben Tour de France-Titel in
Folge. Das ist einzigartig in diesem Sport gewesen.
Ist auch
der tiefe Fall von Armstrong typisch dafür, wie in unserer
Gesellschaft Menschen heroisiert und später fallen gelassen
werden?
Ob wir in der deutschen Gesellschaft Menschen vergleichsweise
schnell heroisieren und wieder fallen lassen, prüfe ich in meiner
Dissertation. Der Fall des Helden ist auf jeden Fall eine
klassische Station der Heldenreise. Nach der Initiation, bei der
sich der Sportler den Status des Helden durch eine besondere
Leistung verdient, kommt früher oder später der Bruch in der
Karriere. Im Falle eines Sportlers durch ausbleibenden Erfolg oder
einen Normverstoß. Bei Lance Armstrong sind wir gerade an dem Punkt
angelangt, an dem er als Dopingsünder ganz unten angekommen ist.
Das heißt aber nicht, dass dies das Ende des Liedes ist.
Der Sportsoziologe Prof. Dr. Karl-Heinrich Bette von der
TU Darmstadt spricht in diesem Zusammenhang von „Läuterung und
Wiederauferstehung vormaliger Sporthelden“. Steht Armstrong gerade
an der Schwelle zu diesem Stadium der Heldenvita?
Es hat den Anschein. Er scheint nun an dem Punkt zu sein, wo er
sein Vergehen zugibt und sich entschuldigt. Das ist die
Grundvoraussetzung dafür, dass er überhaupt eine zweite Chance
erhält. Das kann, muss aber nicht der Startschuss für seine
Wiederauferstehung als Held sein.
Welche Eigenschaften muss ein
„Held” im Sport mitbringen?
Es gibt hier keine allgemeingültige Definition. Wie Bette schon
sagt, kommt es sehr auf die Rezeption durch das Publikum an. Mit
anderen Worten: Wen das Publikum für einen Helden hält, der ist ein
Held. Prinzipiell geht es um außeralltägliche Leistungen, die
stattfinden müssen. Es reicht nicht, einfach nur gut in seiner
Sportart zu sein, man muss besonders gut sein. Ferner gibt es
natürlich Eigenschaften, die über diese Leistungsstärke
hinausgehen. Beim Helden im Allgemeinen ist dies zum Beispiel die
Bereitschaft, anderen Menschen unter Einsatz des eigenen Lebens zu
helfen.
Warum bietet der Sport so ein gutes Umfeld für die
Heldenkonstruktion?
Bette begründet das systemtheoretisch und erklärt, warum der Sport
bestimmte Kriterien erfüllt, die für die Heldwerdung grundsätzlich
notwendig sind. Die Beobachtbarkeit des Geschehens ist hier ganz
wichtig. Im Sport findet ein Großteil der Leistung im öffentlichen
Raum statt, wo Medien und Zuschauer vorhanden sind. Außerdem ist
der serielle Charakter von Sportereignissen ein entscheidender
Faktor. Es sind also immer wieder sportliche Wettkämpfe angesetzt,
die einen Sieger und einen Verlierer produzieren müssen. Auch
dieser leicht verständliche Sieg-Niederlage-Code ist letztlich
konstitutiv für die Heldenfähigkeit des Sportsystems.
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Welche Rolle spielen die Medien dabei?
Die Medien sind diejenigen, die das geschehen beobachten, deuten
und diese Deutung einer breiten Öffentlichkeit präsentieren. Wenn
die Medien den Heldenbegriff explizit verwenden – und das tun sie
ständig – ist es klar, dass diese Realitätsdeutung vom einen oder
anderen Rezipienten übernommen wird.
Warum sucht die Öffentlichkeit trotz zahlreicher
Skandale überhaupt noch Helden?
Helden emotionalisieren. Sie sind Vorbilder und leisten das, was
man selber vielleicht gerne leisten würde, aber nicht kann. Es sind
diese Geschichten, die seit Jahrtausenden einen ähnlichen Verlauf
nehmen und unsere Wahrnehmung prägen. Das sind Geschichten, die
positive wie negative Emotionen auslösen und uns faszinieren.
Deshalb suchen wir uns immer wieder neue Helden.
Ist eine solche Art der Heldwerdung nur im Sport möglich
oder gibt es auch andere Bereiche der Gesellschaft, wo es ähnliche
Heldengeschichten gibt?
Es gibt grundsätzlich jede Menge gesellschaftliche Teilsysteme, die
heldenfähig sind. Bette beschreibt das Sportsystem als das
geeignetste, ich sehe das etwas anders. Wenn man an das politische
System denkt, fallen Persönlichkeiten wie Nelson Mandela, Gandhi
oder Martin Luther King auf, die sich an die Spitze bestimmter
Freiheitsbewegungen gesetzt haben. Sie haben ihre körperliche
Unversehrtheit für Ideale wie Freiheit und Gleichberechtigung aufs
Spiel gesetzt und teilweise mit dem Leben bezahlt. Neben solchen
Persönlichkeiten verblasst das Heldenpotenzial von Sportlern.
Eigens durchgeführte Erhebungen weisen darauf hin, dass Personen
aus dem politischen System noch weit vor Sportlern und vor allem
nachhaltig als Helden angesehen werden.
Herr Böttcher, vielen Dank für das Gespräch.
Moritz Böttcher ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Sozialwissenschaften des Sports an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und promoviert zum Thema „Mediale Heldenkonstruktion und -dekonstruktion im Sport”.
Das Interview führte Julian Graeber.
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