- Kulturkampf an den Grundschulen
In Hamburg müssen Grundschulen ab diesem Schuljahr nicht mehr die Schreibschrift unterrichten. Die Schüler können stattdessen nur noch die Druckschrift lernen. Auch andere Bundesländer testen das vereinfachte Schreiben an ihren Grundschülern. Eltern und Schreibexperten schlagen Alarm.
Das große „H“ mit einem Haken und zwei Schleifen, beim „A“ ein Anfangsbogen und ein kreisförmiger Mittelbalken: Millionen Deutsche haben diese Buchstaben noch mit Feder und Tinte in ihre Schulhefte gekratzt. In der ersten Klasse lernten sie, die sogenannte lateinische Ausgangsschrift in normierte Zeilen mit vier Linien und breitem Mittelbalken zu schreiben.
Einige Hamburger Kinder werden diese schnörkelreiche Schwungschrift wahrscheinlich nicht mehr kennenlernen. Denn in der Hansestadt darf seit Beginn des Schuljahres die sogenannte „Grundschrift“ unterrichtet werden. Die Bildungsbehörde hatte den Schulen freigestellt, ob sie sich der Reform per Beschluss der Lehrerkonferenz anschließen oder weiterhin Druck- und Schreibschrift lehren.
Die Grundschrift, erklärt Horst Bartnitzky, Ex-Chef des Grundschulverbands, sei eigentlich gar keine neue Schrift, sondern „eine mit der Hand geschriebene Druckschrift“. Die Schüler könnten die Schrift jeden Tag in ihrer Lebenswelt sehen – auf Werbetafeln, Alltagsprodukten oder auf dem Computer, den viele Kinder schon vor der Einschulung beherrschen. Bislang werde die Druck- und Schreibschrift in den Eingangsklassen zeitlich versetzt unterrichtet, erklärt der pensionierte Pädagoge. „Dadurch wird der aktive Schreibprozess unterbrochen.“
Mit der Grundschrift würde dies jedoch vereinheitlicht: Die Kinder lernen nur noch die Druckschrift. Die Buchstaben würden dann durch einfache Wendebögen miteinander verbunden und so zur Schreibschrift. „Der Zwischenschritt über die erlernte Schreibschrift entfällt, weil die Kinder direkt auf dem Weg zu ihrer individuellen Handschrift begleitet werden sollen“, fordert Bartnitzky und zerstreut Zweifel: „Die Schrift bleibt formklar, lesbar und ist mit Schwung zu schreiben.“ Ohnehin hätten viele Jungen mit den Haken, Schleifen und Strichen der lateinischen Ausgangsschrift viel Mühe.
Walter Scheuerl, graues Haar, buschige Augenbrauen und Hornbrille, erwartet dagegen einen „Wildwuchs an Schriften schon in der Mittelstufe“. Den Kindern dürfe es nicht freigestellt werden, bei den Buchstaben individuelle Verknüpfungen zu machen. Mit seiner Hamburger Initiative „Wir wollen lernen“ leitete Scheuerl im vergangenen Jahr bereits den Elternaufstand gegen die Abschaffung des Gymnasiums und brachte das wichtige schwarz-grüne Reformprojekt zu Fall. Die Grundschrift führe zu einer „Nivellierung nach unten“, fürchtet der Rechtsanwalt und zweifache Vater. „An den weiterführenden Schulen sind Kinder, die nur die Druckschrift können, benachteiligt, vor allem, wenn sie lange Aufsätze schreiben müssen.“
Er übte auch Kritik an der Argumentation des Hamburger Schulsenators Ties Rabe. Nur weil die Schreibschrift einigen Schülern schwerer falle, dürfe man sie nicht aufgeben. Scheuerl sieht das Problem eher bei den Lehrern: „Die haben doch nicht mal mehr Schreibdidaktik in ihrer Universitätsausbildung.“
Der Grundschulverband, der die Schreibreform maßgeblich vertritt, sieht das anders. „Wir wollen, dass die eigene Handschrift wieder mehr in den Mittelpunkt des Unterrichts rückt“, sagt Erika Brinkmann, Pädagogin an der Hochschule Schwäbisch Gmünd. So sollten wieder mehr Schönschreibübungen gemacht werden, etwa mit Gedichten oder verzierten Initialen. Brinkmann verweist auch auf Erfahrungen im Ausland. Weder in Frankreich noch in Spanien werde die lateinische Ausgangsschrift unterrichtet.
In Schweden und England können sich die Schulen ihr Schriftmodell selber aussuchen, und in Neuseeland schreiben die Kinder bis zur vierten Klasse mit Druckschrift. „Es gibt keine Anzeichen, dass Menschen, die erst die Druckschrift und dann eine verbundene Ausgangsschrift lernen, langsamer schreiben“, sagt Brinkmann.
Wenige Erwachsene – die nach jahrelanger Erfahrung eine sehr ökonomische Handschrift entwickeln – würden noch so schreiben wie in der Schule. Studien zufolge verbinden sie nicht jeden Buchstaben einzeln, wie das die Norm eigentlich vorsieht, sagt Brinkmann. „Sie setzen dazwischen auch mal den Stift ab.“ Der Zwang, alle Buchstaben eines Wortes zu verbinden, führe schneller zum Krampf in den Händen, behauptet die Pädagogin. „Das merken Sie, wenn Sie mal versuchen, das Wort ‚Silvesterfeuerwerk‘ durchgängig zu schreiben.“
Für den Grundschulverband hat Brinkmann die Lehrpläne der 16 Bundesländer untersucht. Ihr Fazit: „Da steht nirgendwo, dass Kinder die lateinische Ausgangsschrift lernen müssen. Das Ziel ist die persönliche Handschrift der Kinder – und die darf auch eine verbundene Druckschrift sein.“
Die Grundschrift darf nicht nur in Hamburg, sondern auch in Nordrhein-Westfalen erprobt werden. Selbst im Süden ist man interessiert: Bayern will das Experiment zum Ende der Sommerferien im September an vier Grundschulen starten, Baden-Württemberg an 16 Schulen. Brinkmann begleitet die Versuche in Schwäbisch Gmünd wissenschaftlich. Sie sammelt Schriftproben von Erstklässlern der dortigen Klösterleschule.
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Einige Zeitungen finden sich dagegen auf der Seite der Kritiker des Schulexperiments. So ließ die Berliner Tageszeitung die frühere Lehrerin und Buchautorin Karin Pfeiffer-Stolz zu Wort kommen. Aus ihrer Sicht ist die Grundschrift fürs Lernen eher hinderlich. Nur noch zu drucken statt zu schreiben sei wie ein Wettrennen in Holzpantoffeln statt in Turnschuhen, monierte sie.
Die konservative Frankfurter Allgemeine sieht die deutsche Kulturpolitik sogar an einem Scheideweg. Schon jetzt könnten die Deutschen kaum noch alte deutsche Schriften lesen. Bestes Beispiel sei Bundespräsident Christian Wulff: Er habe in einem Interview eingeräumt, die Familienchronik seines Großvaters nicht lesen zu können, weil diese in der altdeutschen Sütterlin verfasst sei.
Diese und alle anderen deutschen Schreibschriften entstanden ab dem 15 und 16. Jahrhundert aus der Fraktur. Die erste Verkehrsschrift in den deutschen Ländern war die schräg geneigte Kurrent, mit der auch Goethe und Schiller ihre Gedichte verfassten. Die Kurrentschrift eignete sich besonders für den Gänsekiel. Anfang des 20. Jahrhunderts entwarf der Grafiker Ludwig Sütterlin eine neue, senkrecht ausgerichtete Schrift. Die Sütterlin ging mit den damals üblichen Stahlfedern einfacher von der Hand. Sie war zwischen 1924 und 1941 die verbindliche Schreibschrift in den deutschen Ländern. Ausgerechnet die Nationalsozialisten, die die altdeutschen Lettern fälschlicherweise als „jüdisch“ brandmarkten, schafften die Sütterlin ab. Stattdessen wurde die Deutsche Normalschrift eingeführt, später abgelöst durch die Lateinische Ausgangsschrift (LAS).
Nach dem Krieg entwickelten sich in Ost und West weitere Varianten. 1968 wurde in der damaligen DDR die sogenannte „Schulausgangsschrift“ (SAS) eingeführt, deren Kleinbuchstaben noch weitgehend der lateinischen Norm entsprechen. Dagegen kommen die Großbuchstaben der SAS ohne Schnörkel daher. In der Bundesrepublik setzte sich ab 1973 vielerorts die „Vereinfachte Ausgangsschrift“ (VA) durch. In Nordrhein-Westfalen hat diese Variante, die der Druckschrift am ähnlichsten ist, die lateinische Ausgangsschrift am weitesten verdrängt.
Die Münchner Schreibexpertin Ute Andresen sieht die neue Grundschrift mit Grausen. „Leere Versprechungen, falsch gedacht und irreführend!“, wettert die Pädagogin. „Wie Erwachsene schreiben, darf nicht Modell für Anfänger sein.“
Die Ausgangsschrift brauche ausführliche Formen und Verbindungen, die später individuell vereinfacht werden könnten. „Die einzelnen Buchstaben müssen sich geschmeidig verändern können, je nachdem, wo sie eingefügt werden. Nur so wird das Schreiben flüssig“, erklärt Andresen. Wenn Buchstaben aber „formstabil“ geschrieben werden sollen, könnten schnell Unleserlichkeiten entstehen. Das sei etwa an den Kinderschriften nach der Vereinfachten Ausgangsschrift zu sehen.
Probleme beim Erlernen der Schreibschrift entstehen aus Andresens Sicht vor allem dann, wenn sich die Schüler schon mit der Druckschrift ungünstige Bewegungsmuster aneigneten. „Das Grundschrift-Konzept sieht aber vor, dass Kinder eigenwillige Bewegungsmuster entwickeln und beibehalten dürfen“, moniert Andresen. Dabei könnten Kinder die Schreibschrift binnen drei Wochen erlernen, wenn sie die Druckbuchstaben gleich in verbindlicher Linienführung eingeübt hätten.
Noch schlimmer sei, dass die Kinder bei den Hausaufgaben von niemandem Hilfe erwarten könnten. „Weder die Eltern noch die Erzieher kennen die Grundschrift, so dass es zu Hause zu unfruchtbaren Zankereien kommen wird.“ Andresen kritisiert, dass der Grundschulverband die Schule nun zu einem „Testfeld“ machen wolle.
Einen Versuch für eine neue Schreibschrift gab es in Hamburg schon einmal. 2001 brachte die Lehrerin Amelie Sjölin den Kleinen nur die Druckschrift bei. In der zweiten Klasse sollten die Kinder dann die Buchstaben verbinden. Hier und da konnten sie sich auch an Alternativen ausprobieren. Mehr noch: Wer weiter gedruckt schreiben wollte, durfte das.
Das Ergebnis: Die Wahlfreiheit führte zu größerer Unsicherheit, den Kindern fiel das Schreiben insgesamt schwerer. Eine verbindliche Ausgangsschrift – wie die Schulausgangsschrift –, so lautete das Fazit der Wissenschaftlerin, engt zwar die individuelle Gestaltungsfreiheit der Schüler ein. Sie erleichtert aber den Lernprozess.
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