- Kein Hoch auf die ästhetische Monokultur
Er liebt die Wüste, die postkommunistischen Denker und das Theater: Mit einer „Tannhäuser“-Inszenierung eröffnet Sebastian Baumgarten diesen Monat die Bayreuther Festspiele.
Wie hat man sich ein reales Leben in Widersprüchen vorzustellen? Zum Beispiel so, dass man in Berlin im Herzen des zu Tode sanierten Prenzlauer Bergs wohnt und sich trotzdem auf die systemkritischen Schriften von leidenschaftlichen Querdenkern wie Slavoj Žižek, Boris Groys oder Dirk Baecker bezieht. Oder dass man im Theater die Vielfalt von disparaten Informationen und Sinneseindrücken abzubilden versucht, die sich daheim zwischen überteuerten Bioläden und aufgemotzten Boutiquen zum eindimensionalen Wellnessklima verdickt.
Der Regisseur Sebastian Baumgarten lebt seit 14 Jahren in dem inzwischen republikweit bekannten Stadtbezirk und kennt noch die Zeiten, als in den Parks die Penner beim Dosenbier krakeelten und in den bröckelnden Häuserfassaden die Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg zu sehen waren. Dass jetzt alles dermaßen glatt und hübsch geworden ist, geht ihm zunehmend auf die Nerven, nicht nur wegen der ästhetischen Monokultur, sondern vor allem wegen der Geschichtslosigkeit, die historische Brüche und Zäsuren einfach zuspachtelt. Als Single hatte er ein Appartement im Dachgeschoss und liebte den freien Blick, den es ihm bot. Mit seiner Familie mietete er sich dann in einem gediegen renovierten Altbau ein. Hier ist ihm allmählich „zu viel Umgebung und zu wenig offener Himmel“ ringsherum.
Wir sitzen an dem großen länglichen Holztisch im zentralen Koch-, Ess- und Wohnraum, Sebastian Baumgarten schenkt Tee ein. Er ist hochgewachsen, sportlich schlank und hat sich trotz der langsam ergrauenden Haare ein jungenhaftes, manchmal fast verlegen wirkendes Lachen bewahrt. Immer wieder zieht es ihn in die ungebundenen Weiten der nordafrikanischen Wüste. „Das Wohnen ist mir nicht so wichtig wie das Unterwegssein“, sagt der bekennende Nomade. Die Tage zu Hause zwischen zwei Inszenierungen in anderen Städten genießt er trotzdem sehr. Die kleine Tochter, die seine Lebensgefährtin, die Schauspielerin Kathrin Angerer, mit in die Beziehung brachte, ist gerade zusammen mit dem gemeinsamen Sohn in der Kindertagesstätte, die Mutter selbst hat Proben in der Volksbühne. Zwei Katzen streunen durch die luftige Vierzimmerwohnung mit den abgeschliffenen Dielen. Die Wände sind weiß, die Möbel eine unprätentiöse Mischung aus Erbstücken, Fundsachen und Neuerwerbungen.
Geboren 1969 in Ostberlin, studierte Baumgarten an der Hanns-Eisler-Hochschule Opernregie, assistierte bei Ruth Berghaus, Einar Schleef und Robert Wilson. Letzterer bedankte sich mit einer Zeichnung, die heute gerahmt an einer Wand lehnt. Bei verschiedenen Produktionen wurden Baumgarten wegen seiner Liebe zum Autofahren – für ein Formel-1-Rennen schaltet er den Fernseher auch schon mal im Morgengrauen ein – allerlei Spielzeugfahrzeuge geschenkt. Ein paar davon bewahrt er im „Arbeits- und Müllraum“ auf, den er sich mit seiner Partnerin teilt. An der Wand hängt hier ein Porträt Bertolt Brechts. Den Siebdruck des Künstlers Arno Mohr erhielt Baumgarten von seinem Großvater Hans Pischner, dem langjährigen Intendanten der Berliner Staatsoper.
Schon als junger Mensch hatte Baumgarten dort direkten Kontakt zur Kunst und zu den Künstlern und befolgte beim Militärdienst einen Rat, den ihm Ruth Berghaus gab, nachdem ihn ihre Proben zu Schönbergs „Moses und Aron“ begeistert hatten: „Lies Brecht!“ So viel wie bei der Volksarmee hat er nie wieder gelesen, erzählt er. In der NVA-Bibliothek konnte er als Wachsoldat kurioserweise auch in der DDR sonst kaum erhältliche Titel von Heiner Müller, Christoph Hein oder Volker Braun bestellen – wenn am Donnerstag der frische Lesestoff eintraf, war die Woche in der Kaserne gerettet. Von diesen Autoren hat er auch heute noch manches Buch im Regal, wenngleich er inzwischen kaum mehr Belletristik liest. Gegen die Zwangsläufigkeit der Narration hat er eine gewisse Abneigung entwickelt, bevorzugt eher die diskursiven Jongleure wie Dietmar Dath oder die romanesken Theoretiker wie Michel Houellebecq, dessen Roman „Plattform“ ihn besonders beeindruckt hat. Südamerikanische Erzähler wie Gabriel García Márquez, Mario Vargas Llosa oder Alejo Carpentier liebt er wegen ihrer pittoresken Magie und des Reichtums ihrer Bilder. Dass sich der Regisseur Baumgarten für seine szenische Bühnensprache viel vom Leser Baumgarten abschaut, steht außer Frage. Scheu vor Referenzgrößen hat er keine.
„Sie werden lachen – die Bibel“ war Brechts bekannte Antwort auf die Frage nach seiner Lieblingslektüre. Auch bei Baumgarten gibt es eine schwere Bibel. Sie stammt aus dem 17. Jahrhundert und wurde einst von seiner Großmutter auf dem Flohmarkt erworben. Sie liegt auf dem Schreibtisch, direkt neben seinem iPod. Der prächtige Foliant ist dem Enkel ein Gebrauchsgegenstand wie alles andere in seiner uneitel und lebendig wirkenden Wohnung. Bücher sind über alle Räume verteilt und werden so selbstverständlich benutzt wie der hohe Katzenkratzbaum oder das elektronische Klavier für die Kinder und den Hausherrn, der einmal Jazzpianist werden wollte. Die Oberhoheit über das Regal mit den Theoretikern, das sich nahe dem schlichten Sofa im Wohnzimmer befindet, obliegt aber ausschließlich ihm. Hier stehen nämlich die Autoren, die seine Theaterarbeit maßgeblich beeinflussen, schon seit frühen Studientagen: Jean Baudrillard, Georges Bataille, Michel Foucault, Peter Sloterdijk oder Niklas Luhmann. Man merkt den Schriften der poststrukturalistischen und postkommunistischen Philosophen die intensive Nutzung an. Viele Einbände sind abgeschmust wie ein geliebter Teddybär. „Extrem wichtig“ sind Baumgarten momentan die Werke des Kunstwissenschaftlers Boris Groys, etwa „Unter Verdacht: Eine Phänomenologie der Medien“. In diesem Denken, findet er, werde die Dialektik radikal weitergetrieben.
Daneben findet sich viel Literatur, die in der DDR offiziell verpönt war. Die Werke von Friedrich Nietzsche etwa, bei dem Baumgarten schnell erkannte, dass man es sich mit seiner Einordnung in den Präfaschismus viel zu leicht machte. Ihn faszinierte, dass Nietzsche Ebenen der Intellektualität jenseits von kausallogischen Normen fand.
Das Andere, das Gegenteil, in allem den immer immanenten Widerspruch aufzuspüren, ist eines der vorrangigen erkenntniskritischen Interessen des Regisseurs Baumgarten. Bereits als Oberspielleiter am Staatstheater Kassel Ende der neunziger Jahre war er deshalb besonders von Slavoj Žižek fasziniert. Mit seinem Intendanten Armin Petras schaffte er es damals sogar, dass der slowenische Philosoph zu einem Vortrag am Theater anreiste. Ihm folgt er überdies gern auf DVD und hat etwa Žižeks „The Pervert’s Guide to Cinema“ in seine Mediathek eingereiht – zwischen die bevorzugten Filmemacher Jean-Luc Godard, David Lynch, Lars von Trier („Mein amoralischer Freund, der Antiaufklärer“) und die Videoclip-Koryphäen Spike Jonze, Michel Gondry und Chris Cunningham.
Auch mit dem für seine provokanten raumgreifenden Installationen bekannten Künstler Joep van Lieshout beschäftigt er sich schon seit Jahren, wie die zahlreichen Bildbände und Kataloge zeigen, eingereiht zwischen Publikationen zu Matthew Barney, Paul McCarthy und Jonathan Meese. Baumgarten schätzt die utopischen, gesellschaftskritischen Szenarien des Holländers so sehr, dass er ihn eingeladen hat, das Bühnenbild zu seiner Inszenierung von Richard Wagners „Tannhäuser“ zu entwerfen, mit der er diesen Monat die Bayreuther Festspiele eröffnen wird.
Für seine von ansteckender Lust an künstlerischer Streitbarkeit getragenen Aufführungen wählte das Fachblatt Opernwelt Baumgarten 2006 zum Regisseur des Jahres. Auch wenn er mit freundlicher Lässigkeit manchmal scherzhaft von seinem „elektronischen Lebensgefühl“ spricht, Bücher, so Baumgarten, sind ihm immer noch am liebsten auf Papier. Selbst im postmodern dekonstruktivistischen Kosmos des Sebastian Baumgarten gibt es eben ein paar Dinge, an denen er sich festhalten können möchte.
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