Bücher des Monats - Kein Glück, nirgends

Wie Antje Rávic Strubels Roman um Liebe und Verrat mit dem DDR-Sozialismus und dem gesamtdeutschen Kapitalismus abrechnet

Das Zentrum ist leer. Dort, wo der Sitz der Gefühle sich benden sollte, jene von innen nach außen jäh alles umstülpende Mitte, ist hier nichts. Eine LKW-Fabrik dagegen gibt es in Antje Rávic Strubels neuem Roman «Tupolew 134», gelegen in einem von Flugsand durchwehten Ort namens Ludwigsfelde, im Brandenburgischen zu Zeiten der DDR. In dessen Nähe wiederum ndet sich ein Teich mit dem sprechenden Namen Pechpfuhl, welchen nach Arbeitsschluss Läufer und Mopedfahrer umrunden. Mit dem 30. August 1979 dann fügt sich zu diesem Ensemble noch ein Flugzeug des Typs, von dem der Roman seinen Titel bezieht. Und vier zentrale Personen sind auch da, zwei Männer und zwei Frauen. Von ihnen und ihren wechselseitigen Verbindungen wie Verstrickungen geht all das aus, was Katja Siems und Lutz Schaper schließlich nach Gdansk, dort in eine Urlauber-Maschine der Fluggesellschaft LOT und mit derselben in den Westen, auf den Flughafen Berlin-Tempelhof expediert – und den West-Berliner Fluchthelfer Hans Meerkopf in den Stasi-Knast.
 
Menschen also gibt es hier durchaus und Aktivitäten der vielfältigsten, Beobachtungen der genauesten Art auch, die einen Zeitraum von über zehn Jahren – vom Jahr 1978 bis nach der Wende – unter verschiedenen Perspektiven erfassen. Einen emotionalen Glutkern aber, der die Begebenheiten aus dem Inneren der Akteure heraus unausweichlich antriebe, ndet man nicht: «Tupolew 134» kennt keine landläuge Psychologie – dazu ist die Depravierung der Seelen offenbar schon zu weit fortgeschritten. Auch von einem selbst gemachten «Schicksal» der Protagonisten kann hier folglich keine Rede mehr sein.
 
Dabei sind in diesem Roman enorme Kräfte am Werk, die tektonische Verschiebungen teils extremer Art im Dasein der handelnden Individuen bewirken. Sein Geschick nämlich wird dem Einzelnen hier, nicht anders als in der griechischen Tragödie, von außen aufgenötigt – er hat auszuagieren, was Mächtigere über ihn verhängt haben. Nur so kommt individuelle Geschichte hier zustande: als Verhängnis. Hat es sich vollzogen, muss der Mensch sehen, wie er sich und seine Lebensreste unter veränderten Bedingungen wieder zusammenbringt. Die persönliche Absicht: ein Irrläufer. Der freie Wille: eine Schimäre.
 
Ein pechschwarzes Stück Literatur Für einen europäischen Roman vom Anfang des dritten Jahrtausends ist das eine ziemlich ungewöhnliche Ausgangsposition – die Götter schließlich sind schon lange tot. Es ist aber auch kein Hiob da, der Klage erhöbe, rechten wollte oder hadern, niemand, der sich ernsthaft wehrte gegen das, was mit ihm und über ihn hinweg seinen bösen Lauf nimmt. In ganz schwacher Abtönung nur lässt Antje Rávic Strubel in der Figur der lebenshungrigen Katja Siems noch Reste der tradierten Vorstellung erkennen, der Einzelne sei ein Besonderer mit einem besonderen Anrecht auf Glück. 
Ihr Roman nämlich ist ganz von heute. «Schicksal» wird hier gestiftet und bestimmt vom historischen Prozess selbst, ohne Ansehen der Person – allein um dessen Wirken geht es, das gegen den Einzelnen und dessen Wünsche gänzlich gleichgültig bleibt. Je nach der geschichtlichen Strömung, in die ein Mensch gerät, verschlägt es ihn hier- oder dorthin. So landen Katja Siems und Lutz Schaper im Westen und bleiben dort, bis eine historische Wendung gut zehn Jahre später plötzlich die Mauer einreißt. Da treibt es Lutz wieder nach Ludwigsfelde zurück, während Katjas Vater im Gegenstrom als Besucher bei seiner Tochter in West-Berlin anlandet. Und den verratenen Hans Meerkopf dürfte es spätestens bei dieser Gelegenheit aus dem Gefängnis in Hohenschönhausen wieder in den Westen spülen. 
 
Nur Verona, Katjas beste Freundin, mit all ihren selbstgewobenen, widersprüchlichen Lebenslegenden eines verlassenen Kindes – sie wird geblieben sein, wo sie immer schon war. In ihrer verzweifelten inneren Abgetrenntheit von allem wirklich Lebendigen ahnte sie womöglich als Einzige, was die anderen unter Mutwillen, Anstrengung, Angst, Resignation und Ernüchterung erst erfahren müssen: Wer versucht, seine Lebensbedingungen eigenmächtig zu verändern, wird am Ende auch nicht glücklicher sein.
 
Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf: Liebe gebiert Verrat. Vor allem aber ist der Mensch ein Spielball der jeweiligen politischen Macht-Verhältnisse – was die Aussichten des Einzelnen auf Glück angeht, ist «Tupolew 134» ein tiefschwarzes Stück Literatur. So weit nämlich hat sich hier die Interesselosigkeit der Mächtigen gegenüber dem Dasein des Einzelnen in diesen selbst eingefressen, dass er von selbst kaum noch etwas weiß. Dass das Zentrum dieser Figuren hohl ist (und bleibt), folgt aus den Verhältnissen, unter denen sie leben; das gilt in «Tupolew 134» für den DDR-Sozialismus ebenso wie für den Kapitalismus der vereinigten Bundesrepublik.
 
Die Folgen unerkannter Liebe In Katja Siems, der jungen, attraktiven, ungebärdigen Tochter eines eigensinnig denkenden Lehrers, Arbeiterin im LKW-Werk von Ludwigsfelde, taucht eines Tages der Satz auf: «Ich lebe nicht mehr gern so.» Ihre Freundin Verona, die Katja liebt, ohne es wahrhaben zu können, ist nicht minder attraktiv, aber angepasst; und gefährdet auf besondere Weise. Früh verlassene Tochter eines im Westen aktiven Stasi-Spitzels, wird auch sie von Vaters «Firma» engagiert: Ihre aufmüpge Freundin Katja soll sie bespitzeln und tut es wohl auch. Der Leser ahnt, warum: aus frühem Liebes-Verlust und wegen der Bedrohung ihrer uneingestandenen Liebe gleichermaßen.
 
Denn Katja hat sich mit dem West-Berliner Hans Meerkopf liiert, den seine Firma zum Zweck des sachgemäßen Einbaus westdeutscher Bauteile nach Ludwigsfelde entsandt hat. Für niemanden ist schwer zu erraten, wohin das führen soll – Katja, von sexuellem Begehren, keineswegs aber von Liebe zu Meerkopf getrieben, will die DDR verlassen. Und während der Westdeutsche lange nicht weiß, was er selbst in diesem Spiel ums bessere Leben will oder zu erwarten hätte, während er also schwankt und sich schließlich doch für Katja und ihre Flucht entscheidet, ist da auch noch Lutz Schaper, Arbeitskollege Katjas und Veronas. Eifersüchtig auf Meerkopf, würde Lutz Katja überallhin folgen; umso lieber, wenn er den als Westler immer überlegenen Meerkopf unterwegs loswerden könnte. 
Ein Beziehungs-Quartett also hat Antje Rávic Strubel hier zusammengespannt, in dem so etwas wie Liebe Schaper und Verona motiviert, während Meerkopf und Katja die längste Zeit nur spielen – mit ihren Vorstellungen vom anderen Leben, mit der Liebe jeweils aller, aber schließlich auch mit ihrer eigenen Existenz. Denn Lutz Schaper und Katja werden nach Gdansk reisen, vorgeblich, um ihre Verlobung mit einer Reise ins sozialistische Ausland zu feiern. Hans Meerkopf soll ihnen dort gefälschte Pässe übergeben, mit deren Hilfe sie den mutmaßlich Glück bringenden Westen erreichen wollen. 
 
Republikflucht mit Spielzeugpistole Doch wird Meerkopf im Zug nach Gdansk von den DDR-Behörden abgefangen: Jemand hat ihn verraten. Worauf sich Schaper und Katja zu einer Tat entschließen, die zunächst auch wieder nur ein Spiel ist. Mit einer auf dem Trödelmarkt gekauften Spielzeugpistole entführt Schaper die Tupolew 134 nach Berlin-Tempelhof; Katja war es, die mit ihrem unwiderstehlichen Lächeln die untaugliche Waffe in die Maschine geschmuggelt hat. 
 
Folgt ein Prozess vor einem alliierten Gericht, dessen Grundlage Katjas Geständnis bilden soll – ein US-Geheimdienstmann hat es sich durch scheinbare menschliche Zuwendung erschlichen. Doch ein westdeutscher Anwalt, im Verein mit dem auf (amerikanischem) Recht und Gesetz bestehenden amerikanischen Richter, verhilft den Flüchtlingen zur Freiheit.
 
Das könnte ein tröstliches, ein Hollywood-Ende sein – hier aber nicht. Nicht nur sitzt Hans Meerkopf weiterhin in Stasi-Haft (und wird von der Erzählerin ebenso wie die potenzielle Verräterin Verona irgendwann beiseite gelassen). Auch für Katja und Lutz geht das radikale Unternehmen nicht wirklich gut aus. Beide leben nach ihrer Freilassung in West-Berlin, beide arbeiten für Meerkopfs ehemalige Firma, aber zueinander haben sie kaum noch Kontakt – für ihr persönliches Leben hat sich, Flucht hin, Freiheit her, nichts geändert. Auch die Wende bringt keine Besserung: Katjas Vater kann seine Tochter nun in West-Berlin besuchen, das ist alles. Lutz Schaper im Nach-Wende-Grau(en) von Ludwigsfelde wird voraussichtlich endgültig der Depression verfallen.
 
Die Geschichte von «Tupolew 134» geht auf einen realen Fall zurück, Antje Rávic Strubel hat ihn genau recherchiert. Um ihn aus ihrer besonderen Welt-Sicht erzählbar zu machen, hat sie sich eine komplizierte Form gebaut: In einem historischen «Schacht» bewegt sich der Leser, zwischen «oben», «unten» und «ganz unten», wobei «oben» Katjas Sicht auf die Entwicklungen ex post wiedergibt. Die erzählt sie einer jungen West-Journalistin – und wird sich mit ihr zusammen ganz am Ende in die Luft sprengen.
 
Ob es dieses zwischen Zeiten, Orten, Personen und Perspektiven auf und ab, hin und her springende Verfahren wirklich gebraucht hätte, darf man sich fragen. Denn Antje Rávic Strubel kann wunderbar erzählen und die (immer leicht dämmrig erscheinenden) Stimmungen im DDR-Ambiente zwischen LKW-Werk und Arbeiterwohnheim ebenso fein evozieren wie die eher im Neonlicht vorzustellenden Verhörsituationen an der Tischtennisplatte in Berlin-Tempelhof zwischen dem scheinbar so sympathischen amerikanischen Ofzier und seinem östlichen Ausforschungsobjekt.

Freilich wäre ohne dieses Form-Konstrukt die Nachricht an den Leser wohl weniger eindeutig hervorgetreten: dass die Geschichte der gewöhnlichen Leute ihren ganz gewöhnlichen Lauf nimmt, selbst wenn sie sich einmal, spektakulär, dagegen aufgeworfen haben. Dass, wer den emotionalen Zugang zu seinen Glücks-Möglichkeiten eingebüßt hat, in jedem politischen System verunglücken oder doch mindestens freudlos bleiben wird. Und dass es schließlich die gesellschaftlichen Verhältnisse östlicher wie westlicher Provenienz gleichermaßen sind, die dafür sorgen, dass der Einzelne seine Empndungen verliert.

Wenn die Erzählerin schließlich dem Bedürfnis nachgibt, die Lunte anzubrennen, wird der Leser das verstehen: kein Glück, nirgends. Zugleich allerdings fliegt ihm dabei auch seine eigene Geschichte um die Ohren.

Antje Rávic Strubel
Tupolew 134. Roman
C.H. Beck, München 2004. 318 S., 19,90 €

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.