Das Journal - Kafka-Roman mit umgekehrten Vorzeichen

«Theresienstadt 1941–1945», H. G. Adlers bahnbrechende Studie über das NS-«Vorzeigelager», wurde endlich neu aufgelegt

Wer die Geschichte des Konzentrationslagers Theresienstadt erkunden will, stößt unweigerlich auf dessen Chronisten H. G. Adler. Terezín: Den Nazis gelang es, der Außenwelt lange vorzugaukeln, die nördlich von Prag gelegene Festung sei ein Ort «für Privi­legierte», eine eigene jüdische Stadt unter der Leitung eines «Ältestenrats». Theresienstadt diente als «Vorzeigelager» für internationale Kommissionen. In Wahrheit war es ein Umschlagplatz in den Tod; eine Durchgangsstation, von der die Opfer nach Ausch­witz weiterdeportiert wurden.

Adlers  Studie «Theresienstadt 1941–­1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft» erschien 1955, gilt heute noch als Standardwerk und ist ein Klassiker der Wissenschaft über die Shoah. Die Monografie schildert das Lager aus historischer, soziologischer und psychologischer Sicht und besticht durch akribische Analyse wie auch durch literarische Qualität.

In einem vorangestellten Wörterverzeichnis entlarvt H. G. Adler das Vokabular des Verbrechens und offenbart, was sich hinter Begriffen wie «Transport», «Überalterung» oder «Umsiedlung» verbarg, und wie sie im Alltag verwendet wurden. Unter dem Eintrag «Stern» notiert er: «Man sah Leute bestürzt auf der Straße: ‹Ich habe meinen Stern vergessen!›. Oder sie wurden angehalten: ‹Wo haben Sie Ihren Stern?› Dann eilten sie mit schützend vorgehaltener Hand in ihr Quartier.»

Hans Günther Adler, 1910 in Prag geboren, kannte diese Sätze nur allzu gut. Bereits 1942, bald nach seiner Deportation nach The­re­sienstadt, hatte er den Entschluss zur Nie­derschrift des Buches und zur Erforschung des Lagers gefasst. Durch Untersuchung und Erinnerung widersetzte er sich dem Terror, der vor der physischen die psychische Vernichtung der Juden anstrebte. «So wurde der Häftling zum Beobachter, der Beobachter zum Theoretiker, der Theoretiker zum Zeugen und der Zeuge zum Warner», schreibt sein Sohn Jeremy Adler.


Schreiben, um zu überleben

Während der Haft in Auschwitz und in Nebenlagern von Buchenwald vertiefte H. G. Adler seine Einsichten über den Massenmord. Er überlebte. Achtzehn seiner nächsten Verwandten, darunter seine Frau, seine Eltern und Schwiegereltern, wurden ermordet. Nach der Befreiung arbeitete er im Prager Jüdischen Museum. Anfang 1947 – ihm war wegen der deutschen Muttersprache die tschechische Staatsbürgerschaft aberkannt worden – floh er nach London, wo er seine Studien fortsetzte und an seinem Buch weiterschrieb.

Als das Werk 1955 erschien, wurde seine Bedeutung sogleich erkannt und gewürdigt, so von Hermann Broch, Elias Canetti und Theodor W. Adorno. Von Kollegen wie Eugen Kogon oder Raoul Hilberg wurde es rasch rezipiert. Unübertroffen bleiben Adlers philosophische Betrachtungen über die Struktur der Vernichtung. Nirgends wurde eindringlicher beschrieben, wie sich das Gefüge der Macht in jenem der Ohnmacht spiegelt, wie die Täter die Opfer zu Agenten der eigenen Ver­nich­tung machten. Adler zeigte auf, wie die Juden in die Verbrechen verstrickt wurden – aber auch, weshalb das totalitäre Verbrechen ihnen keine Wahl bot. Der Autor selbst bezeichnete sein Buch einst als «Kafka-Roman mit umgekehrten Vorzeichen, der Wirk­lichkeit nachgeschrieben». H. G. Adler überlebte, um zu schreiben, und schrieb, um zu überleben. 

 

Hans Günther Adler
Theresienstadt 1941–1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft
Mit einem Nachwort von Jeremy Adler.
Wallstein, Göttingen 2005. 986 S., 49 €

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