Kurz und Bündig - Jakob Hein: Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht

Jakob Hein scheint sich darauf zu spezialisieren, schmale Romane zu veröffentlichen, für die sich das Attribut «charmant» aufdrängt. In «Herr Jensen steigt aus» zeichnete er den Abgang eines um seine Arbeit gebrachten Aushilfspostboten nach, und auch in Heins neuem Roman treffen wir auf eine eigentümliche Hauptfigur, deren Sozialkontakte recht überschaubar sind.

Jakob Hein scheint sich darauf zu spezialisieren, schmale Romane zu veröffentlichen, für die sich das Attribut «charmant» aufdrängt. In «Herr Jensen steigt aus» zeichnete er den Abgang eines um seine Arbeit gebrachten Aushilfspostboten nach, und auch in Heins neuem Roman treffen wir auf eine eigentümliche Hauptfigur, deren Sozialkontakte recht überschaubar sind. Boris Moser heißt der Sonderling, ein einfallsreicher junger Mann, der eine «Agentur für verworfene Ideen» aufmacht. Boris’ Bestreben ist es, all das zu recyceln, was die Menschheit an Überlegungen im Lauf der Zeit voreilig aussortiert hat, und diese miteinander zu verknüpfen. Natürlich – wer hätte anderes vermutet? – bleibt die Kundenfrequenz des Agenten Moser niedrig, ja, genau genommen, basiert das Geschäft vor allem auf den windschiefen Projekten des Inhabers selbst. Der Zufall will es jedoch, dass sich eines Tages eine attraktive Frau, Rebecca, in der Agentur einfindet. Als Boris seiner selbstbewussten Kundin erläutert, warum er sich weigert, die so häufig offerierten Roman-Anfänge anzunehmen («mit nichts können wir we­niger anfangen»), nötigt ihn diese dazu, von seinem schriftstellerischen Tun zu erzählen. So baut Jakob Hein einen Rahmen, der es ihm erlaubt, mehrere Binnenstränge aneinan­der­zureihen. Boris Mosers zurückgehaltener Roman-Anfang erzählt von Sophia, einer jungen Frau, die ihrer Fähigkeit, Gedanken zu lesen, überdrüssig ist und mitten auf der Straße zu Boden sinkt. Auf der Intensivstation gibt sie einem verblüfften Arzt ihre Geschichte preis, die von ihrer Zeit als Sekretärin eines berühmten, erblindeten Schriftstellers handelt. Dieser wiederum diktierte Sophia einen Roman, in dessen Mittelpunkt der Gelehrte Heiner steht. Diese Faust-Figur (schon der Titel von Heins Roman ist ja ein Zitat aus Goethes «Osterspaziergang») strebt danach, aus allen weltweisen Büchern den Sinn des Lebens zu destillieren. Kurz: «Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht» ist ein Roman, der viel Aufwand betreibt, um die sich anbahnende Liebe zwischen Rebecca und Boris auf den Weg zu bringen. Jakob Hein umkreist Situationen, die davon leben, dass Menschen einander zuhören (müssen). Wie sich Sophia am Krankenlager öffnet, so lebt der blinde Großschriftsteller letztlich davon, wenigstens bei Sophia Resonanz für sein letztes Buch, das nie veröffentlicht wird, zu bekommen. Und Boris fürchtet, seine schöne Zuhörerin nur so lange bei Laune halten zu können, bis sein «Romananfang» ans Ende kommt. Vielleicht – so der Eindruck auf den letzten Seiten – gelingt es der forschen Rebecca ja, die Notwendigkeit zum ewigen Diskurs zu durchbrechen und mit einer handfesten Einladung auf eine Kürbissuppe Alternativen zur Studierstube aufzuzeigen. Jakob Hein hat, wieder einmal, ein leichtes Buch geschrieben, das vor allem in seinen unpräten­tiösen Dialogen besticht. Wo mit verhaltenem Witz über die einzig denkbaren Arten, Milch­kaffee zuzubereiten oder die Chinesische Mauer zu würdigen, räsoniert wird, folgt man den Biegungen des Erzählflusses gern. Mühsamer wird es, wenn die postmodernen Spielereien des Autors seiner kleinen Geschichte zu viel erkenntnistheoretischen Ballast aufbürden. «Du hast wohl recht, ich finde nicht die Spur / Von einem Geist, und alles ist Dressur», heißt es im «Faust»; und es drängt sich der Gedanke auf, dass ein Mehr an freiem Lauf und ein Weniger an erzählerischer Dressur diesem Roman gut bekommen wäre. «Charmant» ist eben, sofern von Literatur gesprochen wird, kein überzeugendes Qualitätsargument.

 

Jakob Hein
Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht
Piper, München 2008. 176 S., 16,90 €
 

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