() Hans Magnus Enzensberger
Im Irrgarten der Intelligenz
Intelligenz ist das, was der Intelligenztest misst, sagen Psychologen. Für einen Denker wie Hans Magnus Enzensberger reicht diese Antwort bei Weitem nicht aus. Eine literarische Expedition auf den Fährten eines umstrittenen und schillernden Begriffs
Öffnen wir also den Intelligenz-Container einen Spalt weit und lassen die Eingeschlossenen frei. Als erste stellen sich vor: der Vernünftige, begleitet von seinem kleinen Bruder, dem Verständigen, und gefolgt vom Klugen, vom Einsichtigen und vom (Erz- oder auch Blitz-)Gescheiten. Es dürfte auf der Hand liegen, daß es sich dabei keineswegs um Synonyme handelt. Auch in der langen Prozession, die folgt, mag es Ähnlichkeiten geben, aber eineiige Zwillinge wird man kaum entdecken. Während sich nämlich der eine geistvoll gibt, ist der andere weise. Es treten ferner auf den Plan: der Hell-, der Weit- und der Umsichtige, der Klardenkende, der Hochbegabte, der Scharf-, der Fein- und der Tiefsinnige. Auch der Geistesgegenwärtige darf nicht fehlen. Es wäre fatal, den Besonnenen mit dem Gewitzten zu verwechseln oder gar den Begabten mit dem Genialen. Bescheidener tritt hingegen auf, wer nur findig, ein heller oder ein aufgeweckter Kopf ist.
Nicht jeder, den unser Container beherbergt, genießt bei seinen Mitmenschen unbedingten Respekt. Die Bewunderung für den Spitzfindigen und den Haarspalter hält sich in Grenzen. Was den Schlaumeier und das Schlitzohr, den Siebengescheiten und den Neunmalklugen angeht, so begegnet man ihnen mit herablassender Ironie. Mit Argwohn wird betrachtet, wer sich als listig, pfiffig, clever, smart oder ausgefuchst erweist. Auf diesem Gebiet ist die Konkurrenz besonders groß, und es ist nicht immer leicht zu unterscheiden, wer es bloß faustdick hinter den Ohren hat, wer mit allen Wassern gewaschen ist, wer’s bis zum Gewieften, Raffinierten und Durchtriebenen gebracht hat, und wer darüber hinaus als ausgebufft, abgefeimt, gerissen und verschlagen gelten kann. Geradezu höhnisch fällt auf jeden Fall das Urteil aus, wenn es sich um einen Wunderknaben, einen Geistesriesen, eine Intelligenzbestie oder um einen Klugscheißer handelt.
Dieses Melderegister der Container-Insassen kann natürlich keinerlei Vollständigkeit für sich beanspruchen. Es zeigt jedoch, daß es sich zu leicht macht, wer sich mit einem Passepartout-Begriff für das begnügt, was sich unter der Hirnschale abspielt.
Noch ergiebiger fällt die Gegenprobe aus.
Die Frage, wer das I-Prädikat nicht verdient, läßt eine enorme Zahl von Antworten zu. In der Negation zeigt sich erst die Fülle dessen, was man in früheren Zeiten die menschlichen Geistesgaben nannte. Ein weites und reich bestelltes Feld eröffnet sich, wenn statt von der Intelligenz von ihrer Abwesenheit die Rede ist. Auch für die Dummheit nämlich gibt es kein Wort, das der Vielfalt der Erscheinungen gerecht werden könnte. Wir müssen uns hier, statt die subtilen Unterscheidungen, die da zu treffen wären, gebührend zu würdigen, nolens volens mit einer schlichten Auflistung des Materials begnügen:
Unvernünftig; (stroh-, sau-, stock-, brunz-)dumm; blöde; dämlich; dusselig; stupide; unbedarft; trottelhaft; dickfellig; tolpatschig; minderbemittelt; hirnlos; doof; unterbelichtet; geistlos; beknackt; bekloppt; behämmert; töricht; schwer von Begriff; dumpf; verschnarcht; konfus; begriffsstutzig; hirnrissig; kopflos; borniert; engstirnig; beschränkt; stur; vernagelt; verbohrt; verschroben; hirnverbrannt; überkandidelt; unzurechnungsfähig; zurückgeblieben; närrisch; verblödet; stumpfsinnig; plemplem; idiotisch; imbezil; schwachsinnig; debil.
Darüber hinaus können wir auf ein enormes Repertoire von idiomatischen Wendungen zurückgreifen, als da sind:
Er ist auf den Kopf gefallen; hat das Pulver nicht erfunden; kann nicht bis drei zählen; ist nicht ganz dicht; hat eine weiche Birne; einen Dachschaden; eine lange Leitung; einen Sparren; einen Hau; einen Stich; einen Knall; einen Vogel; einen Zacken in der Krone; ein Brett vor dem Kopf; einen Sprung in der Schüssel; ist nicht ganz bei Trost; ist von allen guten Geistern verlassen; aufs Hirn gefallen; als Kind zu heiß gebadet worden; hat nicht alle Tassen im Schrank. Er tickt nicht richtig; bei ihm rappelt es; piept es; da ist eine Schraube locker; er spinnt; ist jeck; gaga; meschugge; balla balla…
Auch an einschlägigen Substantiven herrscht kein Mangel. Der oder jene nämlich gilt als
Dumm-, Schwach-, Hohl-, Flach, Wirr-, Dös-, Holz-, Stroh-, Schafs-, Knall- oder Plattkopf; Dödel; Depp; Dumpfbacke; Dussel; Dummerjan; Dämlack; Dummbeutel; (Voll-)Trottel; Kleingeist; Einfaltspinsel; Bierdimpfel; Schwachmathikus; Pfeife; Blödian; Schussel; Flasche; Simpel; Nulpe; Gimpel; Blödian; Seifensieder; (Voll-, Fach-)Idiot; Kretin; Spatzenhirn; Schafsnase; Zicke; Pute; Gans; Rindvieh; (Horn-)Ochse; Kuh; Esel; Gorilla; Kamel.
Dreierlei fällt an dieser Liste auf.
Zum einen ist das Vokabular, das zur Verfügung steht, wenn es um Defizite geht, weit umfangreicher als jenes, das unsere vorteilhafteren Gaben beschreibt. Zwar werden auch die nicht unkritisch gesehen; an allerhand Vorbehalten fehlt es nicht; auch Neid und Häme spielen eine Rolle. Dort, wo es um die Dummheit geht, herrscht aber durchgehend ein beleidigender Ton.
Zweitens scheint es den meisten, die ihren Ärger oder ihre Verachtung für die Dummen ausdrücken wollen, schwerzufallen, zwischen Alltag und Klinik zu unterscheiden. Das gängige Vokabular neigt dazu, Krankheit und Dummheit in einen Topf zu werfen. Unklar bleibt, ob es einem, der „nicht alle Tassen im Schrank“ hat, nur an Klugheit fehlt, oder ob es sich um einen Fall für die Psychiatrie handelt. Durch die Bank ignoriert werden die oft sehr beträchtlichen geistigen Fähigkeiten schizophrener oder autistischer Patienten. Obwohl solche Menschen oft nur einen IQ von 50 erreichen, erbringen manche von ihnen sensationelle Leistungen. Dieses Phänomen hat es sogar zu einem wissenschaftlichen Namen gebracht: Man nennt es das „Savant-Syndrom“. Ein idiot savant ist zum Beispiel in der Lage, auf Anhieb riesige Zahlen daraufhin zu prüfen, ob sie prim sind, oder er spielt mühelos eine Sonate nach, die er nur einmal gehört hat. (Die Psychologen stehen vor einem Rätsel.)
Und drittens gibt die Hartnäckigkeit zu denken, mit der alle möglichen Tiere zum Vergleich herangezogen werden, ganz so, als hätte die Evolution außer uns nur bedauernswerte Mängelwesen hervorgebracht. Merkwürdig, daß das vieltausendjährige Zusammenleben mit dem Hund, dem Schaf, dem Rind, der Ziege, dem Pferd und anderen Gefährten die Menschheit nicht eines Besseren belehrt hat, ganz zu schweigen von unserer näheren Verwandtschaft, den Primaten. Dabei sind es ja nicht nur die uns nahestehenden Tiere, die eindrückliche Leistungen vollbringen. Ein Mensch, der versucht, sich mit einem Stadtplan in der Hand zu orientieren, wirkt hilflos im Vergleich mit der erstbesten Schwalbe, weil deren winziges Gehirn ein phantastisch effektives Navigationssystem beherbergt, mit dessen Hilfe sie unfehlbar über riesige Distanzen hinweg ihren Weg findet. Sogar die bescheidene Stubenfliege ist imstande, dem verärgerten Jäger mit der Klatsche immer wieder zu entkommen, weil sie über ein beneidenswertes System der Koordination und über ein Reaktionsvermögen verfügt, dem wir nichts Vergleichbares entgegenzusetzen haben. Und „mit Hilfe geometrischer Muster am Himmel, die im Laufe des Tages ihre Lage im Raum und ihre innere Struktur verändern, aber für uns Menschen unsichtbar sind, können Wüstenameisen nach geglücktem Beutefang sekundenschnell ihre direkte Rücklaufrichtung zum Nest bestimmen. Mögen diese Fähigkeiten auch nur sehr partiell dem entsprechen, was wir mit dem I-Wort zu beschreiben suchen, so verdienen sie doch eher Bewunderung als Geringschätzung. (...)“
Bei all diesen Debatten spielt jedoch ein ganz anderes, vielleicht noch fundamentaleres Defizit der Intelligenzmessung eine Aschenputtel-Rolle. Um es zu beschreiben, genügt eine ganz einfache Umkehrung der Perspektive. Wir stellen uns die folgende Versuchsanordnung vor. Ein beliebiger Forscher aus Stanford, London oder Berlin wird mit einer der folgenden Personen konfrontiert, die seine Intelligenz einschätzen sollen:
a) mit einem Inuit aus Grönland,
b) mit einem Indio aus dem Amazonasbecken,
c) mit einem Seefahrer aus Polynesien.
Es gehört wenig Phantasie dazu, um zu erraten, wie ein solcher Test ausfiele. Unser Experte wäre hoffnungslos überfordert. Schon daß er es mit Analphabeten zu tun hätte, würde ihn wahrscheinlich irritieren. Vollends verstört wäre er, wenn diese Leute seine geistigen Fähigkeiten daraufhin überprüfen würden, ob sie ausreichten, Tausende von Pflanzen zu unterscheiden, Fährten zu lesen oder tiefe Strömungen an winzigen Nuancen der Meeresoberfläche zu erkennen. Die Blamage wäre eklatant.
Eine Ahnung von der entscheidenden Bedeutung kultureller Unterschiede hat die Intelligenzforscher gelegentlich beschlichen, so zum Beispiel John C. Raven, der 1956 einen sogenannten Matrizentest entworfen hat, um sprachliche oder kulturabhängige Fehlerquellen bei der Messung auszuschließen. Ihm war jedoch, wie allen ähnlichen Versuchen, kein Erfolg beschieden. „Vermutlich“, sagen die meisten Autoren, die sich dieser Problematik gewidmet haben, „ist es unmöglich, einen Test zu entwerfen, der als ‚culture free‘ oder zumindest als ‚culture fair‘ bezeichnet werden kann“. Der IQ-Gemeinde hat das nicht zu denken gegeben – ganz im Gegenteil.
Ein weiterer Experte, der neuseeländische Forscher James R.Flynn, hat 1987 eine aufsehenerregende Entdeckung gemacht. Er studierte die Testergebnisse, die verschiedene Populationen in den zurückliegenden sechzig Jahren erzielt haben, und stellte fest, daß sie sich in allen Ländern, für die es gesicherte Daten gibt, verbessert haben, und zwar um durchschnittlich drei Punkte pro Jahrzehnt und um fünf bis fünfundzwanzig Punkte in jeder Generation. Die Gründe für diesen „Flynn-Effekt“ haben die Gelehrten zum Grübeln gebracht. Vergrößerung des Schädeldaches? Höhere Komplexität der Zivilisation? Längere Schulbildung? Bessere Ernährung? Stärkere Mediennutzung? Fortschritte der Medizin? Auch hat es an Stimmen nicht gefehlt, die das offenbar unaufhaltsame Wachstum unserer Gehirnleistungen auf einen schlichten Feedback-Mechanismus zurückführen. Ihnen ist nämlich aufgefallen, daß die Probanden schon deshalb immer schlauer werden, weil jeder aufgeweckte Zwölfjährige heutzutage mit den Testroutinen vertraut ist, ebenso, wie der gewitzte Schüler seinen Lehrer studiert und ganz genau weiß, unter welchen Ticks und Marotten die Prüfungsordnung des zuständigen Ministeriums leidet. Für den erwachsenen Bewerber stehen einschlägige Ratgeber, Kurse und Seminare bereit, um ihn auf einen erfolgreichen Testablauf hin zu trimmen.
Die einfachste Erklärung hat jedoch der kluge Entdecker selbst geliefert: „IQ-Tests messen nicht die Intelligenz“, sagt er, „sie korrelieren eher schwach mit ihr. Das ist die Hypothese, die am besten zu den Ergebnissen paßt.“ Flynn war allerdings nicht der erste, dem das aufgefallen ist. Schon 1923 hat Edwin G.Boring, ein angesehener Harvard-Psychologe, erklärt: „Intelligenz ist das, was Intelligenztests testen.“ Dieser Zirkelschluß muß jeden Verfechter solcher Testverfahren verdrießen; abgeschreckt hat er noch keinen.
Allerdings, eine süße Versuchung hält der Flynn-Effekt für die Wissenschaft bereit: Er verträgt sich wohltuend mit einer fixen Idee der Moderne, einem Zeitalter, das sich von jeher allen früheren Epochen, von der Steinzeit bis zum Mittelalter, überlegen wähnte. Dieser tief sitzende Dünkel, der mit einer gewissen Fortschrittsidee zusammenhängt, geht Hand in Hand mit der Überzeugung, daß die Gegenwart den Gipfel der bisherigen Menschwerdung darstellt. Implizit oder explizit hält die Moderne unsere Vorväter für dümmer als sich selber. Diese Vorstellung läßt an Borniertheit nichts zu wünschen übrig. Sie verrät nicht nur ein historisches Bewußtsein, das auf die Zeitgenossenschaft geschrumpft ist; sie ist auch unter dem Gesichtspunkt der Evolution unsinnig. Schließlich ist es kein Geheimnis, daß die für das Überleben des Homo sapiens wesentlichen Grundlagen, von der Landwirtschaft und der Viehzucht bis zur Mathematik und der Schrift, schon vor Jahrtausenden geschaffen worden sind.
Es liegt auf der Hand, daß Gemütern, die das alles nicht einsehen wollen, der sogenannte Flynn-Effekt behagen muß. Daß alle Erhebungen, die ihm zugrunde liegen, auf die Vorurteile und Beschränktheiten derer geeicht sind, die sie erfunden haben, scheint die Experten kaum zu stören.
Auch eine Utopie
Man könnte aus vielen Gründen glauben, daß die Konjunktur der Intelligenzmessung ihren Höhepunkt überschritten hat. Spätestens seitdem die Diskurshoheit auf die Gehirnforschung und die Kognitionswissenschaft übergegangen ist, macht die experimentelle Psychologie einen reichlich altbackenen Eindruck. Wie immer, wenn eine junge, übermütige Disziplin auf den Plan tritt, die ihren Vorgängern den Vogel zeigt, dürfen wir von ihren Vertretern neue Erkenntnisse und neue Irrtümer erhoffen.
Dazu kommt noch eine weitere Anfechtung, der sich die traditionelle Testpraxis ausgesetzt sieht, und zwar im Modus ihrer Überbietung. In einer eher banalen Version geschieht das, indem das Monopol aufs Denken, das bisher den Lebewesen vorbehalten war, gebrochen wird. Warum sollen sie die einzigen sein, die sich mit dem Prädikat „intelligent“ schmücken dürfen? Das fragen sich nicht nur die Produktentwickler, sondern auch ihre Helfershelfer aus der Werbebranche. Es gibt schließlich recht leistungsfähige Computer und andere interessante Geräte. Seit dieser Erweiterung unseres Horizonts sind wir von intelligenten Autos, Kochherden, Telephonen, Häusern, Waschautomaten und Küchenmaschinen umgeben. Das erste Nationale Sicherheitsforschungsprogramm der deutschen Regierung trumpft sogar mit „optischen intelligenten Zäunen“ und „intelligenten Detektorplattformen“ auf, um uns vor allen denkbaren Unbilden zu schützen.
Noch weit ehrgeiziger sind die Propheten der Künstlichen Intelligenz. Sie verschmähen es, sich mit unserer Geschichte seit dem Pleistozän und mit unserer unbefriedigenden Gegenwart zu befassen, und haben sich stattdessen ganz der Zukunft verschrieben. Ihre innigste Hoffnung geht dahin, daß die Apparate, die wir erfinden, unsere Gehirne eines Tages gänzlich ersetzen werden. (Damit verlören zwar die IQ-Tester ihren Broterwerb; ein Verschwinden ihres Objekts hätte aber immerhin den Vorteil, daß wir uns über unsere eigene Intelligenz nicht mehr den Kopf zerbrechen müßten.)
Entworfen wurde diese technische Utopie im Jahre 1956 auf einer berühmten Konferenz am Dartmouth College, die von der Rockefeller Foundation finanziert wurde. Einer ihrer führenden Köpfe, John McCarthy, hat auch den Begriff der Künstlichen Intelligenz (Artificial Intelligence, AI) geprägt. Als Brutkasten ihrer Adepten diente das Massachusetts Institute of Technology. Dort lehrten Kapazitäten wie Marvin Minsky, für den das Ziel der AI die Überwindung des Todes ist, und Hans Moravec, der von einem Roboter schwärmte, der alles, was im menschlichen Gehirn gespeichert ist, auf einen Computer kopieren würde, so daß unsere sterbliche Biomasse entbehrlich wäre. Sein Kollege Ray Kurzweil verkündete ganz ungeniert: „Wir erlangen die Macht über Leben und Tod.“
In ihrer Pionierzeit versprachen diese Leute schon für die Jahrtausendwende Maschinen, die alle Leistungen unserer Gehirne bei weitem übertreffen sollten. Das ließ sich die Defense Advanced Research Project Agency, eine Einrichtung des Pentagons, nicht zweimal sagen. Sie investierte Milliardenbeträge in das verheißungsvolle Projekt. Das Ergebnis erwies sich als ziemlich enttäuschend. Die elektronischen Schildkröten, die nach jahrzehntelanger Arbeit fertiggestellt wurden, hatten die größte Mühe, eine Treppe zu überwinden. Daraufhin blieben die großzügig gewährten Gelder aus, und es kam zu einem Klimasturz bei den Sponsoren, dem sogenannten „AI-Winter“. Heute beherrschen weniger ehrgeizige Ziele die Szene. Um die „starke AI“ und ihre Allmachtsphantasien ist es recht still geworden. Sie überlebt nur noch in obskuren Sekten und in manchen Hollywood-Filmen.
Trotz alledem
Enttäuschungen über Enttäuschungen, Einwände über Einwände, Zweifel und Anfeindungen noch und noch! Man hätte denken können, daß der Umsatz der IQ-Industrie darunter stark gelitten hätte. Aber nein! Der Kult, der mit den Tests getrieben wird, zeigt keine abnehmende Tendenz. Über fünfhundert Millionen solcher Prüfungen müssen Kinder und Erwachsene allein in den Vereinigten Staaten alljährlich über sich ergehen lassen. Ein riesiger Markt hat sich entwickelt, auf dem die Angst vor der Dummheit immer enormere Dummheiten hervorbringt. Muß die Wissenschaft tatenlos zusehen, wie er immer bizarrere Züge annimmt? Keineswegs! 1989 hat die American Academy for the Advancement of Science, eine immerhin recht ehrwürdige Institution, eine Liste der zwanzig bedeutendsten wissenschaftlichen Erfindungen und Entdeckungen des zwanzigsten Jahrhunderts veröffentlicht. Neben dem Flugzeug, der Kernspaltung, dem Transistor und der DNA hat sie auch den IQ-Test für würdig befunden, in dieses Pantheon aufgenommen zu werden.
Die Website von Google verzeichnet für die Eingabe IQ inzwischen 109000000 Treffer, und es ist, je nach Gemütslage, zum Verzweifeln oder amüsant, einige der dort angebotenen Titel aufzuzählen:
Manager-IQ. Testen und steigern Sie Ihre Führungsintelligenz; What’s Your Jewish IQ? The Great Football IQ Quiz Book; Test Your Rock IQ; IQ-Test für Katzen. Wie intelligent ist Ihre Katze wirklich?; IQ Islamic Quiz; Trainieren Sie Ihren Kalorien-IQ; Alien-IQ-Test; What’s Your Secxual IQ?; Bible IQ; Karriere-IQ. Testen und steigern Sie Ihre Erfolgsintelligenz; Baby-IQ. Für das Genie im Kind; Steigern Sie Ihren Golf-IQ… und so weiter und so immer fort bis zur Besinnungslosigkeit.
Vielleicht ist das alles nicht ganz so schlimm, wie es aussieht. Die Unterhaltungsbranche ist ja nicht arm an anderen Produkten, über die sich Ähnliches sagen ließe. Und am Ende verdienen auch die seriösen Forscher, die sich mit unserer Intelligenz herumschlagen, eine gewisse Nachsicht. Zwar spricht der Evangelist: „Mit welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welchem Maß ihr messet, wird euch gemessen werden. Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge?“
Aber in unserem Fall ist es leider nicht klar, wie sich ein solcher Fehler vermeiden ließe. Denn nur, wer sich selber für intelligent hält, wird sich für berechtigt halten, über die Intelligenz seiner Mitmenschen zu urteilen. Damit begibt er sich auf eine Metaebene, und das ist bedauerlicherweise nur der Anfang. Denn dasselbe gilt auch für den, der über den Urteiler urteilt: Er riskiert einen infiniten Regreß. Somit läuft er, wie die, von denen er spricht, Gefahr, daß die rekursive Falle über ihm zuschnappt. Nur ein gewisser Mangel an logischer Stringenz kann somit den vorliegenden Text vor diesem Los bewahren.
Das alles bedeutet natürlich nicht, daß wir auf unsere leichtfertigen Alltagsreden in Zukunft verzichten müssen. Kein theoretisches Stirnrunzeln, kein wissenschaftlicher Skrupel wird uns daran hindern, unseren Mitmenschen nachzusagen, sie seien, je nachdem, wie uns zumute ist, intelligent oder dumm. So bietet sich am Ende unserer kleinen Führung durch den Irrgarten der Intelligenz ein einfacher Schluß an: Wir sind eben nicht intelligent genug, um zu wissen, was Intelligenz ist.
Schon deshalb wird auch der Dichter gut daran tun, sich lieber mit ihrem ewigen Widerpart zu beschäftigen und der Dummheit ein paar hymnische Zeilen zu widmen:
Himmelsmacht, die sich verbirgt in den Falten des Stammhirns, / bodenlose Mitgift an das Menschengeschlecht in saecula saeculorum,
unzählig wie die Milchstraße bist du / und vielfältig wie das Gras.
Mächtige Zwillingsschwester der Intelligenz, Händchen haltend / zelebrierst du mit ihr ein trübsinniges Palaver.
Ja, es ist stark, wie du uns inspirierst in immer neuen Verwandlungen, / als weibliche Dämlichkeit und als männliche Idiotie, / wie du aus den blutunterlaufenen Augen des Schlägers leuchtest / und einhertrippelst im aristokratisch hüstelnden Dünkel,
wie du uns anwehst mit dem Mundgeruch einer beschickerten Muse / und als vielsilbiges Delirieren im philosophischen Seminar.
Was wäre der Tüchtige ohne dich, stock-, stroh- und hundsdumme Dummheit, / die feurig durch seine Adern rollt wie eine Überdosis Amphetamin,
und der Forscher ohne die fixe Idee, der er durch die weißen Korridore / seines Instituts hinterherrappelt wie die Ratte im Labyrinth!
Gar nicht zu gedenken der Weltgeschichte, wessen gedächte sie denn, / wenn nicht der Sieger in ihrem napoleonischen Stumpfsinn.
So wird uns wohl der dümmliche Stolz des Gewinners erhalten bleiben / und der dumpfe Groll des Verlierers, nur hie und da versüßt
durch den erleuchteten Sums der Sektenpriester, / der Komiker und der Quartalssäufer. Dummheit,
oft Verleumdete, die du dich in deiner Schlauheitdümmer stellst als du bist, Beschützerin aller Hinfälligen,
nur den Auserwählten läßt du zukommen deine seltenste Gabe, / die gebenedeite Einfalt der Einfältigen.
Sie sind die unbeschriebenen Blätter in deinem großen Buch,dessen Siegel du keinem von uns eröffnest.
Hans Magnus Enzensberger ist Essayist, Dichter, Theaterautor und Herausgeber. Zuletzt erschien „Dialoge zwischen Unsterblichen, Lebendigen und Toten“ (Insel-Suhrkamp-Verlag)
Der vollständige Text „Im Irrgarten der Intelligenz. Ein Idiotenführer“ von Hans Magnus Enzensberger erscheint im Suhrkamp-Verlag im September 2007
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.