- Im Bücherregal einer Diseuse
In Maren Kroymanns Bücherregalen herrscht eine Ordnung, die nur versteht, wer ihr Leben kennt. Ein Bibliotheksbesuch in Berlin-Charlottenburg
Sie hatte mich gewarnt. Ausdrücklich. Sie leide an einer Kombination aus Aufräumschwäche und Wegwerfphobie. Schließlich ist sie in einem Jahr geboren worden, das zwar sehr ordentlich war, in dem die Währungsreform abgeschlossen, der ordnungsliebende Herr Adenauer zum Kanzler gewählt wurde und Rudi Schurickes Caprifischer mit deutscher Gründlichkeit Italien schwarz-golden pinselten. Aber eben auch in einer Zeit, als die Trümmerfrauen a. D. gebrauchtes Staniolpapier glatt strichen und jeden Meter Paketschnur aufbewahrten.
In der großen Berlin-Charlottenburger Altbauwohnung von Maren Kroymann gibt es Tausende von Büchern. Und zumindest in den vier hohen Ikea‑Regalen im Wohnzimmer haben sie eine Ordnung, obwohl es nicht danach aussieht: „Eine biografische Ordnung“, sagt Maren Kroymann. „Eine autobiografische.“ Das hat den Vorteil, dass sich hier außer ihr garantiert keiner zurechtfindet, der ihr Leben nicht so gut kennt wie sie selbst. Die Schichten des Daseins sind nun einmal ihr Thema, und nie war und ist die Diseuse überzeugender, als wenn sie sich zur Archäologin des deutschen Alltags macht.
Wie wenig alltäglich ihr Grundsediment ist, verrät der oberste Quadrant des Regals ganz rechts. Dort erzählen die Klassiker- Ausgaben der Oxford University Press von Platon und Cicero, die Komödien von Plautus und Terenz, die Lyrik von Tibull und Properz, aber auch Wolfgang Schadewaldts „Hellas und Hesperien“ von ihrer Kindheit und Jugend in Tübingen.
Der Vater war Professor für Altphilologie an der dortigen Universität, die Mutter promovierte Romanistin und Altphilologin. Und während der Vater über den Einfluss der antiken Literatur auf die amerikanische Literatur der Moderne brütete, wischte sich die Mutter nach dem Bratkartoffelbraten die Hände an der Schürze ab und sagte zu einem ihrer fünf Kinder: „Was ist. Übersetzen wir noch ein bisschen Tacitus?“ Eigentlich sei die Leidenschaft ihrer Mutter Etymologie gewesen, sagt Kroymann, und der älteste ihrer vier Brüder habe gelästert: „Bei uns gibt es indogermanische Wurzeln zum Mittagessen.“ Doch sie beruft sich ungern auf ihr bildungsbürgerliches Woher. „Latein und Griechisch gelten heute doch als restlos undemokratisch.“
Abgeschminkt hat sie sich das dort, wo im Regal ganz links „Das Kapital“ neben Georg Lukàcs und Werken der Frankfurter Schule steht, im Lebensabschnitt politische Bewusstwerdung. Die begann zu Beginn der siebziger Jahre da, wohin andere zur erotischen Bewusstwerdung reisten: in Paris. „Da habe ich meine erste Demo absolviert, als am 1. Mai 1971 100 Jahre commune gefeiert wurden.“ Dass sich unter den Kommunisten leicht bekleidete Frauen, Transvestiten oder Wein trinkende, frivole Chansons singende Varieté-Künstler aus den Folies Bergères befanden, gefiel ihr. Aber als pflichtbewusste DAAD-Studentin las sie neben den roten Kampfschriften ebenso eifrig auch die blau-weißroten Klassiker, die sich im Regallebensabschnitt darunter finden: Stendhal, Honoré de Balzac, Émile Zola oder Gustave Flaubert. Und nachdem sie zuvor bereits im Tübinger Zimmertheater mit dem Schauspielen begonnen hatte, wurde ihr das Theater letztlich wichtiger als die Revolte, Ariane Mnouchkines Bühnenpoesie wichtiger als die Pflasterprosa.
Von diesem Paris führte kein Weg zurück nach Tübingen, wo sie von himmelblauer Liebestreue mit einem kiffenden Statisten geträumt hatte, der „mit jeder Sex hatte“. Der Weg führte nach Berlin. Vom Berlin damals erzählt die Abteilung, wo Standardwerke von Simone de Beauvoir und Anleitungen zur Körperfindung neben Alice Schwarzers „Der kleine Unterschied“ stehen – Bücher, die ihr halfen, sich nicht wie Flauberts Madame Bovary zu fühlen, „dieser aus der Zeit gefallenen Frau“. Sie konnten jedoch nicht verhindern, dass die Einsamkeit ihr Frostbeulen auf der Seele verursachte. Auch die benachbarte Literatur über Antifaschismus und Nazideutschland, die damals Berliner Intellektuellenköpfe erhitzte, brachte keinen Trost in ihre Herzensnot.
Seite 2: Bekenntnis zu jeder Phase der Vergangengeit
Doch finden sich in diesem Regal auch die Noten von Hanns Eisler und Kurt Weill. Im Hanns-Eisler-Chor fand sie, was sie nicht einmal zu suchen gewagt hatte: selbstbewusste Streitlust. Den Mut, ihren kiffenden Statisten als „Scheißtypen“, Kommilitonen, die Frauen nicht zu Wort kommen ließen, als „hoffnungslose Machos“ zu erkennen und zusammen mit zwei Freundinnen einen Artikel zu verfassen gegen den Professor, der nach dem Staatsexamen ihr Doktorvater hätte werden sollen. „Der hatte erklärt, diese Softpornos von Richard Hamilton seien Kunst“, Maren Kroymanns Stimme bricht gekonnt ein. „Große Kunst, mit der die Schönheit junger Frauen gefeiert werde!“ Mit 27 hat sie, die als Nachtschwester Kroymann mit der verbalen Giftspritze später zu Fernsehruhm gelangen sollte, sich erstmals getraut, an einem Wirtshaustisch eine Frau richtig anzugreifen. „Dass ich ekelhaft sein konnte“, strahlt sie, „war ein großer Erfolg.“
Der Abschied von der Nettigkeit kam so spät und gründlich wie die Einsicht, lesbisch zu sein. „Ich bin ein Spätzünder. In allem.“ Erst mit fast 40 packte sie den Vorwurf weg, ihre Zeit mit Unverwertbarem vergeudet zu haben. Denn die Weltmeister der Effizienz sind arm dran. Das offenbarte Maren Kroymann ihr „Leib- und Magenbuch der achtziger Jahre“: „Die Entdeckung der Langsamkeit“ von Sten Nadolny. „Ich habe immer rasch kapiert, was man von mir wollte“, sagt sie. „Aber ich habe mich erst spät gefragt: Was will ich denn eigentlich?“
Auf Unterleibshöhe im dritten Regal reihen sich die Bücher, in denen der Unterleib nicht vorkommen durfte und die ihr Ideen gaben zur ersten eigenen Show: Benimmbücher der fünfziger Jahre, unsterbliche Werke von Lilo Aureden und anderen Priesterinnen mentaler Missionarsstellung. In Bänden wie „Was Männern so gut schmeckt“ erklärten sie, wie es einer Gattin gelingen konnte, so pflegeleicht zu sein wie Perlon und Trevira. Maren Kroymanns Überraschungserfolg „Auf du und du mit dem Stöckelschuh“ führte in Schlagern dieser Jahre vor, wie den Frauen, die ohne Männer während des Krieges stark geworden waren, Zähne und Muskeln gezogen wurden. „Während Männer als Cowboys unterwegs waren“, grinst die Kroymann, „sollten sie ihr Heil in Schnittmustern und neuen Kühlschrankmodellen entdecken.“
Dass die im Ikea-Regal oben rechts auffindbare Jugend noch immer nachwirkt, macht sich bemerkbar, wenn Maren Kroymann von Georges schwärmt. „Den könnte ich küssen, weil er so großartig ist und so ungeheuer verlässlich.“ Der treue Geliebte, den sie sich von Freundin Lieselotte zum 50. Geburtstag wünschte, ist ein lateinisches Wörterbuch und hält sich ein paar Fächer unter den Büchern der frühen Jahre auf, neben Artverwandten. „Ein gutes einsprachiges Wörterbuch macht mich richtig glücklich“, erklärt mit zärtlicher Stimme die Frau, die sich in Doris Dörries’ TV‑Serie „Klimawechsel“ als wechseljährige Gynäkologin in Chanel hemmungslos griff, was sie erregte.
Sie selbst erweist sich im Regal ihres Lebens wie auf der Bühne als eine, die sich zu jeder Phase ihrer Vergangenheit bekennt. Da steht noch eine Hesse-Ausgabe aus den Sechzigern, die sie nie las, bis sie vor vier Jahren „Siddhartha“ nach Indien zur Ayurvedakur mitnahm. Da stehen noch die Zeugen des Achtziger-Jahre-Hedonismus, als man in schultergepolstertem Jackett und schwarzem Golf vor Gourmetlokalen vorfuhr und über missverstandene Dijonsenfsaucen Tellergericht hielt. Und da stehen ganz oben 27 Bände Brockhaus, die sie sich erst vor ein paar Jahren kaufte, als es hieß, die Druckausgabe werde eingestellt. Nur die unaufgefordert zugesandten Bücher und die Neuzugänge kommen erst mal ins Zimmer nebenan.
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