- «Gesetzt den Fall, du hast ein Schaf gekränkt ...»
99 Mini-Hörspiele mit Nano und Mü, Robert Gernhardts Tiergedichte über Kühe, Katzen und feuerspeiende Hunde sowie 1100 deutsche Gedichte aus dem letzten Jahrtausend – Hör-Material für mehr als eine lange Urlaubsreise
Sie kommen überfallartig. Bevor man sich’s versieht, sind sie schon vorbei – spätestens nach einer knappen Minute, meistens noch schneller. Aber man vergisst sie nicht, denn ihr Wortwitz sitzt perfekt: Jede Folge der «Wurfsendung», die Deutschlandradio Kultur seit fünf Jahren unvorhersehbar ins Programm schleust, gehört zu einer kleinen Serie und trägt ein maßgeschneidertes Geräuschgewand mit hohem Wiedererkennungswert.
Wer sich am Radio beim Lauern auf die winzigen Neurochirurgie-Roboter Nano und Mü und ihre folgenschweren Live-Eingriffe in die Hirne von Nachrichtensprechern oder Heavy-Metal-Musikern erwischt («Gib mir mal die Zapfenfräse … Ach du Scheiße … vielleicht hätte man doch das Sprachzentrum ausschäumen sollen!») oder feststellt, dass er von Berliner Busfahrern und Klempnern neben den üblichen, schnoddrig gebotenen Dienstleistungen («Det is’n Klo und keen Müllschlucka!») eine klassische Traumdeutung erwartet («Na, denn is’ allet klar – der Traum enthüllt den Wunsch nach Rückkehr in den Uterus!»), ist ohne Zweifel angefixt vom neuen Genre des Mini-Hörspiels.
Jetzt gibt es immerhin 99 der ‹Kurzen› auf einer CD, zum Hören in einem Rutsch. Ob Kommunikation per Anrufbeantworter, telefonischer Meinungsforschung, Liebesdialog oder Bahnhofsdurchsage: Jeder kleine Sprechakt kann sich unvermutet emanzipieren und vom Grotesken zum Absurden und von dort zu den letzten Dingen führen. Auf der vollgepackten Platte finden sogar noch Michael Schiefels unerschütterlich geträllerte A capella-Mozart-Miniaturen sowie Thomas Pigor und Benedikt Eichhorn Platz, die in ihrer eigenen Wurfsendung «Le petit observateur» Töne für ungeahnte Dramen finden, wenn sie Computerprobleme, Tubistensorgen («Du bist immer der Tubist, der du bist!») und vermeintliche Fahrkartenkontrolleure besingen.
Dass auch Tiere jede Menge kleiner und großer Abenteuer erleben, die sich bestens in Reimform erzählen lassen, ist durch Josef Guggenmoos und Lurchi, den Salamander, in der deutschen Kinderliteratur gut eingeführt. Ihnen tritt nun Robert Gernhardt, Großmeister des zeitgenössischen Endreims, an die Seite, samt polizeilich gesuchtem Biber, wohnungslosen Erdmännchen, Schwein und Hund. Einen Salamander-Chor hat er auch mitgebracht, aber der singt (imitiert durch Christoph Well von «Biermöslblosn») derart «gräulich», dass sich sogar ausgewiesene Expertinnen für Katzenmusik maunzend beschweren. Harry Rowohlt spricht Kuh und Katze und alle anderen und findet für Nonsens, Lebensregeln («Gesetzt den Fall, du hast ein Schaf gekränkt») und Abendstimmung erwartungsgemäß immer genau den richtigen Ton. Wer das weite Feld der CD-Aufnahmen für Kinder auch nur ein wenig gesichtet hat, ist um so dankbarer, dass hier weder gequietscht noch gefistelt noch gekreischt wird, um Aufregendes darzustellen oder gar Aufregung zu generieren. Das Zwiegespräch zwischen Katze und Kuh im letzten Gedicht «Das Dunkel deckt die Wiesen zu» ist ein schönes Beispiel für Rowohlts Stimmkunst und die Fähigkeit, unterschiedliche Charaktere ohne Mätzchen lebendig zu machen: Dem freundlich fragenden Bass der Kuh berichtet eine noch ziemlich aufgewühlte Katze von ihren Tageserlebnissen mit einem sieben Meter großen, feuerspeienden Hund. Dann aber ist alles gesagt, und es wird geschlafen: «Schön, dass du da bist – gute Nacht!» Wie zu allen Gedichten auf der CD «Ein gutes Schwein bleibt nicht allein» gibt es auch zu diesen Abendversen ein Still-Leben von Almut Gernhardt: Man sieht die Kuh auf der Wiese am Waldrand liegen, auf ihrem Rücken döst, klein und durch das gleiche braun-weiß gescheckte Fell getarnt, die Katze. Nicht alle der dreißig naiven Rätselbilder im typischen Siebzigerjahre-Stil wirken so idyllisch beruhigend, manche sogar ein wenig unheimlich oder zumindest uneindeutig. Phantasieanregend aber sind sie allemal, und wer die CD mit in den Familienurlaub nimmt, sollte sich darauf gefasst machen, dass von der Rückbank regelmäßig «Bertold Biber wird gesucht» ertönt: Endreim ist ansteckend!
Folgerichtig könnte nach Robert Gernhardts lyrischer Vorschule ein Mammutprojekt im CD-Spieler landen, das 1100 Gedichte versammelt: «Lauter Lyrik. Der Hör-Conrady». Versierte Sprecher wie Christian Brückner, Corinna Kirchhoff, Ulrich Matthes oder Sophie Rois rezitieren Walther von der Vogelweide und die Günderrode, Bachmann und Schwitters, Thomas Kling und Uljana Wolf. Jedes Gedicht kann einzeln angewählt werden, so dass man problemlos Jahrhunderte und die ihnen zugehörigen Stile überspringen kann – besonders leicht geht dies auf den beiden MP3-CDs, auf denen der Inhalt von 21 gewöhnlichen CDs Platz findet. Eine Anschaffung nicht nur für die nächste Autofahrt, sondern für die kommenden Jahrzehnte!
Wurfsendung. 99 Minihörspiele
Der Hörverlag, München 2008. 1 CD, ca. 78 Min., 14,95 €
Robert Gernhardt
Ein gutes Schwein bleibt nicht allein und andere Tiergeschichten
Gelesen von Harry Rowohlt. Mit Tierbildern von Almut Gernhardt und Musik von Christoph Well von Biermöslblosn.
Kein & Aber, Zürich 2008. 1 CD, 39 Min., 14,80 €
Lauter Lyrik. Der Hör-Conrady
Patmos, Düsseldorf 2008. 21 CDs/2 MP3-CDs, ca. 25 Std., 99,95 €
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