- Nikolaus Lenau: Himmelstrauer
Ein Gedicht und seine Interpretation: Am Himmelsantlitz wandelt ein Gedanke...
Am Himmelsantlitz wandelt ein Gedanke,
Die düstre Wolke dort, so bang, so schwer;
Wie auf dem Lager sich der Seelenkranke,
Wirft sich der Strauch im Winde hin und her.
Vom Himmel tönt ein schwermutmattes Grollen
Die dunkle Wimper blinzet manches Mal,
So blinzen Augen, wenn sie weinen wollen, –
Und aus der Wimper zuckt ein schwacher Strahl. –
Nun schleichen aus dem Moore kühle Schauer
Und leise Nebel übers Heideland;
Der Himmel ließ, nachsinnend seiner Trauer,
Die Sonne lässig fallen aus der Hand.
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe.
Herausgegeben von Walter Dietze, Frankfurt.a.M. 1970
Ein einziger Blick hinaus, schon ist die Grundfrage aller Naturlyrik da: Kann man die Landschaft anders als symbolisch sehen? Sind der Himmel, der Faltenwurf der Berge, das Licht über einem Hügelzug je anders als anthropomorph, stimmungshaft, launisch? Lenau denkt umgekehrt, seine Landschaften glühen. Er möchte sie restlos im Innenleben auflösen. Er kennt keine Natur-, nur Selbstbetrachtung, und in diesem Selbst findet er nichts als Natur. Seine Landschaft ist untröstlich, sie versöhnt nicht, sie vertieft, sie macht das Leiden unausweichlich, indem sie es geradezu objektiviert.
Dieser Dichter, zwischen alle Berufe gefallen, nur der Poesie und der Schwermut verpflichtet, veröffentlicht „Himmelstrauer“ 1832 in seinem ersten Gedichtband. Gleich nach dessen Erscheinen macht er sich auf, in den Wäldern Nordamerikas zu verschwinden, wo er ein Stück Land für eine Farm erwirbt. Der nordamerikanische Materialismus aber stößt ihn bald derartig ab – „tot für alles geistige Leben, maustot“ seien die Menschen –, dass er schon im Jahr darauf nach Europa zurückkehrt. Neben Lord Byron und Giacomo Leopardi die Stimme des Weltschmerzes, die haltlos zwischen den Polen uferloser Leidenschaft und entsagendem Fatalismus schwankt, verdichtet sich sein Lebensgefühl zu einer opulent orchestrierten Melancholie. Obendrein wird er gemeinsam mit Merck, Kleist oder Chatterton zur idealen Vorlage für die Mythisierung des unglücklichen Dichters, den Affektausbrüche in die Zwangsjacke und 1844 schließlich in die Irrenanstalt bringen, wo er die letzten sechs Jahre bis zu seinem Tod verbringt – „umnachtet“, wie man mit einem dem spätromantischen Schwelgen seiner Lyrik angemessenen, untröstlichen Ausdruck sagt. „Himmelstrauer“ nimmt die Natur so persönlich, wie es wohl nur einem zustoßen kann, der schließlich in ihr untergehen wird.
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