- Gäbe es ohne Tod am Kreuz das Christentum?
Es ist ein Schlüsselereignis in der christlichen Geschichtsschreibung und für das christliche Selbstverständnis: Jesus Christus' Kreuzestod beförderte die Entwicklung des Christentums. Wie wäre die Geschichte verlaufen, wenn es das Urteil nicht gegeben hätte?
Herr Demandt, was wäre geschehen, wenn der römische Statthalter in Judäa Jesus von Nazareth nicht zum Tode am Kreuz verurteilt hätte?
Die jüdische, die römische, die christliche – ja die gesamte Weltgeschichte wäre ganz anders verlaufen. Ohne Pilatus keine Kreuzigung, ohne Kreuz kein Paulus, ohne Paulus kein Christentum.
Nun hatte Pilatus gute Gründe für seine Entscheidung. Jesus bezeichnete sich als König der Juden, was den Tatbestand des Hochverrats erfüllte ...
Ob Jesus sich selbst zum König der Juden ernannt hat, ist durchaus zweifelhaft. Klar ist, dass seine Anhänger, seine Jünger das von ihm erwartet haben, in einer Verbindung von religiöser Hoffnung und politischem Widerstand gegen die Römer. Hinzu kommt, dass Jesus an den Grundfesten der jüdischen Religion rüttelte, indem er das mosaische Gesetz massiv infrage stellte, die Speisetabus zum Beispiel und die Sabbatruhe. Von daher hatte der Hohe Rat gleich zwei Gründe, ihn anzuklagen, und Pilatus hatte zwei Gründe, ihn zu verurteilen.
Dennoch war es eine Ermessensentscheidung.
Ja. Ein Freispruch war möglich, alternative Strafen lagen nahe. Pilatus hat ja interessanterweise Jesu Jünger nicht verfolgt, sondern Jesus offenbar als Einzeltäter betrachtet. Der hätte, wie andere selbst ernannte Propheten, ausgepeitscht und ausgewiesen werden können, Pilatus hätte ihn geißeln und anschließend frei lassen oder zur Arbeit im Steinbruch und zum Verhör in Rom verurteilen können.
Was hätte, mit Andre Gide gefragt, Christus getan, wenn sein Leben verschont worden wäre?
Er konnte sich zurückziehen, Maria Magdalena heiraten und in der Schreinerwerkstatt seines Vaters sein Brot verdienen. Ein Freispruch hätte ihn ja zum falschen Propheten gemacht, er wäre, anders als angekündigt, nicht für die Sünden der Menschheit am Kreuz gestorben, sein Charisma wäre dahin, seine Sendung erledigt gewesen.
Hätte ein solcher Schritt ins Schweigen denn überhaupt zu seiner Persönlichkeit gepasst?
Wahrscheinlicher ist in der Tat, dass Jesus weiterhin gelehrt, die Bergpredigt verkündet und eine kleine Gemeinde in Galiläa gegründet hätte – die dann allerdings wie zahlreiche andere lokale Sekten der Zeit, die Sadduzäer, die Therapeuten, die Essener, allmählich verschwunden wäre.
Ein Erfolg wäre ausgeschlossen gewesen?
Eine dritte Variante ist denkbar: Die Radikalisierung seiner Bewegung durch gewaltbereite Zeloten, die zu einer Erhebung gegen Rom geführt hätte. In dem Fall wäre übrigens eine spätere Kreuzigung – nun aber nicht nur des Meisters – wahrscheinlich und eine Rückkehr der Geschichte auf den Weg der Wirklichkeit möglich gewesen.
Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum es ohne Kreuz und Auferstehung kein Christentum gegeben hätte
Aber ohne Kreuz und Auferstehung kein Christentum?
Nein, denn für die Geschichte des Christentums ist neben Jesus und Pilatus kaum eine Gestalt so wichtig wie Paulus. Auf seinem Organisationsgenie beruht der Erfolg des christlichen Glaubens, erst seine Interpretation der Frohen Botschaft hat dieser die Dynamik verliehen, die sie zur Weltreligion werden ließ. Und Paulus fußt nun einmal auf Pilatus. Seine Schriften sind älter als die Evangelien, das heißt von all dem darin Beschriebenen, der Bergpredigt, den Gleichnissen etc. kannte Paulus nichts. Er wusste nur, dass Jesus am Kreuz für die Menschheit gestorben, auferstanden und in den Himmel aufgefahren ist und in naher Zukunft wiederkommen wird wie der Messias im Alten Testament, um die Welt zu erlösen. Das hat Paulus verkündet. Und darauf hat er seine so immens erfolgreiche Gemeindetätigkeit aufgebaut. Ohne die wäre das Christentum in einer Vielzahl christlicher Sekten geendet, die sich gegenseitig bekämpfen, weil sich jede für einzig rechtgläubig und die anderen für Ketzer hält.
Es fehlt nicht an Stimmen, die der Christianisierung die Schuld am Zusammenbruch des römischen Imperiums zuweisen – keine Christianisierung, kein Ende des Imperiums, also auch kein finsteres Mittelalter?
Die Frage, inwieweit das Christentum schuld ist am Untergang des römischen Imperiums, wurde schon von den Zeitgenossen erörtert, allerdings unter metaphysischen Gesichtspunkten: Die Götter, die Rom groß gemacht haben, Jupiter, Mars und andere, sind durch das Christentum beseitigt worden – auf dessen Gott der Liebe lasse sich aber kein Weltreich gründen, hieß es. Tatsächlich hat das Christentum zur Schwächung des Reichs beigetragen, weil es Kräfte band: Der Klerus wuchs, die asketische Bewegung hatte zahllose Anhänger, die Gläubigen bekämpften sich gegenseitig – nur das Reich verteidigen wollte keiner mehr. Dessen Untergang aber liegt im permanenten Druck der Germanen begründet, deren Kriegsgeist und Kinderreichtum die Römer in ihrem Wohlstand und ihrer Zivilisation am Ende nichts mehr entgegenzusetzen hatten.
Welches Gesicht hätte die mittelalterliche Welt ohne Christentum gehabt?
Die Frage ist, ob sich eine andere Religion als Weltreligion profiliert hätte.
An welche denken Sie?
Es gibt eine ganze Reihe monotheistischer Religionen, die damals schon große Anhängerschaften hatten und das Potenzial, noch sehr viel größer zu werden: der Manichäismus, der Mithraskult, der Sonnenkult, das Judentum, später der Islam. Auch der Polytheismus war keineswegs tot, auf dem Lande war er lebendig, im Senat hatte er Anhänger, bei den Philosophen in Athen und Alexandria war er sehr beliebt.
Was für ein Mittelalter wäre das gewesen?
Wenn wir einen Freispruch Jesu durch Pilatus annehmen, gelangen wir in ein Mittelalter, dessen Städte nicht um Kirchen und Kathedralen, sondern möglicherweise um Sonnentempel und Kapitole gebaut gewesen wären, in denen nicht die Bibel, sondern Homer und Vergil gelesen worden wären, in denen es keine Glaubenskämpfe gegeben hätte, aber auch keine Spitäler und keine Armenfürsorge. Das heißt, der Menschheit wären viele Schrecken erspart geblieben, die Ketzerverfolgungen, die Kreuzzüge, die Inquisition – aber auch die christliche Kunst, die christliche Philosophie und die christliche Dichtung wären entfallen. Und vor allem die christliche Nächstenliebe. Denn die Christen haben zum ersten Mal und in großem Umfang Krankenhäuser gegründet, sich um die Schwachen gekümmert, etwas für Arme getan.
Pilatus hat mit seinem Urteil in Gang gesetzt, was er verhindern wollte: die Jesusbewegung. Gibt es einen folgenreicheren Wendepunkt der Weltgeschichte?
Das ist schwer zu sagen. Man kann fragen, was gewesen wäre, wenn die Perser gegen die Griechen gewonnen, Hermann der Cherusker gegen die Römer verloren, es keinen Napoleon, keinen Marx, keinen Hitler gegeben hätte. Es gibt immer gewisse Analogien zu anderen Entscheidungssituationen, aber im Vergleich hat wohl keine das Gewicht wie Pilatus’ Urteil.
Alexander Demandt (74), Althistoriker, der von 1974 bis 2005 Professor für Alte Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin war, darf als „Erfinder“ der kontrafaktischen Geschichtsschreibung in Deutschland, also von Geschichte im Konjunktiv, gelten. Als 1984 sein Buch „Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: Was wäre geschehen, wenn...?“ veröffentlicht wurde, löste das bei vielen Historikern Befremden aus, die Demandts Herangehensweise als unwissenschaftlich ablehnten. Demandt nennt seine Überlegungen Erkenntnis fördernde Gedankenspiele, die auf historischer Sachkenntnis basieren und mit Wahrscheinlichkeiten operieren, die die allzu spekulative Fantasie disziplinieren. Den Schwerpunkt von Demandts wissenschaftlicher Arbeit bildete die römische Welt und die Spätantike. Zuletzt erschien von ihm im Beck-Verlag die 128-Seiten-Biografie „Pontius Pilatus“.
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.