Schneelandschaft im sächsischen Annaberg
Das Winter-Wunderland entpuppte sich als weiteres Hindernis für Daher Aita und seine Familie / picture alliance

Serie: Exilliteratur - Das Wunder des Schnees und die Last der Trauer

Der Theaterwissenschaftler Daher Aita floh mit seiner Frau und den zwei Kindern aus Syrien nach Deutschland, wo die Familie zunächst im sächsischen Annaberg unterkam. Die Hürden, die es dabei zu überwinden galt, sind nicht nur symbolischer Natur, denn Aita sitzt seit seiner Kindheit im Rollstuhl

Daher Aita

Autoreninfo

Daher Aita, geboren 1966 in Damaskus, hat sein Studium an der dortigen Hochschule für Theaterwissenschaften 1995 abgeschlossen. Im gleichen Jahr folgte seine erste Theaterarbeit: Er schrieb das Drehbuch für eine Aufführung von Heiner Kipphardts »In der Sache J. Robert Oppenheimer« im Kabbani-Theater, bei der er auch Regie führte. Weitere Theaterarbeiten folgten, darunter Goethes Schäferspiel »Die Laune des Verliebten«. In deutscher Übersetzung ist die Kurzgeschichte „Letzte Seufzer der Sonne“ in der Anthologie »Weg sein – hier sein« 2016 im Secession Verlag für Literatur erschienen. Seit seinem dritten Lebensjahr sitzt Aita aufgrund einer Lähmung im Rollstuhl. Heute lebt er mit seiner Familie in Marienberg in Sachsen.

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Monatelang hatte mich der Schnee im Haus eingeschlossen. Jetzt fahre ich auf einem elektrischen Rollstuhl und schaffe es, damit die Schneeberge zu überwinden und auf Straßen und Plätzen umherzurollen. Die meisten Bürgersteige und Straßen hier sind so gebaut, dass ich mich mit dem Rollstuhl leicht bewegen kann. Doch um die Schulen in Marienberg zu besuchen, wo ich inzwischen wohne, stellen die Treppen ein Hindernis für mich beim Erlernen der deutschen Sprache dar, so wie ich es früher in Syrien erlebt hatte.

Nachdem ich die Hochschule für Theaterwissenschaft in Damaskus abgeschlossen hatte, beschäftigte ich mich intensiv mit dem deutschen Theater und begann, am Goethe-Institut Deutsch zu lernen, in der Hoffnung, an ein Stipendium oder eine Studienreise nach Deutschland zu gelangen. Ich war erst wenige Wochen dabei, als man den Standort des Instituts in ein Gebäude verlegte, das man nur erreichen konnte, indem man Dutzende Treppen erklomm. Das war einer meiner vielen verlorenen Kämpfe mit den Treppen in Syrien und nun erlebte ich das Gleiche in Deutschland. Um in meinem Heimatland an irgendeinen Ort zu gelangen, muss man viele Treppen überwinden, ob man nun in einen Bus steigt oder auf dem Bürgersteig geht, ob man ins Theater, ins Kino, ins Museum, ins Restaurant oder in Geschäfte will: Jedes Mal muss man Treppen rauf- oder runtersteigen. Die Treppen meines Heimatlandes haben mich oft gequält. Wenn ich mich mit meiner Freundin im Park, im Theater oder im Kino treffen wollte, musste ich einen Passanten um Hilfe bitten, damit ich in ihren Augen nicht als ein Mann dastand, der vor einer Treppe einknickte.

Die Last enttäuschter Hoffnungen

Ungefähr zwanzig Jahre sind ins Land gegangen seit meinen ersten Plänen, nach Deutschland zu gehen. Es ist ein großer Unterschied, ob du als junger Mensch in ein Land kommst, um dort Theaterwissenschaften zu studieren, oder ob du auf die fünfzig zugehst und als Flüchtling, als ein vor Tod und Gefangenschaft Flüchtender, eintriffst. Womöglich hat dies meine Vorstellung von Deutschland verändert, denn jetzt ist dieses Land für mich die Fremde, der Ort, wohin ich vertrieben wurde und nicht der Ort, wohin ich gekommen bin, um zu studieren und das Theater zu entdecken. Ich glaube, dass unser Gefühl, fremd und alleine zu sein, weniger mit Deutschland zu tun hat, als mit uns, die wir die Last der Trauer und enttäuschter Hoffnungen tragen müssen.

Der Ausbruch der syrischen Revolution band mich stärker an mein Heimatland und erfüllte mich und viele andere mit Stolz. Die Einschränkung durch die Treppen, der Wunsch zu reisen und aus dem Land zu kommen spielten keine Rolle mehr, denn auf einmal war Syrien für mich die ganze Welt. Es war eine bittere Erfahrung, zu sehen, wie Freunde und Bekannte sich aufmachten, das Land zu verlassen. Ich wünschte, ich hätte sie dazu bewegen können, zu bleiben. Doch alle Versuche schlugen fehl, denn man erfuhr erst von ihrer Abreise als sie schon längst abgereist waren. Als die Revolution begann, wünschte ich mir, dass die ganze Welt nach Syrien käme, um zu sehen, wie viele Opfer das syrische Volk im Kampf um die Freiheit erbracht hat.

Der Traum von Freiheit

Jeden Tag erreichten meine Familie wie auch die Mehrheit anderer syrischer Familien Nachrichten über die Festnahme von Nachbarn, die nichts anderes als ihren Freiheitswillen zum Ausdruck gebracht hatten. Die Damaszener konnten Hunderte von Bomben zählen, die vom Berg Qasiyun auf Stadtteile von Damaskus wie Qudsiya, al-Hama, Dschobar, Arbin und Darya geschossen wurden. Einzig der Traum von Freiheit ließ die Menschen Tod und Zerstörung erdulden. Wenn mich meine beiden Kinder, Ammar und Tulin, fragten: „Papa, wann wird das Regime gestürzt? Wann hört das Töten auf?“ Dann sagte ich ihnen: „Nur noch einige Monate, dann werden wir frei sein.“

Doch mit jedem Monat, der verging, verschlimmerte sich der Belagerungszustand und das Versprechen, das ich meinen beiden Kindern gegeben hatte, wurde nicht eingelöst. Stattdessen wurde ich vor ihren Augen festgenommen und saß daraufhin 39 Tage ein. Auch wenn dies im Vergleich zu der Haftzeit vieler anderer Gefangener nur ein kurzer Zeitraum war, war er lang genug, damit die Henker des Regimes meine Hände zertrümmern konnten, die danach nicht mehr über unseren Traum von Freiheit schreiben konnten.

Gesetze zum Schutz der Menschenwürde

Erst zerstörte das Schicksal meine Kindheit und Jugend, als es meine Füße lähmte, dann, als ich Vater von zwei Kindern war, zertrümmerten die Schergen des Regimes meine Hände. Hier in Deutschland werden meine Hände physiotherapeutisch behandelt, mit einer solchen Umsicht und Feinfühligkeit, als ob man die Flügel eines Schmetterlings behandeln würde, um mir jedes Leid zu ersparen. Eine Vielzahl von Ärzten bemüht sich darum, meine Hände zu heilen. All dies führte dazu, dass ich mich in der Fremde anders wahrnahm. Ich spürte an meinem eigenen Leib, dass es Gesetze und staatliche Systeme gab, die dem Schutz des Lebens und der Menschenwürde gewidmet waren, ganz gleich, ob es sich um einen Flüchtling oder um einen Staatsbürger handelt.

In meinem Heimatland hingegen töteten die Killertrupps Assads einen Teil von mir, und Tausende junger Frauen und Männer, Väter und Mütter sowie Kinder mit dem kompletten Arsenal international geächteter Waffen, und unter permanenter Missachtung jeglicher internationaler Vereinbarungen. Das sind die Gründe, weshalb Syrer in andere Länder flüchten. Andererseits erfährt man in diesen Ländern nichts von den vielen Formen des Schreckens, denen die Flüchtlinge ausgesetzt waren, und man berücksichtigt viel zu wenig die Angst und die Schmerzen, die sie in ihrem Heimatland ertragen mussten. Kann sich zum Beispiel jemand vorstellen, wie viel Furcht und Schrecken allein das Klingeln an der Haustür auslösen kann? Nach allem, was ich im Gefängnis erlebt hatte, reichte schon das bloße Hören von Schritten vor der Haustür, um mein Herz vor Angst fast zerspringen zu lassen.

Vom Wunder des Schnees

Meiner Familie ging es nicht anders. Wir unterhielten uns nur noch flüsternd. Meine Frau und unsere Kinder gingen auf Zehenspitzen durch das dunkle Haus, das nur von einer Kerze erleuchtet wurde, um nicht die Aufmerksamkeit von Spitzeln, die sich möglicherweise in der Nähe des Hauses aufhielten, auf uns zu ziehen. Bei einem Gespräch in jenem Kerzenlicht habe ich meine Familie zur Flucht nach Deutschland überreden können. Ich beschrieb meinen Kindern die Schulen in Deutschland, als seien sie die schönsten der Welt, ich schwärmte von den Gärten, den Häusern, den Straßen, den Menschen, von der Sicherheit und der Freiheit, die die Menschen in Deutschland genießen. Und ich erzählte ihnen vom Wunder des Schnees. In Syrien warten die Kinder Jahr für Jahr auf Schnee, doch wenn überhaupt etwas herunterkommt, ist er auch schon wieder geschmolzen und damit auch der Kinder-Traum, mit ihm zu spielen.

Als wir in Deutschland angekommen waren und das erste Mal sahen, wie Schnee vom Himmel fiel, freuten sich meine Kinder unbändig und liefen gleich hinaus, um zu spielen, obwohl es fürchterlich kalt war. Sie befürchteten, er würde sofort wieder wegschmelzen. Aber er schmolz nicht. Im Gegenteil, der Schnee fiel tagelang, so dass wir im Haus eingeschlossen wurden und uns dadurch noch fremder fühlten. Meine Kinder wurden krank und lagen mir im Ohr: „Ist das der Schnee, von dem du so geschwärmt hast, Papa? Zum Teufel damit!“ Die Schneeblockade und der verlassene Ort in dieser Gebirgsregion bei Annaberg, in dem wir zunächst unterkamen und kaum einem menschlichen Wesen begegneten, verstärkten unser Gefühl, isoliert zu sein. Manch einen eiskalten Morgen stapfte meine Frau mit unseren Kindern durch den Ort, um den Behörden fehlende offizielle Papiere zu bringen. Zu diesem Zeitpunkt sprachen sie kein Wort Deutsch, kannten weder Orte noch Menschen. Als sie erschöpft, geschlagen und frierend ob der klirrenden Kälte zurückkamen, beklagten sie sich bitterlich: „Wo hast du uns hingebracht, Papa?“

Keiner hatte Zeit für Herzlichkeit

Meine Versuche, Deutschland in den Augen meiner Familie als besonders schön erscheinen zu lassen, griffen nicht mehr, nicht einmal in Berlin, dessen Dächer in üppiges Grün gebettet sind, wie wir bereits vor unserer Ankunft von den Fenstern des Flugzeugs aus sahen. Ich wies auf diesen göttlichen Zauber hin, der auf uns niederschien, während wir in der Luft waren. Doch im ersten Winter in Deutschland trauten wir uns wegen der strengen Kälte kaum, aus dem Haus zu treten, höchstens um Lebensmittel einzukaufen. Aber recht bald entdeckten wir hinter unserem Haus einen Platz mit Autos und Geschäften.

Unsere Freude war groß. Wir dachten, jetzt würden nur noch wenige Tage vergehen, bis wir Bekanntschaften und Freundschaften schlössen, bis wir Menschen in unsere Arme schließen könnten, so wie wir es von Syrien kannten. Doch die Menschen hatten keine Zeit für eine solche Herzlichkeit. Die Fahrt zur Arbeit, die Ankunftszeit der Busse war das einzige, was sie beschäftigte. Während sie an uns vorbeigingen, ermutigten uns ihre wohlmeinenden und respektvollen Blicke manchmal, sie nach einer Adresse zu fragen, die sie uns auch ohne zu zögern zeigten, oder uns sogar dorthin begleiteten, wenn dies nötig war. Doch hatten sie nie Zeit, um darüber hinaus mit uns ins Gespräch zu kommen.

Immer noch anders

Inzwischen fällt es uns leichter, die Bürde der Fremde zu tragen, denn es gibt auch Menschen, die uns die Kraft dazu geben. Nach anderthalb Jahren beginnen unsere beiden Kinder, Deutschland zu mögen und auch Deutschland scheint sie zu mögen. Jetzt haben sie einige Freunde, sie beherrschen die Sprache immer besser und zeigen gute Leistungen in einigen Schulfächern, obwohl sie immer noch den Eindruck haben, dass sie hier nicht genauso behandelt werden wie die meisten deutschen Kinder: Sie haben nicht dieselben Schulfächer, ihre Eltern können in den Schulferien keinen Urlaub machen oder mit ihnen wegfahren, weil sie nicht die Mittel dazu haben wie die Eltern der meisten deutschen Schüler.

Der deutsche Staat bezahlt unser Brot, unser Essen und unsere Kleidung. Weder das Haus, in dem wir wohnen, ist unseres, noch der Fernseher, noch das Schlafzimmer. Wenn mein Sohn Ammar Fußball spielen will, findet er niemanden, der ihm dabei Gesellschaft leistet – er muss alleine kicken. Meine Tochter Tulin setzt sich vor den Spiegel, nimmt ihre Puppe und redet mit ihr auf Deutsch, als wäre sie eine deutsche Freundin.

Dieser Text wurde im Zusammenhang des Projekts „Ankunft. Literarische Reportagen von geflüchteten Autoren“ der Peter-Weiss-Stiftung für Kunst und Politik e.V. geschrieben. Damit soll Autoren, die in den vergangenen Jahren aus Krisengebieten nach Deutschland gekommen sind, aber bis jetzt nicht oder nur wenig in Deutschland publizieren konnten, ein Forum in der deutschen Öffentlichkeit gegeben werden. Ausschnitte der Reportagen wurden beim diesjährigen internationalen literaturfestival berlin gelesen.

Auf Cicero Online präsentieren wir die Texte in einer Serie. Dies ist der vierte Teil. Hier können Sie den ersten, zweiten und dritten Teil lesen.

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Peter Lieser | Sa., 18. November 2017 - 10:55

Zitat : Der deutsche Staat bezahlt unser Brot, unser Essen und unsere Kleidung. Weder das Haus, in dem wir wohnen, ist unseres, noch der Fernseher, noch das Schlafzimmer. Zitat ende. Ähnlich wie bei vielen Deutschen, die sich mit 500 Euro Rente durchschlagen müssen. Wie wär's den mal mit Danke sagen, als Schutzsuchender. Davon lese ich in diesem ganzen Bericht nichts.

Peter Huber | Sa., 18. November 2017 - 14:12

Auszug aus dem Text. Die Deutschen : Die Fahrt zur Arbeit, die Ankunftszeit der Busse war das einzige, was sie beschäftigte.

Wenn ich sowas lese stellen sich meine Nackenhaare........und es gibt Länder dort liegt kein Schnee.

Christoph Wunsch | Sa., 18. November 2017 - 14:28

Im Text heißt es einmal Marienburg. Die Ostsächsische Stadt, von der Sie am Anfang des Textes sprechen, heißt aber: Marienberg.