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(picture alliance) Buntes Herbstlaub umrahmt das Reiterstandbild Friedrich des Großen in Berlin

Friedrich der Große - Europas verlorener Sohn

Körperliche Gewalt und seelische Erniedrigung in der Kindheit, ein Leben lang die "verzehrende Angst vor Vernichtung". Friedrich der Große war seiner Zeit voraus und gilt uns heute nicht als großer Feldherr, sondern als großer Vordenker der europäischen Sache

Autoreninfo

Konstantin Sakkas, geb. 1982, ist freier Autor und schreibt u.a. für Die Zeit und den SWR.

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Politische Geschichte ist immer auch Lebensgeschichte. Und kein politisches Schicksal war so sehr vom persönlichen bestimmt wie das König Friedrichs II von Preußen. Das wussten schon die Zeitgenossen, und der bekannte Vierzeiler, den die Flugblätter bei seinem Tod, am 17. August 1786, als Nachruf druckten, sagt eigentlich schon alles Wesentliche über diesen merkwürdigsten unter allen großen Monarchen der europäischen Neuzeit aus: „Es sagen, Friedrich zu erhöhn, Geschichte und Nachruhm viel zu wenig. Von allen Menschen kann man hier den größten König, von allen Königen den größten Menschen sehn.“

Der Nachwelt mögen diese Verse als einfältige Hagiografie erscheinen; beim genauen Lesen aber verbirgt sich in ihnen das Geheimnis, das Friedrich bis heute umgibt: Denn Friedrich, ohne Zweifel einer der klügsten Geister seiner Epoche, blieb zeitlebens, und gerade im politischen Handeln, doch von seiner Emotionalität bestimmt. Was er als politisches Erbe hinterließ, blieb Fragment, ideell und territorial.

Das Interesse, das er bis heute auf sich zieht, galt seit jeher vor allem seiner Persönlichkeit. Den statuarischen Eindruck eines runden, in sich schlüssigen Lebens, den uns etwa Caesar oder Napoleon vermitteln, hat man bei ihm nie. Friedrich ist ein Zerrissener. Doch eben daher rührt auch die Faszination mit seiner Figur: dass ein Mensch seine Zerrissenheit lebt und auslebt auf der Weltbühne der großen Politik.

„Heimsuchung eines Prinzen“ nannte der Journalist und Friedrich-Experte Wolfgang Venohr das Jugendschicksal des Königs und traf damit den Kern dessen, was das psychologische Schlagwort vom „Vater-Sohn-Konflikt“ nicht ausreichend umschreibt: In Wahrheit war es eine fortwährende, fast 20-jährige Drangsal, eine gründliche körperliche und seelische Misshandlung, die dem Heranwachsenden von seinem Vater, dem „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I, angetan wurde und die sein ganzes Leben beschädigte.

Seiner geliebten Schwester Wilhelmine beschrieb der 17-Jährige sein Martyrium so: „Ich bin in der größten Verzweiflung … Der König hat gänzlich vergessen, dass ich sein Sohn bin ... Ich trat heute morgen wie gewöhnlich in sein Zimmer. Kaum hatte er mich erblickt, als er mich am Kragen packte und in der grausamsten Weise mit dem Stocke auf mich losschlug. Ich suchte vergeblich, mich zu wehren; er war in einem so schrecklichen Zorn, dass er sich nicht mehr beherrschte, und er hielt erst inne, als sein Arm vor Müdigkeit erlahmte.“

Körperliche Gewalt, mehr noch aber seelische Erniedrigung und der perverse Zwang zur Selbstverleugnung haben den Prinzen für sein Leben traumatisiert. Bei einem Manöver in Kursachsen 1728 schlägt ihn der Vater in aller Öffentlichkeit mit dem Stock blutig. Als Friedrich auf dem Höhepunkt des Konflikts 1730 bei einer Inspektionsreise am Rhein einen Fluchtversuch unternimmt und damit scheitert, kommt es zu einer weiteren Eskalation: Der Vater stürzt sich mit gezogenem Degen auf den Sohn und will ihn erstechen; nur das Dazwischentreten eines Kommandanten verhindert einen Sohnesmord. Leutnant von Katte, der geliebte Jugendfreund des Prinzen, der ihm zur Flucht nach England verhelfen wollte, wird vor ein Kriegsgericht gestellt; man erkennt auf lebenslange Haft, aber der König persönlich ändert das Urteil ab und verurteilt Katte zum Tode. Der Hinrichtung muss Friedrich zusehen.

Und auch der Sohn soll sterben. Kaiser Karl VI und der greise Prinz Eugen intervenieren persönlich für den preußischen Kronprinzen; Fürst Leopold von Anhalt-Dessau, der erste Feldherr Preußens, fällt vor dem König auf die Knie und bittet um Gnade; das rettet dem Jungen das Leben. Friedrich ist 18 Jahre alt, als dies über ihn hereinbricht. Man darf diese Vorgeschichte nie vergessen, wenn man das politische Schicksal Friedrichs des Großen begreifen will.

Als der 28-Jährige nach dem Tod des Vaters 1740 den Thron besteigt, freut er sich seiner neu gewonnenen Freiheit. Schnell erkennt er, dass Preußen, ein armer Agrarstaat von gerade zwei Millionen Einwohnern und noch deutlich vom Aderlass des Dreißigjährigen Krieges gezeichnet, nur bestehen kann, wenn er expandiert. Er entschließt sich zu einem folgenschweren Schritt und annektiert Schlesien, eine der reichsten Provinzen Österreichs. Europas politisches Gedächtnis hat dem preußischen König den Überfall auf Schlesien, den Friedrich-Biograf George P. Gooch „eines der sensationellsten Verbrechen der neueren Geschichte“ nennt, bis heute nicht verziehen – gerade wegen seines sensiblen Charakters, dem man kriegerische Ambitionen nicht zutraute; vor allem aber wegen der geistesgeschichtlichen Situation.

Hätte Friedrich seinen sogenannten schlesischen Raub ein halbes Jahrhundert früher begangen, urteilte heute kein Mensch mehr moralisch darüber; ebenso wenig wie von den Reunionen Ludwigs XIV, der Verwüstung der Pfalz und dem anschließenden Weltenbrand, den Frankreich und Habsburg im Jahr 1701 um die spanische Thronfolge entfachten. Aber 1740 lagen die Dinge anders. Die Philosophie der Aufklärung hielt langsam Einzug ins kollektive Bewusstsein; vor allem aber hatte niemand damit gerechnet, dass gerade Friedrich von Preußen die politische Moral so fundamental infrage stellen würde. Denn 1739, nur ein Jahr zuvor, hatte er, noch als Kronprinz, jene Schrift veröffentlicht, an der er sein Leben lang, und darüber hinaus, gemessen werden sollte: den „Anti-Machiavel“.

„Der Anti-Machiavel“, so urteilte der Publizist Joachim Fest, „ist häufig als ein Dokument unverbindlicher, literatenhafter Schwärmerei gedeutet worden. In Wirklichkeit traten in der Streitschrift Überzeugungen hervor, die mit Friedrichs innerstem Wesen zu tun hatten. Doch hat er den Widerspruch zwischen humanitärem Ehrgeiz und den Zwängen der Staatsräson nie aufgelöst: Er hat der Macht seine Träume, seine Maximen und, wie er selber geäußert hat, sein Leben geopfert – und sie doch illusionslos verachtet; er hat Kriege geführt – und darunter gelitten … Die Bereitschaft zur Selbstverleugnung, die Neigung, alle sanfteren Bedürfnisse als Wehleidigkeit abzutun, hat schließlich typenbildend gewirkt und den Kern dessen hervorgebracht, was man den preußischen Charakter nennt.“

Friedrichs Zwiegespaltenheit war das Erbe seiner Jugend. Die verzehrende Angst vor Vernichtung war die eine, der brennende Ehrgeiz zur Selbstbewährung die andere Konstante seines Charakters. Mit dem schlesischen Raub, der Preußen territorial und machtpolitisch erst „eine Figur gab“, wie Friedrich es ausdrückte, wollte er sich bewähren, wollte der Welt zeigen, dass er es locker mit den fürstlichen Vettern im Reich, in Frankreich, England und Österreich aufnehmen konnte. Doch Friedrich geriet an Maria Theresia. Für die blutjunge Erzherzogin wird das Jahr 1740, als halb Europa über ihr österreichisches Erbe herfällt, zum bleibenden Trauma; den Traum von der Rückgewinnung Schlesiens gibt sie bis an ihr Lebensende nicht mehr auf. Die Geister, die er hier rief, sollte Friedrich nicht mehr los werden.

Johannes Kunisch, der andere große Friedrich-Biograf, schreibt: „Schon hier fällt auf, wie sehr Friedrich dazu neigte, in Extremen zu denken, und dass er als Möglichkeiten seines Handelns nur die Katastrophe oder den Triumph zu erkennen glaubte. Es ist jenes Prinzip des ‚alles oder nichts‘, das dann besonders in den Krisen des Siebenjährigen Krieges seinen Selbstbehauptungswillen ins Heroische zu steigern vermochte … Seit dem Schlesienabenteuer … gewann die innere Spannung zwischen einem elementaren Durchsetzungswillen auf der einen und einem bis in tiefe Depressionen reichenden Fatalismus auf der anderen Seite eine politische Dimension, die dann für die gesamte Regierungszeit des Königs prägend blieb.“

In den ersten Jahren gelingt dem jungen König Friedrich alles. Er erobert Schlesien, verteidigt die neu gewonnene Provinz in einem zweiten schnellen Krieg und erwirbt sich Meriten als Reformer im Innern. Die Folter wird abgeschafft, die Zensur gelockert und strikte religiöse Toleranz geübt. Schloss Sanssouci wird errichtet, und die Freundschaft mit Voltaire, der sich 1752 für eine Zeit lang in Potsdam niederlässt, verleiht dem frankophilen König, der Deutsch nur „wie ein Kutscher“ spricht, aber sechs Bände französischer Poesie hinterlassen hat, den legitimen Nimbus europäischer Geistesgröße.

In jenem zweiten Schlesischen Krieg von 1744 bis 1745 bildet sich auch sein Feldherrntalent heraus, und beim Einzug im winterlichen Berlin Ende 1745 akklamiert man ihn, der bei Hohenfriedeberg seinen ersten selbstständigen Sieg erfochten hat, erstmals als „Fridericus magnus“, als „Friedrich den Großen“. „Sekurität“ aber, das Gefühl, „angekommen zu sein“, will sich bei allem ernst gemeinten Verzicht auf weitere Eroberungen nicht einstellen. Die Preußen, so schreibt der König, müssten „toujours en vedette“ sein, „immer auf Posten“ und „stets mit gespanntem Ohr auf der Wacht gegen ihre Nachbarn stehen und jeden Augenblick bereit sein, die verderblichen Absichten ihrer Feinde abzuwehren“.

Dass das kein Grundsatz gesicherter Staatlichkeit ist, weiß Friedrich selbst am besten; die Einverleibung Schlesiens stempelt ihn zum „Aggressor und Friedensbrecher“: „Ich hoffe, die Nachwelt, für die ich schreibe, wird bei mir den Philosophen vom Fürsten und den Ehrenmann vom Politiker zu scheiden wissen. Ich muss gestehen: Wer in das Getriebe der großen europäischen Politik hineingerissen wird, für den ist es sehr schwer, seinen Charakter lauter und ehrlich zu bewahren. Immerfort schwebt er in Gefahr, von seinen Verbündeten verraten, von seinen Freunden im Stich gelassen, von Neid und Eifersucht erdrückt zu werden.“

Seit dem Dresdner Frieden 1745 arbeitet Maria Theresia an der Revanche; 1756 schließlich ist es so weit. Friedrich, den seine Agenten in Dresden über die geheimen Bündnisverhandlungen zwischen Österreich, Sachsen und Russland auf dem Laufenden halten, entschließt sich zum Präventivschlag und marschiert in Sachsen ein. Dieser dritte Schlesische Krieg, der sieben Jahre dauern soll, begründet den Ruhm des „Großen Königs“ – und mit ihm den ersten deutschen Nationalmythos seit dem Dreißigjährigen Krieg. „Und so war ich denn auch preußisch, oder um richtiger zu reden, Fritzisch gesinnt“, bekannte später Goethe, der als kleiner Junge im Frankfurter Elternhaus begierig die Neuigkeiten von der Front aufgesogen hatte, setzte aber hinzu: „Denn was ging uns Preußen an. Es war die Persönlichkeit des großen Königs, die auf alle Gemüther wirkte.“

Preußen: Das war ein Phantom, das die Gestalt Friedrichs erst mit Leben füllte, dies allerdings so gründlich, dass auch der notorisch antinationale Goethe bekannte: „Der erste wahre und höhere eigentliche Lebensgehalt kam durch Friedrich den Großen und die Thaten des Siebenjährigen Krieges in die deutsche Poesie. Jede Nationaldichtung muß schal sein oder schal werden, die nicht auf dem Menschlich-Ersten ruht, auf den Ereignissen der Völker und ihrer Hirten, wenn beide für Einen Mann stehn. Könige sind darzustellen in Krieg und Gefahr, wo sie eben dadurch als die Ersten erscheinen, weil sie das Schicksal des Allerletzten bestimmen und theilen, und dadurch viel interessanter werden als die Götter selbst, die, wenn sie Schicksale bestimmt haben, sich der Theilnahme derselben entziehen.“

Das „Schicksal des Allerletzten“ hat Friedrich allerdings geteilt, und wenn irgendetwas, dann machte ihn dies zum „Großen“. Jenen König, der nach der schmerzlichen Niederlage von Kolin 1757 gedankenverloren auf einem Baumstamm sitzt und aus dem Dreispitz eines einfachen Kürassiers trinkt; der im Schneetreiben von Leuthen den Fahnenträger der Avantgarde zur Schlacht einweist und der auf den Altarstufen einer Dorfkirche und bei Kerzenschein den Tagesbefehl nach dem schweren, blutigen Sieg von Torgau 1760 schreibt – diesen König gab es wirklich. Es war keine Pose, wenn er im Feldlager Voltaires Verse zitierte: „Ich bin bloß ein Mensch, dem Leide geweiht. Mein Schutzschild ist nur die Standhaftigkeit.“ 

Die Jahre von 1757 bis 1761 wurden zu einer beispiellosen Belastungsprobe für Preußen und seinen König.

Mit dem österreichischen Sieg beim böhmischen Kolin im Juni 1757 zerbrach nicht nur der militärische Nimbus des bis dahin unbesiegten roi connétable, der, für seine Zeit unüblich, die Strapazen des Feldzugs persönlich mit seinen Truppen teilte. Hier zerbrach auch seine Hoffnung auf einen schnellen Frieden mit Österreich. Der Krieg, in den sich Kaiserin Elisabeth von Russland mit eindeutigen Eroberungsabsichten eingeschaltet hat, ist ein Zweifrontenkrieg, die numerische Übermacht der antipreußischen Koalition erdrückend. Friedrichs einziger nennenswerter Verbündeter ist England, das, ebenso wie Frankreich, im „Umsturz der Koalitionen“ 1756 die Seiten gewechselt hatte. Die, später übermäßig glorifizierten, Siege der Jahre 1757 und 1758, Roßbach, Leuthen, Zorndorf, sind nur Atempausen; die Niederlage bei Kunersdorf an der Oder 1759 dagegen eine Katastrophe: Der König verliert die Hälfte seiner Armee, denkt, wie so oft, an Selbstmord und ist tagelang nicht ansprechbar.

Dann geschieht das erste „Wunder des Hauses Brandenburg“: Die verbündeten österreichischen und russischen Truppen können sich auf keine gemeinsame Strategie einigen und ziehen ab, Friedrich hat, trotz einiger weiterer Rückschläge, bis zum Winter Ruhe. Zwei Jahre später, 1761, steht Friedrich abermals am Rande des Abgrunds: Im August schließen ihn die Alliierten im Lager Bunzelwitz in Schlesien ein, 150000 Mann gegen 50000. Doch auch diesmal rettet den „bösen Mann aus Berlin“, wie ihn die zornige Maria Theresia nur nennt, die Uneinigkeit seiner Gegner. Erst als nur wenige Monate später Zarin Elisabeth stirbt, lichtet sich der Horizont wirklich.

Auf den Thron folgt ihr Neffe Peter von Schleswig-Holstein – ein jugendlicher Enthusiast, der den Preußenkönig glühend verehrt, mit ihm sofort Frieden schließt und seine russische Heeresgruppe, die gerade noch Berlin besetzt hatte, preußischem Kommando unterstellt. Ein Jahr noch schleppen sich die Kampfhandlungen dahin, doch auch ein erneuter russischer Thronwechsel und die unveränderte Zähigkeit der Kaiserin in Wien können am Status quo nichts mehr ändern: Im Februar 1763 wird der Friede von Hubertusburg geschlossen. Schlesien bleibt preußisch. Der Siebenjährige Krieg war Friedrichs Heldenepos; daran hat keine kritische Geschichtsschreibung etwas ändern können, ja, sie wollte es auch gar nicht. „Seit Alexander“, so sah es auch Rudolf Augstein, sicher sein luzidester Kritiker, „hatte kein Erbkönig sich dem Gedächtnis der Zeitgenossen so eingeschrieben wie Friedrich. Er war der letzte legitime Monarch, der seine Schlachten selber schlug.“

Aber der Siebenjährige Krieg befestigte auch die geistige Gestalt Preußens als „abgerissener, immer ächzend verausgabter, von Zerbrechlichkeitsängsten heimgesuchter“ Staat, der seine Aufnahme in den Zirkel der europäischen Großmächte kaum realer Kraft und Stellung verdankte, sondern dem unheimlichen Mythos, der sich um seinen Fürsten gebildet hatte.

Nichts drückt diesen Mythos besser aus als das Bild, das Adolph Menzel ein Jahrhundert später vom Zusammentreffen Friedrichs mit dem jungen Kaiser Joseph II in Neiße 1769 gemalt hat: hier der durch viele Leiden früh vergreiste, schon altersmilde lächelnde König; da der juvenile, feuerköpfige Kaiser, der dem einst viel gehassten Widersacher seiner Mutter nun mit der trunkenen Begeisterung eines Fans entgegentritt. Es ist die letzte große Ecce-Homo-Szene des Absolutismus: die staunende Reverenz des tatendurstigen Jünglings vor dem ergrauten Heroen, der in seiner Person nochmals das ganze Panoptikum menschlicher Größe und menschlicher Tragik hatte Gestalt werden lassen.

Seit 1763 gehörte Preußen zur europäischen Pentarchie, aber es war nur eine „Großmacht cum grano salis“, und das Problem seiner fehlenden historischen Legitimität, den Makel seiner mühseligen Konstruiertheit wurde es nie los, auch wenn es 1786, als der König starb, diplomatisch respektiert und militärisch potent, wirtschaftlich stabil und mit fünf Millionen Einwohnern einigermaßen gut besiedelt dastand. Zu Recht sah Heinrich Mann in Friedrichs Person „das vorweggenommene Preußen – Deutschland wie es eines späten Endes werden sollte. Die Überspannung der Kräfte, das ist er. Das ‚gefährliche Leben‘ für alle Tage, die herausgeforderte Entzweiung des einzelnen Landes mit der europäischen Ordnung, man erkennt ihn.“

Diese Entzweiung war in seinem Lebensweg, vielleicht in seinem Charakter angelegt. Ob je ein Mensch sich ihrer Kraft hätte entziehen können, ist fraglich; Friedrich wenigstens konnte es nicht. Die Flucht vor der Peinigung, die sein Vater ihm angetan hatte, trieb ihn dem Abenteuer in die Arme. Er, der ein talentierter Beau auf dem Thron hätte sein können, der vielleicht auch einen wahren Musenhof, ein preußisches Weimar hätte errichten können, fügte sich stattdessen in die Rolle des gekrönten Schmerzensmannes, die ihm das Schicksal zugedacht hatte.

Friedrichs politische Aufgeklärtheit hinterließ denn auch nur wenige Spuren. Sein religiös-schwärmerischer Nachfolger führte die alte Toleranzpolitik nicht weiter, und das heraufziehende Napoleonische Zeitalter mit seinem aggressiven Nationalismus ließ keinen Raum mehr für den nonchalanten royalen Internationalismus des Ancien Régime. Das Los der Leibeigenen hat Friedrich, wo er konnte, gemildert, einige Exempel an gar zu mittelalterlich auftretenden Gutsbesitzern statuiert, die königlichen Domanialbauern aus der Erbuntertänigkeit befreit; doch die feudale Gesellschaftsordnung im Ganzen ließ er unangetastet, und die große Rechtsreform blieb unvollständig.

Seine Ideen aber waren aufrichtig. An die Kurfürstin-Witwe von Sachsen schrieb er 1766: „Alle Menschen sollten von selber im Einvernehmen leben. Die Erde ist weit genug, um sie alle zu beherbergen, zu ernähren und zu beschäftigen. Zwei unselige Worte, mein und dein, haben alles verdorben. So entstanden Eigennutz, Missgunst, Ungerechtigkeit, Gewalttat und alle Verbrechen.“

Friedrichs real existierender erleuchteter Despotismus hat daran wenig geändert; aber wie auch? Eine Wirtschaftsordnung, die so alt ist wie die Weltgeschichte, wirft auch ein Schriftsteller auf dem Thron nicht in einem Menschenalter um. Und dennoch hat er als Politiker Erstaunliches geleistet; weniger durch praktische Innovationen als durch das Lehrstück seines politischen Schicksals: dass es am Ende besser sei, die Ruhe und damit den Frieden zu bewahren, als in Eroberung oder in Revolution sich zu verwirklichen. Wer einen Siebenjährigen Krieg durchgemacht hat, ist vom Furor agressiver Politik gründlich geheilt.

Friedrich war kein Eroberer, kein Karl XII von Schweden, schon gar kein Napoleon. Der kämpferische Grundzug seines König- und Feldherrntums gab seinem Leben die Tönung des Schwermütigen, ja des Vergeblichen. „Das Bewusstsein der Zerbrechlichkeit hat den preußischen Charakter im Ganzen geprägt“, schreibt Joachim Fest, „und ihm den angestrengten Zug zur Härte gegeben, das häufig Verbogene, Malträtierte oder sogar Gebrochene, das am auffälligsten an seinen beiden großen Königen zutage tritt: der eine im Grunde ein leutseliger, gutmütiger Mann, aber Sklave einer tyrannischen Idee, unter der er selber zum Tyrannen wurde; der andere ein empfindsamer Schöngeist, weich, nervös, hochherzig, dekadentes 18. Jahrhundert, ein Flötenspieler und Menschheitsbeglücker.“

Der Wahrheit am nächsten kommt vielleicht Thomas Mann in seiner Friedrich-Apologie: „Er war ein Opfer. Er musste unrecht tun und ein Leben gegen den Gedanken führen, er durfte nicht Philosoph, sondern musste König sein.“ Da er dies nun aber, offenbar, sein „musste“, entschloss er sich, es auch voll und ganz zu sein, im Leiden und im Gelingen, in Pose und Ernst, in seiner Donquichotterie und in seiner Epopöe – der größten, die eine deutsche Dynastie hervorgebracht hat, und mit der sich nur Karl V und Wallenstein, beide ihm vielfach verwandt, vergleichen lassen. Er war kein Ritter ohne Fehl und Tadel, aber er war ein menschliches Gesamtkunstwerk. Ein Rex tragicus, den man kaum lieben, aber immer liebhaben konnte. War Kaspar Hauser das Kind von Europa, so war Friedrich von Preußen sein verlorener Sohn.

Und doch bleibt ein Vorwurf: mit seinem stoizistischen Postulat eines Lebens im Verborgenen, einer echten Vita contemplativa nicht ernst gemacht zu haben. Hatte er nicht gedichtet: „Als ich geboren ward, ward ich der Kunst geboren, / Die heiligen neun Schwestern reichten mir die Brust, / Und für des Herrschers Hochmut schien dies Herz verloren, / Das voller Mitleid war und kindlich unbewusst.“

Natürlich ließ sich das für einen Souverän, der in seine öffentliche Verantwortlichkeit hineingeboren wird, nicht ohne Weiteres verwirklichen; doch hätte Friedrich sich nicht wirklich größeren, saubereren Ruhm erworben, hätte er sein Preußen beim Regierungsantritt in ein humanistisches Utopia umgewandelt, anstatt die eingetretenen Pfade europäischer Großmachtpolitiker einzuschlagen, deren stumpfe Phlegmatik er doch gnadenlos durchschaute? Hätte er sich nicht doch dem scheinbar unbezwinglichen Diktat, das ihn einer Imperatorenkarriere entgegentrieb, entziehen und ein wahrer Friedensfürst werden können, zwar nur für sein kleines, armes Preußen, dort aber richtig?

Oder aber er hätte auf den Thron verzichtet, die Erbfolge an seinen Bruder abgetreten und als materiell sorgenloser Privatgelehrter sein Glück gefunden; denn dass ihm dies eigentlich angemessen gewesen wäre, darüber besteht kein Zweifel. 

Hinter jeder realen Biografie liegt als Schattenriss ihr verfehltes Ideal: Und wie Friedrich Wilhelm II als spätbarocker Playboy, Friedrich Wilhelm IV als ein zweiter Schinkel und Kaiser Wilhelm II als englischer Country Squire glücklich geworden wären, so eben Friedrich II als der Philosoph von Sanssouci: eine Mischung aus Voltaire und Prince de Ligne, ewig wissbegierig, ein Liebhaber nicht der schönen Frauen, aber des schönen Stils, vor allem mit genügend Zeit, sich seiner Seelenwunden zu widmen. Er wäre seinen so geliebten Stoikern nachgefolgt und zugleich vielleicht ein Prototyp des postmodernen Europäers geworden, der nicht mehr nach der Chimäre der Macht greift, sondern der nach Selbsterkenntnis fragt und dem Ruhe und Frieden das Heiligste sind.

Doch es sollte nicht sein. Friedrich wählte den Weg, der ihm schon leiblich als Sohn eines Königs vorgeschrieben war. Vielleicht war dies die größte Untat des Vaters an seinem Kind: Dass er ihn einfach qua seiner Vaterschaft dazu zwang, denselben, unseligen Beruf zu ergreifen wie er; und hatte nicht der Vater selbst einst die Regentschaft niederlegen und „aufs Land ziehen“ wollen – ein Wunsch, dessen Unerfüllbarkeit seine psychische Gereiztheit zweifelsohne nicht gemildert haben wird? Also wurde Friedrich König, tat seine sogenannte Pflicht und wurde nicht glücklicher damit, als der Vater es geworden war.

Heinrich Mann, der sich als Patriziersohn mit Familienschicksalen gut auskannte, schrieb dem Philosophen von Sanssouci den ehrlichsten Nachruf, den der sich hätte wünschen können: „Lebt er dereinst mit keinem Staat mehr, dann umso sicherer in der Tragödie, die er sich selbst schrieb. Sein zerrissenes Königreich – vergangen. Übrig – der König von Preußen.“ 

Konstantin Sakkas ist freier Autor. Er schreibt Essays und Reportagen für das Deutschlandradio, den SWR, Cicero und Die Zeit

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