Das Journal - Es spukt im Gebälk

Der Physiker Henning Genz versucht das maßgeschneiderte Universum zu erklären, indem er gegen das «intelligente Design» des Alls anschreibt

Nachdem die Wissenschaft uns über Jahrhunderte hinweg eine kopernikanische Krän­kung nach der anderen zugemutet hat, scheint sich das Blatt neuerdings zu wenden. Ausgerechnet die Physik, die maßgeblich daran mitwirkte, dass der Mensch vom Hauptdarsteller zur Randfigur des Universums wurde, macht der metaphysischen Obdachlosigkeit des Menschen offenbar jetzt ein Ende. «Feinabstimmung», lautet das Stichwort: Die fundamentalen Naturkonstanten erwecken den Eindruck, als seien sie für den Auftritt intelligenten Lebens wie gemacht. Hätte die Gravitationskonstante G beispielsweise einen auch nur geringfügig größeren oder kleineren Wert, so wäre das Weltall entweder kurz nach seiner Entstehung in sich zusammengefallen, oder die Urmaterie hätte sich nie zu bewohnbaren Himmelskörpern verdichten können.

Henning Genz scheut vor den großen Fragen nicht zurück, die sich aus dieser punktgenauen Ausrichtung der «lebensrelevanten Parameter» ergeben: «War es ein Gott?» ist seine kompakte Weltbildkunde überschrieben, die «Zufall, Notwendigkeit und Kreativität in der Entwicklung des Universums» erörtert. In Büchern wie «Die Entdeckung des Nichts» oder «Wie die Naturgesetze Wirklichkeit schaffen» ist der Autor, der bis zu seiner Emeritierung Theoretische Teilchenphysik in Karlsruhe lehrte, auch zuvor schon aufs Ganze gegangen. Dass er damit nicht gegen gute Sitten verstößt, muss hierzulande – anders als in den USA – immer noch eigens betont werden. Auch Planck, Einstein oder Heisenberg waren sich für Grenzüberschreitungen von der Physik zur Metaphysik nie zu schade. Was zu ihrer Zeit erkenntnistheoretisch geboten war, legt der Realitätsverlust der heutigen Physik erst recht nahe: Es spukt im Gebälk.


Die Mächte der Finsternis

Während Theoretiker immer noch von einer alles erklärenden Theory of Everything fabeln, rückt der große Durchblick empirisch in immer weitere Ferne: Der sichtbare Anteil des Universums, bestehend aus Galaxien, Sternen und Planeten sowie Staub- und Gaswolken, macht gerade einmal ein Prozent seiner Gesamtmasse aus. Dreißig Prozent dagegen bestehen aus so genannter «Dunkler Materie», deren Zusammensetzung noch völlig ungewiss ist. Siebzig Prozent des Universums sind in noch schwärze­re Nacht getaucht. Die Natur dieser «Dunk­len Energie» bildet Henning Genz zufolge «das größte aller Rätsel von Kosmologie und Physik der Elementarteilchen».

Dennoch wirken beim Aufbau des Universums die Mächte der Finsternis allesamt mit. Sie gehen damit auch den Menschen als dessen merkwürdigste Hervorbringung unmit­telbar an. Ob wenigstens das «anthropische Prinzip» uns ein Licht aufgehen lässt? Dieses Theorem fordert laut Genz nämlich dazu auf, die Welt vom Ergebnis her zu interpretieren: «Demnach wäre das Ziel, zur Beobachtung befähigte Wesen hervorzubringen, kausaler Grund von Eigenschaften von allem Anfang an gewesen.»

Dieser Interpretation, die vom Astrophysiker Brandon Carter stammt, möchte sich Genz lieber nicht anschließen. In seinen Augen wird dabei eine logische Schlussfolgerung zur kausalen umgemogelt: Wenn das Resultat (intelligentes Leben) die Ursache (Ausgestaltung der Naturgesetze) bestimmen soll, so wäre das für ihn «eine die tatsächliche kausale Reihenfolge umkehrende, höchst problematische Forderung an die Natur».

Doch an der Grenze von Physik und Metaphysik ist weit mehr möglich, als sich der deterministische Alltagsverstand vorstel­len kann. Schon beim radioaktiven Zerfall geht es nicht mehr mit rechten Dingen zu. Warum das eine Atom zerfällt und das andere nicht, ist unerfindlich, nicht nur aus messtechnischen, sondern aus prinzipiellen Gründen.

Da Henning Genz nicht daran glaubt, dass die Welt teleologisch, ziel­ge­richtet, verfasst ist und mithin eine bestimmte Absicht verfolgt, muss er sich einen weltlichen Reim auf die Ausrichtung der Naturkonstanten machen. Wie der bekennende Atheist Stephen Weinberg versagt er sich der Idee eines Designer-Universums und geht davon aus, dass «unser» Universum lediglich eines von vielen ist. In der Tat sind zahllose Welten mit den unterschiedlichsten Naturkonstanten physikalisch denkbar, solange nicht geklärt ist, weshalb in dem einen, zweifelsfrei vorhandenen, die Anfangsbedingungen so sind, wie sie sind. Doch mit dieser Hilfskonstruktion gibt Henning Genz sich nur vo­rübergehend zufrieden. Sein Fernziel bleibt eine Theorie, die den Naturkonstanten definitive Werte zuschreibt. Wo andere sich auf Gott berufen, glaubt er an «allumfassende deterministische Gesetze». Wer sie erlassen haben könnte, verrät er uns freilich nicht.

Der Mathematiker Henri Poincaré maß den Anfangsbedingungen von natürlichen Prozessen keine so große Bedeutung bei: «Eine sehr kleine Ursache, die uns entge­hen mag, bewirkt einen beachtlichen Effekt, den wir nicht ignorieren können, und dann sagen wir, dass dieser Effekt auf Zufall beruht.» Diese prozessuale Betrachtungsweise könnte erklären, weshalb Leben sogar dort noch außerordentlich selten ist, wo es eigent­lich davon wimmeln müsste; sie würde den Blick auf unseren zum gleichgültigen Ort degradierten Heimatplaneten lenken, dessen einmaligen Eigenschaften Genz ein eigenes Kapitel widmet, das sich als Plädoyer für die Erde lesen lässt. Vielleicht sollte sich die Suche nach dem Sinn ja auf diesen heimeligen Ort inmitten von Gluthöllen und Eiswüsten konzentrieren, statt sich in den Ab­grün­den multipler Universen zu verlieren.


Das Universum braucht Zeit

Hier lässt sich vor Ort studieren, was es mit dem «kreativen Universum» auf sich hat, das der Autor am Schluss seines Buches etwas zu beiläufig aus dem Hut zieht. Es kommt eben nicht allein darauf an, was bei der Welt­entstehung vor 13,7 Milliarden Jahren passiert ist. Auch was sich vor 4,5 Milliar­den Jahren und vor drei Millionen Jahren auf der Erde ereignet hat, verdient Beachtung. Warum hat es so lange gedauert, bis Leben selbst in einem lebensfreundlichen Universum entstanden ist? Warum vergingen danach nochmals Jahrmilliarden, bevor die ers­ten Hominiden auftauchten?

Für Henning Genz brauchte ein durch keine spirituellen Vorgaben festgelegtes Universum aus Gründen der Wahrscheinlichkeit sehr viel Zeit, um zu entwicklungsfähigen Ergebnissen zu gelangen. Doch man könnte den Vorgang auch von innen beschrei­ben und nach seiner spezifischen Gesetzlichkeit fragen. Dass der Autor bei seinem physikalischen Leisten bleibt und die biologische Perspektive ausblendet, ist seinem gedankenreichen und informativen Buch kaum anzulasten. Es liegt in der Natur der Sache, dass seine Antworten eher blass ausfallen. Die Schöpfung lässt sich eben nicht so leicht in die Karten schauen. Schon Einstein muss­te da passen: «Das Schönste und Tiefste, was ein Mensch erfahren kann, ist das Gefühl des Geheimnisvollen.»

 

Henning Genz
War es ein Gott? Zufall, Notwendigkeit und Kreativität in der Entwicklung des Universums
Hanser, München 2006. 224 S., 19,90 €

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