- Erklär mir die Biene
Mit seinem Audio-Label «supposé» bringt Klaus Sander ein phantastisches Expertenkabinett zum Sprechen. Viren-, Feuer- und Bienenforscher erzählen ebenso mitreißend wie die Literaten Peter Kurzeck, Georg Klein und Herta Müller
Pädophagen sind hochspezialisierte Kinderfresser: Sie nehmen das Maul eines Weibchens ins eigene Maul, um die dort sitzenden Jungen herauszusaugen. Oder sie rammen das Weibchen, damit es den Nachwuchs direkt in ihren Kinderfresserrachen ausspuckt. Wer tut so was? Buntbarsche, die artenreichsten und spezialisiertesten Fische a. Einige ziehen ihre Jungen im Maul groß, andere haben sich zu brutsaugenden Rambos entwickelt. Dazu kommen ausgefallene Fress- und Nestbaumethoden, versteckte Zusatzkiefer und exzentrische Schuppenkleider. Ihre Vielfalt macht sie so interessant, erklärt der Evolutionsbiologe Axel Meyer auf der Buntbarsch-CD «Algenraspler, Schneckenknacker, Schuppenfresser», die bei Klaus Sanders Audio-Label «supposé» erschienen ist.
Mit traditionellen Hörbüchern hat das wenig zu tun, nicht nur, weil Meyer frei spricht und sich nach einer notwendigen Einführung in die Entwicklungstheorie immer mehr in Fahrt redet. Hier gerät ein eher nüchtern klingender Naturwissenschaftler skriptlos und wie aus Versehen ins Schwärmen – nach drei, vier Tracks glaubt man ihm gern, dass Buntbarsche die tollsten Fische überhaupt sind. Vom Gesprächspartner kommt kein Wort, die Fragen sind im Off des Schnitts verblieben. Trotzdem ist es offensichtlich, dass man einem Dialog zugeschaltet ist; so wähnt sich der Zuhörer in der Position des ausgeschnittenen Gegenübers. Zusammen mit dem farbenprächtigen Buntbarsch-Booklet ergibt die CD eine Art Wissenschaftskunstwerk.
Bei vielen CDs von
«supposé» ist das so. Man wird auf Augenhöhe angesprochen, denn
die Wissenschaftler vermeiden den pädagogischen Onkel- oder
Tierfilm-Ton, der einem jede noch so gut gemeinte Einführung in
unbekanntes Terrain vermiesen kann. Die Kehrseite davon ist
manchmal eine produktive Überforderung – das kann zum Beispiel
vorkommen, wenn der Quantenphysiker Anton Zeilinger über Photonen
spricht. Interesse geweckt, Replay gedrückt: Beim zweiten Mal hat
dann auch die Physik-Abwählerin eine Ahnung davon, was Einstein mit
dem poetischen Ausdruck «Spukhafte Fernwirkung» gemeint haben
könnte.
Wer ist der Mann, der Experten und Literaten zum Reden bringt und sich nur ungern einen Hörbuchverleger nennen lässt? Nicht etwa, weil er etwas gegen Verleger oder Hörbücher hätte. Mit der Erfindung «Antihörbuch» könne er nichts anfangen, sagt Klaus Sander, weil er nicht gegen ein bestimmtes Genre angetreten sei, sondern auf der Suche war nach etwas Drittem, das nicht vom Buch her kommt und dem gesprochenen Wort einen neuen Rang verschafft. Eine Kunstform, irgendwo zwischen unmittelbar und formvollendet. So etwas wie eine Grauzone, die das allmähliche Verfertigen der Gedanken beim Reden hörbar macht? Und schon sind wir mitten drin in der Geschichte dieses Verlags beziehungsweise Labels.Wenn man Klaus Sander unter der «supposé»-Adresse besucht, trifft man ihn gleichzeitig zu Hause an. Zwei große Räume in der Charlottenburger Altbauwohnung bilden Büro und Archiv, daran schließt sich der Wohntrakt an – alles angenehm geradlinig, ohne deshalb gleich asketisch zu wirken. Trotz der klassischen Osmose aus Wohnen und Arbeiten fehlt hier aber jede Anmutung von Laptop-Kreativität, die permanent auf irgendeine Szene-Zugehörigkeit verweist. Keinerlei Anzeichen von marktgerechter Content-Erzeugung, ganz offenbar ist der Gewinn, um den es hier geht, nur der Erkenntnisgewinn. Sander, Jahrgang 1968, sieht «supposé» vor allem als persönliches Forschungsprojekt, von der Mikrobiologie über den Flug der Zugvögel bis zum Radikalen Konstruktivismus. Über den weitgespannten Themen schwebt eine Form-Frage, die sich von der Wissenschaft auf die Literatur übertragen lässt: Welchen Status hat das gesprochene Wort? Und ab wann verwandeln sich eigentlich Worte in Literatur?
Weithin bekannt
wurde «supposé» mit einer Literaturproduktion, Peter Kurzecks
Kindheitserzählung «Ein Sommer, der bleibt», die als Hörbuch des
Jahres 2008 ausgezeichnet wurde. «Viele haben Kurzeck so
gehört, als ob sich da jemand hinsetzt und fünf Stunden nonstop
durcherzählt – tatsächlich haben wir über 5000 Schnitte gemacht.
Die vermeintliche Authentizität ist gleichzeitig auch etwas
Künstliches, entstanden durch das Arrangement und durch die
Schnitte.» Gerade ist die CD «Da fährt mein Zug» mit Peter Kurzeck
erschienen, 62 sehr kunstvoll-suggestive Trödlerminuten (siehe in
diesem Heft S. 94): Der Erzähler klingt ehrlich verblüfft über den
verpassten Zug, schwelgt aber so begeistert in den Ablenkungen am
Wegesrand, als ob er den Zug mit seinen Erzählzaubertricks
zurückreden könnte.
Sander interessieren an der Kluft zwischen dem Authentischen und
Künstlichen vor allem poetologische Fragen. Aufgefallen war ihm das
schon früher, auf der Suche nach Tondokumenten von Hubert Fichte.
Dessen ethnologische Hörstücke und Gespräche, darunter die «St.
Pauli Interviews» mit Prostituierten und Strichern, hat er als
Hommage an den Schriftsteller herausgebracht, aber auch als
Einspruch, weil Fichte eben nur das geschriebene Wort gelten ließ
und die Aufnahmen wie Rohmaterial behandelte. Angefangen hatte
alles 1996, mit einer Vilém-Flusser-CD. Sander studierte zu Beginn
der neunziger Jahre in Bochum, angezogen vom Charismatiker
Friedrich Kittler, der einen anderen Charismatiker, Vilém Flusser,
nach Bochum geholt hatte. Der Medienphilosoph, der im November 1991
bei einem Autounfall starb, arbeitete nicht in Groß-Monografien,
sondern eher assoziativ und essayistisch, ziemlich unakademisch
also. Dafür wurde er von den etablierten Geisteswissenschaften
lange ignoriert und von einigen Diskurs- und Medientheoretikern
umso heißer gehandelt. Sander, gerade mal 23, wurde Assistent von
Flussers Witwe, zusammen erschlossen sie den Nachlass und
bauten ein Archiv auf. «Ich hatte Flusser als begeisternden
Redner und Erzähler kennengelernt. Und dann kam die Beobachtung,
dass die Anerkennung und Bedeutung meist eher dem geschriebenen als
dem gesprochenen Wort zugemessen wurde.» Es dauerte noch ein paar
Jahre, bis Sander selbst eine CD mit Tondokumenten von Flusser
herausbringen konnte. «Plötzlich war diese Idee da, dass es Leute
gibt – damals dachte ich, Denker oder Philosophen, heute würde ich
einfach sagen: Menschen –, die sich besser oder lieber mündlich
ausdrücken als schriftlich.» Das Sprachgenie Flusser lieferte auch
gleich den Namen für das Label: Mit «Supposé que», «angenommen,
dass», fingen viele seiner Vorträge an, wenn er nicht gerade auf
Portugiesisch oder Englisch sprach. Als Einladung zum Spekulieren
und als Inbegriff einer Denkbewegung hat Sander das Flusser’sche
«Supposé que» verstanden, und das passte. Der Name war eine echte
Theoriekreation, so sperrig, französisch und klein geschrieben,
dass die Buchhändler gleich mehrfach zusammenzuckten. Vor sechzehn
Jahren wollte sowieso kaum ein Buchhändler CDs im Laden liegen
haben – funktioniert hat es dann trotzdem.
Großzügige Erbtanten oder Mäzene, die so viele Kleinverlage erst möglich machen, gab es nicht. «Ich habe nie eine Kalkulation gemacht oder vorher etwas durchgerechnet. Wenn ich das gemacht hätte, wäre wahrscheinlich ein Großteil der CDs nie rausgekommen.» Zwischen den Produktionen lagen anfangs längere Pausen, weil die nächste Idee erst mit anderen Jobs finanziert werden musste. Ein Wissenschaftshit gelang «supposé» mit «2 x 2 = grün», einer CD mit Heinz von Foerster. Der Kybernetiker und Radikalkonstruktivist war ein Glücksfall, philosophisch und akustisch: Niemand sonst kann auf so sympathische Weise vor sich hin schrullen und darüber die Grundlagen der Sprache und Ethik erklären. Von Foerster hat sich selbst ein Gesprächstier genannt; zu seiner Doktorarbeit musste er mit einer Wette überredet werden, weil er so ungern schrieb. Genau der richtige Mann also für ein ideenfixiertes, Nüchternheit antäuschendes, dann aber auch sehr verspieltes und gelegentlich spinnertes Audio-Programm.
Mittlerweile hat «supposé» eine eindrucksvolle Bandbreite, die von der Virologin Karin Mölling bis zur Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller reicht, vom Feuer-Ökologen Johann Georg Goldammer bis zu Georg Klein. Neben der Reihe «Erzählte Wissenschaft» gibt es Wissenschaftsgeschichte im Originalton, mit wunderbaren Ton-Fundstücken von Gershom Scholem, Arnold Schönberg oder Max Planck. Der 1923 nach Jerusalem ausgewanderte Scholem spricht 1967, immer noch berlinernd, über sein Elternhaus und seine Faszination für die jüdische Mystik. So akkurat und leidenschaftlich klingt der Siebzigjährige, dass man tatsächlich das Psychogramm einer Forscherpersönlichkeit aus der Erzähl- und Sprechweise heraushört.
Zwischen den
historischen Aufnahmen und den gegenwärtigen Wissenschaftlern
bestehen oft direkte Verbindungslinien: Der Biologe Jürgen Tautz
zum Beispiel ist ein Schüler des legendären Bienenforschers Karl
von Frisch, der in den fünfziger Jahren im Bienenvater-Timbre
erklärte, wie er «Die Tanzsprache der Bienen» entschlüsselt hatte.
Runde fünfzig Jahre später folgt das nächste Tondokument
menschlicher Bienenfaszination: die 2006 erschienene CD «Der Bien.
Superorganismus Honigbiene» mit Jürgen Tautz. Alles erwächst,
beteuert Sander, organisch aus dem Programm. Er arbeitet sich in
die Themen ein, und so verästelt sich das Interesse immer weiter:
«Man macht sich eben die Werke und die Produktionen, die einem
selber fehlen und die man gern hätte.» Zur Tierverhaltensforschung
erscheint demnächst eine CD mit dem Spinnen-Experten Friedrich G.
Barth, außerdem hofft Sander auf eine Produktion mit einem
renommierten Ameisenforscher, dessen Prachtband er nebenbei aus dem
Regal zieht und begeistert aufblättert. Zugesagt hat er noch nicht.
Leider.
Um Grafik, Technik und Konzeption in dieser CD-Produktionswerkstätte – das Wort fällt mal, auf der Suche nach einer Alterna tive für «Verlag» – kümmert sich der «supposé»-Gründer weitgehend selbst, dazu kommen hilfreiche Freunde und Mitstreiter. Weil die Produktionen von Anfang an nicht im Studio, sondern in der natürlichen Umgebung der Erzähler aufgenommen wurden, hat sich Klaus Sander über die Jahre zum Vor-Ort-Aufnahme-Spezialisten entwickelt. Manchmal sind dies Wohnungen, Büros oder Labore, manchmal aber auch Sternwarten oder Höhlen. Mit zwei Höhlenforschern und der wertvollen Ausrüstung nachts durch die schlammige Dachstein-Mammuthöhle zu robben, «das hat mich an meine Grenze gebracht; überall Lehm, furchtbar», sagt Sander. Auch bereitet der Windschutz bei Außenaufnahmen zuweilen Probleme. In Island hat er sich kürzlich hinter einem Traktor versteckt, um den Wind-Geräuschpegel zu senken. Apropos Island: Das nächste Mammutprojekt umfasst eine zehnteilige Vertonung der Isländersagas, die 2011, zum Gastauftritt Islands bei der Frankfurter Buchmesse, erscheinen soll. Zusammen mit Thomas Böhm, dem ehemaligen Kölner Literaturhaus-Leiter und jetzigen Koordinator des Gastauftritts, bereist Sander abgelegene Regionen der Insel. Vor Ort lassen sie sich die Sagas erzählen – von Schriftstellern, Skandinavisten und ganz normalen Leuten.
Dabei haben die beiden auch eine Isländerin entdeckt, deren ungewöhnliche Lebensgeschichte auf einer Extra-CD erscheinen wird: aufgewachsen an einem abgelegenen Fjord, fünf Monate im Jahr ohne Sonne. Das passt zu den Kindheitserinnerungen des literarischen Programms, zu dem neben Peter Kurzeck noch eine andere große Geschichte gehört: die CD «Die Nacht ist aus Tinte gemacht» mit Hertha Müller. Von Anfang an als Gegenstück zu Kurzecks sehnsüchtig-schwärmischer Erzählung geplant, erinnert sich Herta Müller an ihre bedrückende Kindheit im Banat. Fast kann man hören, wie sie den Klageton in poetische Schubkraft verwandelt.
Die CD erschien
wenige Wochen vor dem Literaturnobelpreis und ist seither ein
Renner. Und die Davor-Danach-Sekun den? «Ich habe das live
angesehen, weil über die Buchmacher klar war, dass Herta Müller
hoch im Kurs stand. Als der Sekretär zur Verkündung ansetzte,
klingelte es an der Tür. Ich musste helfen, eine CD-Lieferung
abzuladen. Als ich wiederkam, wurde grade deutsch gesprochen, und
da dachte ich: Wahnsinn.» Aber dies war ja nicht der erste
Nobelpreisträger bei supposé, um nur Albert Einstein oder Werner
Heisenberg zu nennen. Oder auch Harald zur Hausen, der 2008 den
Nobelpreis für Medizin gewann – kurz nachdem die CD «Was tun gegen
Krebs?» erschienen war. Vielleicht sollten sich die Buchmacher
häufiger auf Klaus Sanders Website umschauen.
CDs von supposé (Auswahl)
Algenraspler,
Schneckenknacker, Schuppenfresser
Axel Meyer über den
evolutionären Erfolg der Buntbarsche. Audio-CD, 79 Min., 18
€
Heinz von
Foerster 2 X 2 = GRün
Originaltonaufnahmen 1989–1998. 2
Audio-CDs, 104 Min., 29,80 €
Jürgen
Tautz Der Bien. Superorganismus Honigbiene
2 Audio-CDs,
144 Min., 24,80 €
Anton
Zeilinger Spukhafte Fernwirkung – Die Schönheit der
Quantenphysik
2 Audio-CDs, 100 Min., 24,80 €
DA Fährt
mein Zug
Peter Kurzeck erzählt. Audio-CD, 62 Min.,
16,80 €
Albert
Einstein Verehrte An- und
Abwesende!
Originaltonaufnahmen 1921–1951. 2 Audio-CDs,
115 Min., 24,80 €
Georg Klein
Schlimme schlimme Medien
2 Audio-CDs, 117 Min., 24,80
€
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