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Erdogan-Kritiker - Die Meinungsfreiheit wird immer stärker eingeschränkt

Der Künstler Zülfü Livaneli verlor 1994 bei der Bürgermeisterwahl in Istanbul gegen den umstrittenen Ministerpräsidenten Erdogan und kämpft gegen die Einschränkung von Demokratie und Meinungsfreiheit in der Türkei. Nach Deutschland kommt er nicht gerne

Autoreninfo

Necla Kelek, 1957 in Istanbul geboren, kam mit zehn Jahren nach Deutschland. Die promovierte Sozialwissenschaftlerin ist Autorin zahlreicher Bücher zum Islam und Vorstandsfrau von Terre des Femmes

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Dieser Text erschien zunächst in der Printausgabe des Cicero (Mai). Wenn Sie das monatlich erscheinende Magazin für politische Kultur kennenlernen wollen, können Sie hier ein Probeabo bestellen.

 

 

Es war im Sommer 2006 auf dem von Salman Rushdie organisierten Literaturfestival in New York. Ich las im Goethe-Institut aus meinem Buch „Die fremde Braut“ und sprach über muslimische Frauen in Deutschland und der Türkei und über den Islam. Zülfü Livaneli sollte mit mir diskutieren. Er kam zu spät, wusste nicht, was ich gelesen hatte, und sagte, die türkische Frau sei modern und selbstbewusst. Livaneli argumentierte wie die meisten türkischen Intellektuellen, wenn sie im Ausland sind. Er erklärte die Ehrenmorde zu einem „internationalen Problem“. Das erregte meinen Widerspruch. Livaneli wollte den Fortschritt sehen, ich auf die Probleme und Missstände hinweisen.

Was ich damals nicht wusste, war, dass Livaneli einen Roman über Ehrenmorde in der Türkei geschrieben hatte. „Glückseligkeit“ handelt davon, wie in Anatolien die junge Meryem von ihrer Familie in einem Stall gefangen gehalten wird. Ihr Onkel, der Clanchef, hat sie vergewaltigt. Jetzt soll sie sterben, damit die „Ehre“ der Familie wiederhergestellt wird. Umbringen soll sie ihr vom Militär zurückgekehrter Cousin. Livaneli schafft es bereits in dieser inzwischen verfilmten Geschichte, aktuelle gesellschaftliche Themen in eine stimmige Dramaturgie zu bringen. Auch sein gerade erschienener Roman „Serenade für Nadja“ ist solch ein Thesenroman, der menschlich anrührende Schicksale in Figuren kleidet und sie politisch existenzielle Dinge verhandeln lässt.

In „Serenade für Nadja“ nimmt sich Livaneli, obwohl es sich im Kern um ein Zwei-Personen-Stück handelt, mehrerer großer Themen der Weltgeschichte an. Der alte deutschstämmige Professor Wagner kommt aus den USA zu einem Kongress nach Istanbul und wird von Maja, die an der Universität für die Betreuung ausländischer Gäste zuständig ist, begleitet. Wagner will sich mit einer auf der Geige gespielten Serenade von seiner Frau Nadja verabschieden, die 1942 zusammen mit über 700 anderen jüdischen Flüchtlingen im Schwarzen Meer vor Sile ertrunken ist.

Es geht in dem Buch um heimatlose deutsche Professoren in der Türkei in den Dreißigern, um die von den Deutschen verfolgten Juden, die türkische Regierung, die die Flüchtlinge nicht an Land ließ, um die Engländer, die eine Weiterfahrt des Schiffes nach Palästina verhinderten, und um die Russen, die die „Struma“ schließlich versenkten.

Maja wird durch diese Reminiszenz auch mit der Vergangenheit ihrer Familie konfrontiert. Sie erfährt, dass eine Großmutter Armenierin, die andere eine Krimtatarin war. Diese und andere Geheimnisse werden auf über 300 Seiten langsam wie die Schalen einer Zwiebel enthäutet. Das ist spannend bis zum letzten Satz, der gleichzeitig das Credo des Romans ist: „Denn überleben kann nur ein Mensch, dessen Geschichte erzählt wird.“

Warum treffen diese Fragen erst jetzt auf so großes Interesse? Es sei der „Zeitgeist“, sagt Zülfü Livaneli, der sich in der Türkei geändert habe. Die Leute würden wieder mehr lesen, seien neugieriger und ließen sich nicht mehr mit den Atatürk-Parolen über die Geschichte abspeisen. Offenbar hat er mit seinen Büchern einen Weg gefunden, die Menschen zu berühren und dieses Bedürfnis zu stillen.

Für die Leser sei die deutsch-türkische Verstrickung im Zweiten Weltkrieg auch so etwas wie ein zarter Hinweis, dass die gemeinsame Geschichte nicht erst mit den Gastarbeitern begonnen habe, sagt Livaneli. Muss er darauf besonders hinweisen? „Wenn ich ehrlich bin, komme ich nicht gerne nach Deutschland“, sagt er. Es gebe hier fertige Bilder von den Türken. „Demnach ist der Mann aus Anatolien und Gastarbeiter. Seine Frau trägt Kopftuch, und er betet.“ Die Türken wiederum glaubten, die Deutschen würden ihre Töchter die schlimmsten Dinge machen lassen und bezeichneten das als „Freiheit“. Halb amüsiert, halb erschrocken reagiert Livaneli darauf, wie er selbst in Deutschland gesehen wird. Eine große Tageszeitung wollte ein Interview und Fotos mit ihm machen. Der Fotograf hatte die Idee, Livaneli in einem Dönerladen zu fotografieren. „Warum soll ich einen Döner in der Hand halten“, fragte sich Livaneli, „wo ich doch Vegetarier bin? Wenn Bob Dylan nach Berlin kommt, fotografieren Sie ihn doch auch nicht bei McDonalds.“

In der Türkei ist der 66-Jährige seit Jahrzehnten eine Legende und der Vergleich mit Bob Dylan nicht kokett, sondern legitim. 1974 veröffentlichte Livaneli sein erstes von bisher fast 30 Alben als Liedermacher mit revolutionären Liedern. Es waren die Zeiten, als rechte und linke Organisationen darum stritten, wer in der Türkei für die Revolution zuständig sei, und schließlich das Militär mit mehreren Putschen allen zeigte, wer Herr im Land ist. Livaneli verlegte kritische Bücher, kam ins Gefängnis und musste fliehen. Mehrere Jahre lebte er in Schweden, Frankreich und Griechenland. Als er 1984 in die Türkei zurückkehren konnte, erlebte das Land das bisher größte Konzert seiner Geschichte. Mehr als eine Million Menschen hießen den Sänger willkommen.

Was er mit der griechischen Sängerin Maria Farantouri begonnen hatte, setzte er mit dem Komponisten Mikis Theodorakis fort. Jeder sang die Lieder des anderen, sie komponierten füreinander, traten in Griechenland und der Türkei zusammen auf, nahmen gemeinsam Platten auf, die bald in jedem türkischen wie griechischen Haushalt gespielt wurden, der über einen Plattenspieler verfügte. Ihnen gelang, was die Politiker nicht schafften: eine neue Freundschaft zwischen Griechen und Türken zu begründen.

Trotz Büchern, Filmen und Konzerten wollte Livaneli immer auch das Schwierigste wagen und die Welt verändern. Er ließ sich daher 1994 überreden, zur Bürgermeisterwahl in Istanbul anzutreten. Er kandidierte für die kleine sozialdemokratische SHP, lag in den Umfragen vorn und verlor dennoch. Man sprach von Wahlmanipulationen. Gewonnen hatte der Kandidat der Wohlfahrtspartei: Recep Tayyip Erdoğan, heute als AKP-Vorsitzender und Ministerpräsident mächtigster Mann der Türkei.

Wie beurteilt Livaneli die Lage im Land und Erdoğans Politik? „Die türkische Gesellschaft driftet in drei große Blöcke auseinander.“ Zum einen seien da die bisher bestimmenden Säkularen, die weltlich und westlich orientierten Eliten in den Großstädten und an der Ägäis. Zum anderen die islamisch orientierte Landbevölkerung, die es auch in die Städte ziehe, und schließlich die Kurden, die sich von beiden Gruppen absetzten.

Der Türkei geht es aber doch wirtschaftlich besser, seit die AKP regiert, oder? „Ja, Erdoğans Leute in Verwaltung und Wirtschaft machen eine kluge Politik. Sie erfüllen die Erwartungen des Volkes, gewähren großzügig Kredite, bauen Straßen, haben das Gesundheitswesen und die Rente reformiert.“ Gleichzeitig finde eine Art ziviler Putsch statt. Still und leise würden an den entscheidenden Stellen die Verantwortlichen ausgetauscht und mit Parteigängern der AKP besetzt. „Demokratie und Meinungsfreiheit werden immer stärker eingeschränkt. Die AKP-Leute erwarten, dass die Menschen dankbar sind. Wer sie kritisiert, bekommt Probleme.“ Hunderte Journalisten und über 9000 Kurden seien in Haft. Wer in der Türkei angeklagt wird, für den gelte nicht wie in Deutschland die Unschuldsvermutung, sondern der gelte vom ersten Tag an als schuldig.

Ist Erdoğan ein kluger Staatsmann oder ein Islamist? „Er ist klüger, als wir alle gedacht haben“, sagt Livaneli lächelnd. „Er hat eine Vision, er weiß, was er will, und ist tief in seinem Herzen ein traditioneller Muslim.“ Er wolle als der Führer der muslimisch-arabischen Welt anerkannt werden und deren Interessen durchsetzen. „Von den Europäern will er technischen Fortschritt und Geld. Die Europäer wiederum akzeptieren ihn, weil er ihnen den Türken gibt, den einfachen Anatolier, wie man ihn hier erwartet und kennt. Die andere Türkei, die Goethe oder Kleist liebt, und die Türkei von Yaşar Kemal treten hinter diesem Bild zurück.“

Und die politische Opposition? Hängt ihr Unvermögen mit Erdoğans autoritärer Politik zusammen, oder ist die AKP so stark, weil die republikanische CHP so schwach ist? „Die CHP, die jahrzehntelang die türkische Politik in Atatürks Sinne dominiert hat“, sagt Livaneli, „ist eigentlich Geschichte.“ Mit ihr sei ein Eintreten für Menschen- oder Frauenrechte oder der EU-Beitritt nicht zu machen. Sie gebe sich zwar immer noch sozialdemokratisch, sei aber nationalistisch. „Die SPD in Deutschland hatte die Arbeiterbewegung im Hintergrund, die Basis der CHP sind das Militär und der Kemalismus.“

Was ist mit den Türken in Deutschland? „Wenn unsere Landsleute, anstatt an ihren Traditionen und archaischen Sitten und Bräuchen festzuhalten, die Chance genutzt hätten, etwas von der Kultur in diesem Land aufzunehmen, dann hätte auch die Türkei etwas davon.“ Aber auch den Deutschen scheine das egal zu sein. „Können Sie mir sagen“, fragt Livaneli, „warum die Deutschen von den Türken nicht mehr erwarten?“ 

Necla Kelek ist Sozialwissenschaftlerin und Frauenrechtlerin. Zuletzt erschien von ihr: „Hurriya heißt Freiheit. Die arabische Revolte und die Frauen“

 

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