- Emili Rosales: Tiepolo und die unsichtbare Stadt
Sant Carles de la Ràpita ist eine kleine Stadt im Ebro-Delta an der katalanischen Mittelmeerküste. Ihren Namen hat sie zur einen Hälfte von dem alten Felsenkloster La Ràpita und zur anderen vom Bourbonen-König Karl III., der die Siedlung im 18. Jahrhundert zu einer prachtvollen Stadt nach dem Vorbild der Zarengründung St. Petersburg ausbauen wollte. 1780 wurden die Pläne storniert, begonnene Baumaßnahmen eingestellt.
Sant Carles de la Ràpita ist eine kleine Stadt im Ebro-Delta an der katalanischen Mittelmeerküste. Ihren Namen hat sie zur einen Hälfte von dem alten Felsenkloster La Ràpita und zur anderen vom Bourbonen-König Karl III., der die Siedlung im 18. Jahrhundert zu einer prachtvollen Stadt nach dem Vorbild der Zarengründung St. Petersburg ausbauen wollte. 1780 wurden die Pläne storniert, begonnene Baumaßnahmen eingestellt. Übrig blieb eine schiffbare Kanalverbindung zwischen Seehafen und Fluss sowie einige Ruinen, in denen noch 200 Jahre später die Dorfjugend die heimlichen Treffpunkte ihrer erotischen Abenteuer fand. Der katalanische Verlagslektor und Autor Emili Rosales ist in Sant Carles de la Ràpita geboren und aufgewachsen. Die Kindheitslandschaft machte er zum Schauplatz seines vierten Romans, der in seiner Heimat zu einem Bestseller wurde und unter dem Titel «Tiepolo und die unsichtbare Stadt» nun auf Deutsch erschienen ist. Der Ich-Erzähler, der Galerist Emili Rosell, heißt nicht nur so ähnlich wie der Autor, er hat auch einen ähnlichen Weg aus Sant Carles in die Künstlerszene Barcelonas genommen – allerdings ist der Romanheld im Unterschied zum Autor Galerist. Die Geschichte beginnt, als ihm eines Tages ein seltsames Manuskript zugespielt wird: die Autobiografie des Architekten Andrea Roselli – noch so ein Ähnlichkeitsname – aus dem italienischen Arezzo, der den berühmten Maler Giambattista Tiepolo von Neapel nach Madrid begleitete und zu König Karls Baumeister wurde. Roselli erhielt den Auftrag, die neue Stadt zu entwerfen. So jedenfalls behauptet es der Roman. Bei Emili Rosell löst das Manuskript lange verdrängte Erinnerungen aus. Dass er seine Heimatstadt einst verließ und alle Brücken hinter sich abbrach, hatte ein traumatisches Ereignis zur Ursache, dem er sich nun im Zuge seiner Recherchen stellen muss. Alte Freunde aus der Schulzeit haben Karriere gemacht: Der eine wurde Oppositionspolitiker, der aus Wahltaktik die geplante Umleitung des Ebro bekämpft und an der Spitze der Umweltschützer steht, ohne deren Überzeugungen zu teilen. Ein anderer ist mit Drogenschmuggel reich geworden und nun in Schwierigkeiten. Seine Freundin Sofia ist eine einstige Geliebte des Erzählers: In der Provinz ist jeder mit jedem verbandelt, man kennt die Herkünfte und Familiengeschichten. Das macht Bewegungen kompliziert. Intrigen, Abhängigkeiten und eine haltlos leidenschaftliche Liebesgeschichte prägen auch das Geschehen in der höfischen Gesellschaft zweihundert Jahre zuvor, als sich der italienische Architekt Roselli ausgerechnet in die junge Braut seines Gönners verliebt. Ein Bild, das der alte Tiepolo von ihr in verfänglicher Pose malt, steigert den Skandal, der schließlich dazu beiträgt, dass die Stadt Sant Carles nicht gebaut wird. Diese Geschichte, die der Ich-Erzähler mühsam, Kapitel für Kapitel, aus dem alten Manuskript herausbuchstabiert, spiegelt und kommentiert das Geschehen in der nicht weniger intriganten Gegenwart. Alle Begehrlichkeiten richten sich auf das verschollene Gemälde, das die Lösung der unterschiedlichsten Probleme verspricht, am Ende aber den Schlüssel zu einer verlorenen Liebe liefert; dass Emili Rosell in Andrea Roselli einen Vorfahren entdeckt, ist eine Pointe am Rande. Emili Rosales hat sich mit dieser Konstruktion auf listige Weise in die Geschichte seines Landes hineingeschrieben. «Tiepolo und die unsichtbare Stadt» ist gepflegte Unterhaltungsliteratur mit allen Zutaten, die einen Erfolgsroman ausmachen: Liebe, Leidenschaft, Drogenmafia, Kunstgeschichtliches für Bildungsbeflissene und ein wenig – überflüssig gelehrsame – Historienmalerei. Er ist glatt und schmerzfrei zu lesen, sorgfältig durchkonstruiert und durchaus spannend. Mehr aber auch nicht.
Emili Rosales
Tiepolo und die unsichtbare Stadt
Aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt.
Piper, München 2007. 332 S., 19,90 €
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