- „Einfach nur übersetzen geht nicht”
Ein Gespräch mit dem Sinologen Ulrich Kautz über die Schwierigkeiten der chinesischen Sprache und die Besonderheiten chinesischer Literatur
Literaturen Sie sind Sinologe und ein erfahrener Übersetzer.
Sie haben gerade – unter anderem – «Brüder» von Yu Hua übersetzt.
Welche Schwierigkeiten ergeben sich bei so einem Roman?
Ulrich Kautz «Brüder» ist ein
sehr dickes Buch, aber es liest sich leicht. Ich fand, es hätte
stellenweise der glättenden Hand eines Lektors bedurft. Manchmal
juckt es einen, auch mal etwas wegzulassen und die vielen
Vergleiche zu reduzieren – chinesische Autoren lieben ja Metaphern
sehr. Während sich Derartiges jedoch im Interesse der Originaltreue
im Allgemeinen verbietet, gibt es anderes, das verändert werden
muss. Zum Beispiel ist das Chinesische eine relativ starre
Subjekt-Verb-Objekt-Sprache. Da muss man im Deutschen oft eine ganz
neue Syntax bauen. Wenn wir außerdem bedenken, dass es keine
Deklination, keine Konjugation, keine grammatischen Zeitformen,
keine Konjunktive gibt, kann man ermessen, dass der Übersetzer aus
dem Chinesischen eine sehr aufwendige Arbeit zu leisten
hat.
Literaturen Die Kunst des Übersetzens besteht darin, sich vom
Original zu lösen?
Kautz In der
Übersetzungswissenschaft gibt es das Wort von der «Äquivalenz», der
Gleichwertigkeit der Texte. Das würde ich höchstens in
Anführungsstrichen gelten lassen oder eingeschränkt als
«funktionale Äquivalenz»: Die Funktion des übersetzten Textes muss
für einen deutschen Leser mit der Funktion des chinesischen Textes
für chinesische Leser vergleichbar sein.
Literaturen Ist das denn möglich? Lassen sich Bedeutungen
chinesischer Texte, die viel mit Symbolen in festgelegten
kulturellen Zusammenhängen arbeiten, überhaupt
übertragen?
Kautz Das «kulturelle
Differential» ist das zentrale Problem des Übersetzens. Es spielt
beim Übersetzen aus einer uns so fremden Sprache und Kultur eine
noch viel größere Rolle als beim Übersetzen aus einer
indoeuropäischen Sprache. Deshalb müssen übrigens Übersetzungen aus
dem Chinesischen auch besser bezahlt werden! Der fremde kulturelle
Hintergrund erfordert sehr viel mehr Aufmerksamkeit, Nachdenken und
Recherche.
Ich muss ständig abwägen, ob deutsche Leser den Text so verstehen
können, wie der chinesische Autor wollte, dass seine chinesischen
Leser ihn verstehen. Und die Antwort lautet in vielen Fällen: Sie
können es nicht. Dann muss ich die fehlenden
Verstehensvoraussetzungen mehr oder weniger unauffällig
kompensieren, indem ich unter Umständen auch erklärende
Erweiterungen in den Text einfüge. Da schlagen meine chinesischen
Übersetzerkollegen die Hände über dem Kopf zusammen und sagen:
«Aber der Übersetzer darf doch nicht in den Text eingreifen!» Ich
meine dagegen, einfach nur «das zu übersetzen, was dasteht»,
funktioniert in vielen Fällen leider nicht.
Literaturen Warum hat es die chinesische Literatur in
Deutschland so schwer?
Kautz Die erste Schwierigkeit
besteht darin, Bücher zu finden, die es wert sind, übersetzt zu
werden. Deutsche Leser wollen zum Beispiel gern etwas über das
Leben in chinesischen Großstädten – und nicht nur im chinesischen
Dorf – erfahren. Solche Bücher gibt es durchaus, doch befassen sie
sich allzu oft mit dem Innenleben der Intellektuellen und
Schriftsteller. Schriftsteller, die über Schriftsteller schreiben,
haben wir aber in Deutschland schon genug. Die chinesischen Bücher
müssen alle erst einmal von jemandem gelesen werden. Die Sinologen
sind damit rein zeitlich überfordert. Sicher: Es gibt Agenten, es
gibt Übersetzungen ins Französische oder Englische, aber deren Zahl
ist begrenzt. Deutsch sprechende Chinesen wiederum können nicht so
gut einschätzen, was deutsche Leser interessiert. So hängt vieles
vom Zufall ab.
Eine zweite Schwierigkeit ist die Übersetzung. Manches chinesische
Buch ist auf dem deutschen Markt regelrecht gekillt worden, weil
die Übersetzung so grottenschlecht war – zu dicht am Original, in
hölzerner Sprache. Das liegt daran, dass Sinologen zwar sehr gut
Chinesisch verstehen, aber mitunter nicht in der Lage sind, es in
ein literarisches Deutsch zu bringen. Ich will jetzt keine
allgemeine Sinologenschelte betreiben – aber sie sind oft zu sehr
Wissenschaftler und zu wenig Literaten. Außerdem wissen viele
nicht, was Übersetzen eigentlich ist, weil sie es nicht gelernt
haben. Das trifft übrigens auch auf die chinesischen Germanisten
zu, die unsere Literatur ins Chinesische bringen. Man könnte
darüber hinaus noch zahlreiche weitere Probleme nennen, zum Teil
ganz banale, etwa die für deutsche Leser verwirrenden fremden Namen
oder die schiere Länge der Bücher: Was im Chinesischen 350 Seiten
hat, kommt in der Übersetzung schon mal auf 500 Seiten. Da winken
viele Verleger ab, zumal sie chinesische Literatur sowieso quer
finanzieren müssen.
Literaturen Bleiben wir doch bei dem Beispiel «Die Brüder». In
China war der Roman ein Bestseller, ist aber wegen der drastischen
Darstellung der Kulturrevolution durchaus umstritten.
Kautz Das Buch hat sich weit
über eine Million mal verkauft. Dazu kommen bestimmt noch einmal so
viele Raubkopien. Alle lesen es, und alle haben daran etwas
auszusetzen. Die einen stoßen sich an der sehr grausamen
Darstellung der Kulturrevolution, die anderen sind mit Yu Huas
Sicht auf die Gegenwart nicht einverstanden. Er selbst beharrt
jedoch darauf, dass alles durchaus der Realität entspricht, sowohl
die harten Szenen aus der Kulturrevolution als auch die Handlung
des zweiten Teils, wo es darum geht, dass einer der beiden Brüder
steinreich wird, der andere aber vor die Hunde geht. Die Exzesse
des reichen, aber auch das trostlose Schicksal des moralisch
integren Bruders halten viele für übertrieben. Dazu sagt Yu Hua, er
könne noch viel krassere Beispiele aus Internetblogs anführen. Er
wolle seinen Landsleuten den Spiegel vorhalten und zeigen, dass sie
nach einer Epoche, in der die Partei als strenger Wächter der Moral
fungierte, nun in einer zügellos permissiven Gesellschaft leben.
Das Echo auf sein Buch beweist, dass ihm das gelungen
ist.
Literaturen Welchen Stellenwert hat ein Autor wie Yu Hua? Wie
schätzen Sie ihn literarisch ein?
Kautz Er ist vor allem nah am
Puls der Zeit. Das ist nicht bei allen chinesischen Autoren der
Fall. Manche sind noch zu sehr der sozialistisch-realistischen
Tradition von früher verhaftet – das trifft auf einige Ältere zu –,
andere versuchen, westliche Moden zu kopieren. Nach dem Ende der
Kulturrevolution kamen Mitte der achtziger Jahre erste
Übersetzungen westlicher Autoren heraus, die natürlich eifrig
gelesen wurden. Da dachten dann die chinesischen Autoren, so
müssten sie jetzt auch schreiben. Plötzlich gab es in China viele
kleine Garcia Marquez’, Robbe-Grillets und Kafkas. Yu Hua war auch
so ein kleiner Kafka. Doch zeigte sich, dass das in China kaum
jemand lesen wollte.
Heute gibt es wieder Autoren, die sich auf die eigene Tradition
besinnen und schöpferisch damit umgehen. Su Tong, Bi Feiyu oder Yu
Hua zum Beispiel haben den «Avantgardismus» mehr oder weniger
radikal hinter sich gelassen, und es entstehen nun Bücher, die
hochinteressant sind – allerdings nicht immer auch für den
deutschen Leser. Oft ist der kulturelle Abstand einfach zu groß,
als dass ihn auch die bemühteste Übersetzung überwinden könnte. Ein
bisschen Exotik ist ja gut und wird erwartet, aber zu viel Exotik
ist mühsam, das will dann niemand mehr lesen.
Literaturen In China hört man immer wieder von der
«Kommerzialisierung» der Literatur – als ob die Autoren sich nur
noch am Markt ausrichteten. Stimmt das?
Kautz Richtig populär sind
dort Krimis und diese Kung-Fu-Sagas, deren Helden überirdische
Kräfte besitzen. Jin Yong ist da der absolute Megastar. Auf Deutsch
gibt es nichts von ihm, denn seine Romane sind kaum übersetzbar.
Jede Geste, jeder Sprung von einem Dach wird dort metaphernreich
beschrieben. Im Chinesischen geht das, weil die Zeichen so einen
komprimierten Informationsgehalt haben. Vier Zeichen reichen aus,
um so einen Sprung zu beschreiben. Im Deutschen sind das dann
mehrere Zeilen. Da schaut man sich doch lieber einen Kung Fu-Film
an. Daneben gibt es Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die
versuchen, den westlichen Geschmack zu treffen, indem sie viel über
Sex und Drogen schreiben. Das erscheint in Deutschland dann mit
viel Reklame. «Shanghai Baby» von Wei Hui oder «La la la» von Mian
Mian sind unglaubliche Schmarren; ich weiß nicht, warum die Verlage
das gemacht haben.
Ulrich Kautz, Jahrgang 1939, studierte von
1957-1961 Übersetzung und Dolmetschen in den Sprachen Englisch und
Chinesisch an der Universität Leipzig. Weil der Mauerbau 1961 seine
Pläne durchkreuzte, in den Westen zu gehen, trat er, wenig
beglückt, seinen Dienst als Dolmetscher in der DDR-Botschaft in
Peking an. 1966, mit dem Beginn der Kulturrevolution, wurde er als
«Siu Xiu», als «sowjetischer Revisionist» des Landes verwiesen:
Rotgardisten verabschiedeten ihn auf dem Flughafen mit zwei
symbolischen Ohrfeigen. Als Nicht-SED-Mitglied blieb ihm die
eigentlich anvisierte akademische Laufbahn verwehrt, doch kam er
mit Glück im Institut für Anglistik der Humboldt-Universität als
Englischlektor unter. Von 1973 bis 1976 war Kautz noch einmal für
drei Jahre als Chefdolmetscher der DDR-Handelsvertretung in
Peking.
1976 kehrte er nach Berlin zurück und konnte sich nunmehr am
Institut für Sinologie der Humboldt-Universität um die Ausbildung
von Sprachmittlern kümmern. Zugleich engagierte er sich als
Übersetzer für die moderne chinesische Literatur. Der von ihm
aufgebaute Studiengang zur Praxis des Übersetzens und Dolmetschens
wurde nach der Wende sukzessive abgewickelt. Deshalb ging er 1992
ans Goethe-Institut und arbeitete seit 1998 an der Johannes
Gutenberg-Universität Mainz (außerordentlicher Professor). Kautz
hat zahlreiche chinesische Autoren übersetzt, unter anderem Deng
Youmei, Wang Meng, Wang Shuo, Yu Hua, Yan Lianke und den Bestseller
«Der Gourmet» von Lu Wenfu. Unverzichtbares Standardwerk ist sein
über 600 Seiten umfassendes «Handbuch Didaktik des Übersetzens und
Dolmetschens».
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