- Dr. Stefan und Mr. Zweig
Halb Arthur Schnitzler, halb Vicky Baum: Plädoyer für einen guten Erzähler, der vor 125 Jahren geboren wurde
Schon diese Titel!
«Der Kampf mit dem Dämon». «Unruhe des Herzens». «Untergang eines
Herzens». Was so heißt, verspricht Kunstersatz. «Zweig», das galt
lange als ein verlässlicher Markenname, das gute Buch für das
gebildete Haus, dem Thomas Mann zu kompliziert, Kafka zu kalt und
Musil zu langweilig war. Bis heute hält sich die «Schachnovelle»
als Schullektüre für die Mittelstufe, bleiben die «Sternstunden der
Menschheit» ein beliebtes Konfirmationsgeschenk, und auch die
Biografien behaupten ihren Platz im Regal. Dass dieser gehobene
Unterhaltungsautor einer der weltweit erfolgreichsten deutschen
Schriftsteller werden konnte, von Kopenhagen bis Kapstadt, erstaunt
niemanden. Aber warum nur haben ihn auch Freud und Gorkij, Rilke
und Romain Rolland, Paul Valéry und Thomas Mann gemocht, manchmal
sogar bewundert? Sie müssen den Mann gemeint
haben, lautet das Vorurteil, nicht das Werk.
Denn der Mann Zweig war bekanntlich das, was man in seiner Zeit gern ein Genie der Freundschaft nannte. Er war ein selbstloser, uneitler und diskreter Helfer für namhafte und namenlose Exilanten, bekümmert und geduldig an der Seite des trunksüchtigen Joseph Roth, grenzenlos hilfsbereit gegenüber allen, die ihn baten, und auch gegenüber denen, die sich schämten zu fragen. Denen, die es brauchten, gab er regelmäßig Geld – unaufdringlich und großzügig. Er ermutigte, tröstete, schrieb Bittbriefe und stellte Kontakte her. Er meinte es gut, und er tat Gutes. Er tat es einfach, weil ihm der Anblick des Elends so unerträglich war wie der des Bösen, Schlechten, Gemeinen. Zweig war auf bestürzende Weise unfähig zum Streit; seine Bereitschaft zum Verständnis kannte keine Grenzen. Er war Europäer, Pazifist, Kosmopolit, Humanist – kurzum alles, was schon zu seinen Lebzeiten nach feierlichen Plattitüden klang. Aber er war es tatsächlich.
Die skeptische
Nachwelt hatte folglich leicht spotten, und wenn der Name fällt,
spottet sie noch immer. Einer Zeit, die das Wort «Gutmensch»
erfunden hat, kommt beim Anblick dieses guten Menschen reflexhaft
der Satz Gottfried Benns in den Sinn, Kunst sei das Gegenteil von
gut gemeint. Aber wer Stefan Zweigs Tagebücher liest, seine Notizen
und vor allem seine umfangreichen und sorgsam edierten
Briefwechsel, der entdeckt Verbindungslinien zwischen Leben und
Werk, die eine scharfe Trennung zwischen dem Menschen und seinem
Schreiben zumindest erschweren. Der entdeckt einen guten
Autor. «Er gehörte zu denen, die trauerten und nicht hassen
konnten», erinnert sich Irmgard Keun in einem Essay über das Exil,
«die, dünnhäutig und verletzbar, in einer underben gläsernen Welt
des Geistes leben und gar keine Fähigkeit haben, selber zu
verletzen.» Sollten solche Charakterzüge eines Schriftstellers gar
nicht auf sein Schreiben abfärben?
Populär-Literatur plus Wiener Moderne
Wer eine Antwort sucht, hat mehr Lesestoff vor sich, als er erwartete. Man vergisst leicht die Vielfalt dieses riesenhaften Werkes – seine Nachdichtungen der poètes maudits zum Beispiel, Verlaines und Baudelaires, seine freie Umdichtung von Ben Jonsons «Volpone» und die kleinen Novellen, deren Glanz von den Bestsellern manchmal überstrahlt wurde. Gerade sie aber lohnt es zu lesen. Wie die Verletzbarkeit diesen Autor zur Wahrnehmung zwingt, so artikuliert sich seine Menschenliebe hier am unfeierlichsten in Gestalt einer grenzenlosen Neugier.
An Tagen, an denen ihn diese Neugier überkomme, notiert einer seiner autobiografischen Erzähler, sei er gewissermaßen dreifach er selbst. Das ist ein wahres Wort. An solchen Tagen wird Zweigs Menschenfreundlichkeit unsentimental und genau, aufmerksam teilnehmende Beobachtung. Und da er – Zartsinn hin, Sanftmut her – auch mit allen Wassern des Geschichten-Erzählens gewaschen ist, denen der Populär-Literatur und denen der Wiener Moderne, zeigt er jetzt, was in ihm steckt: Halb Arthur Schnitzler, halb Vicky Baum – und das ist keine schlechte Mischung.
Nein, selten verzichtet er völlig auf die stereotype Erhabenheitsrhetorik, die Feierlichkeitsgesten und das Schicksalstremolo, die manche seiner Bücher heute so peinlich machen, vor allem die «Sternstunden der Menschheit», das erfolgreichste von allen. Nie verschwindet ganz diese Sehnsucht nach dem großen Drama, nach tragischer Aufgipfelung und jähem Umbruch, nach Dämonie und Schicksal. Selbst wenn er Details beschreibt, müssen es «Kleinigkeiten» sein, «die wie ein aufflammendes Zündholz mit einem Blitz die ganze Tiefe eines Seelenraums erhellen». Wovon er auch erzählt, am Ende muss es immer eine Sternstunde gewesen sein. Aber die Spötter übersehen, dass die festtäglichen Sinnsprüche zur Verve seiner Erzählung oft so schlecht passen wie die Abendglocken ins Varieté.
Denn in dem feinen und zarten Herrn steckt auch ein kindlicher Abenteurer, der aus der sicheren Halbdistanz von Beobachtung und Phantasie alles Wilde, kitzlig Gefährliche liebt, der sich nicht satt sehen kann am Unbürgerlichen, an Leidenschaft und Verbrechen, der die Angstlust auskosten will vor den seelischen Abgründen, den Outlaws und Drop-Outs – mit einem Wort das, was seine Epoche das «Dämonische» nannte und was Zweig, wenn er wollte, bemerkenswert undämonisch und präzise schildern konnte. (Wofür die «Schachnovelle» das mit Recht bekannteste Beispiel gibt: Zweigs letzte Studie über den Geist und die totale Macht.) Nie ist dieser Autor liebenswürdiger und lesenswerter als in den Augenblicken, in denen beide Seiten sich berühren, in denen Dr. Stefan und Mr. Zweig sich begegnen.
Es geht auch eine Nummer kleiner
Das geschieht zum Beispiel in der Erzählung von dem halbwüchsigen Knaben, der seine Mutter beim Seitensprung beobachtet, einer wienerischen Ödipus-Geschichte, die einen doppelten, ja, dreifachen Boden hat. Denn des Frühlings jähes Erwachen ist hier zugleich der Herbst einer alternden Frau, die wenigstens einmal ein Abenteuer erleben wollte, die sich vor ihrem Kind schämt und deren Leben in sich zusammenfällt – gesehen aus den Augen dieses Kindes. Einer beunruhigend genauen Musterung wird sie unterzogen, mit derselben Anteilnahme, die hier auch dem selbstsüchtigen Verführer noch gilt, dem getriebenen Täter.
Leider wäre Zweig nicht Zweig, wenn er diese psychologische Studie nicht mit den Worten «Brennendes Geheimnis» überschriebe und auf der letzten Seite rasch noch über «die bitter-süße Last der Liebe» räsonierte. Immerhin aber erkundet er nebenan mit der Novelle «Verwirrung der Gefühle», in der sich ein Lehrer in einen Schüler verliebt, noch weit riskantere Untergründe der Bildungsbürgerlichkeit – Abgründe, in die Thomas Manns «Tod in Venedig» zwar mit weit größerer Stilsicherheit und dialektischer Subtilität, aber auch unvergleichlich angestrengter aufgebrochen war.
Es geht auch eine Nummer kleiner. Die kurze Novelle «Unvermutete Bekanntschaft mit einem Handwerk» schildert den Tageslauf eines Taschendiebs, dem der Erzähler durch einige Pariser Mittagsstunden folgt, in allen Schattierungen seiner verwegenen Artistik und hündischen Armseligkeit, bis er selbst den Kitzel des Kriminellen in sich fühlt. Erst am Ende, wenn die Geschichte schon vorbei ist, meldet sich wieder das «ungeheure Spannungsschicksal». Aber vorher hat er «klauen» gesagt und «ein Dieb ist doch Dieb nur eigentlich in dem Augenblick, in dem er diebt». Und genauso hat er erzählt, mit diebischem Vergnügen, bis zur vorletzten Seite.
Und die Großformen? Da wäre die «Marie Antoinette», diese Studie über einen «mittleren Charakter», ihr Gegenstück «Fouché» über den gewissenlosen Diener der jeweils Herrschenden, oder das Idealbildnis des von der gewaltsamen Zeit verstörten «Erasmus». Hinter den Novellen bleiben diese so groß gedachten wie zeitgebundenen Bücher zurück. Anders das in seiner Selbstlosigkeit anrührende Erinnerungsbuch «Die Welt von Gestern», anders schließlich auch der Zeitroman «Unruhe des Herzens», dessen fataler Titel sich, wer hätte das erwartet, als Spottwort gegen das falsche Mitleid erweist. «Aber es gibt eben zweierlei Mitleid», ist darin zu lesen: «Das eine, das schwachmütige und sentimentale, das eigentlich nur Ungeduld des Herzens ist, sich möglichst schnell freizumachen von der peinlichen Ergriffenheit vor einem fremden Unglück … und das andere, das einzig zählt – das unsentimentale, aber schöpferische Mitleid, das weiß, was es will.»
1939 erschien dieses Buch. Drei Jahre später konnte der schöpferisch mitleidige Autor, der es schrieb, nicht mehr ertragen, was in Europa geschah. Seine letzte literarische Arbeit war – im brasilianischen Exil, in der Ferne, in Sicherheit – sein Abschiedsbrief. Er hat ihn, eine letzte Höflichkeit des Autors gegenüber seinen Lesern, noch einmal korrigiert, bevor er sich zusammen mit seiner Frau vergiftete.
Heinrich Detering lehrt Literaturwissenschaft in Göttingen. Zuletzt erschien «Juden, Frauen und Litteraten. Zu einer Denkfigur beim jungen Thomas Mann».
Neue Bücher von und über Stefan Zweig
Stefan und Friderike Zweig
«Wenn einen Augenblick die Wolken weichen». Briefwechsel
1912–1942
Hg. von Jeffrey B. Berlin und Gert Kerschbaumer.
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2006. 400 S., 24,90 €
Oliver Matuschek
Stefan Zweig. Drei Leben. Eine Biographie
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2006. 406 S., 19,90 €
Alberto Dines
Tod im Paradies. Die Tragödie des Stefan Zweig
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Marlen Eckl.
Edition Büchergilde, Frankfurt a. M. 2006. 724 S., 29,90 €
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