- Die Anmut einer Politik ohne Moral
Er ritt auf den Wellen der Geschichte, um nicht von ihnen verschlungen zu werden: Charles Maurice de Talleyrand, ein Virtuose der Macht – aber auch ein Patriot
Fürst Metternich schrieb über ihn: «Man muss bei M. de Talleyrand den moralischen vom politischen Menschen unterscheiden. Er könnte und würde nicht das sein, was er ist, wenn er moralisch wäre. Andererseits ist er ein ausgesprochen politisch denkender Mensch und als solcher ein Mann der Systeme. Das macht ihn gleichermaßen nützlich oder gefährlich.» Johannes Willms, der mit seinen Biografien Napoleons und Stendhals seine exquisite Kennerschaft der europäischen Revolutionsepoche bewiesen hat, nimmt dieses Wort des österreichischen Staatskanzlers als Richtschnur für seine Annäherung an die wohl schillerndste Figur jener Zeit. Er macht ihr nicht den moralischen Prozess und sucht hinter all den Maskenspielen seines Helden eine politische Grundidee, die diesen durch die Brüche und Wirren der Zeit führt.
Die Idee, so sieht es Willms, heißt immer Frankreich. So sehr Charles-Maurice de Talleyrand immer auch auf seinen persönlichen Vorteil bedacht gewesen sei, so sehr sei es ihm auch um sein Land als Staat und europäische Macht gegangen. Willms stellt uns Talleyrand als beispielhaften Fall eines systemübergreifenden Patriotismus vor – was ihn nicht daran hindert, den Oppurtunismus, den Verrat und den Zynismus in Talleyrands Wendungen und Windungen mit unverkennbarer Lust an diabolischen Beleuchtungseffekten zu schildern.
Talleyrand diente sechs verschiedenen Regimen, wenn man den Ausgangspunkt seiner Karriere, das Amt des Bischofs von Autun in der vorrevolutionären Kirche, mitzählt. Er schwor vierzehn Treueeide und brach sie allesamt, getreu nur dem Motto, dass Verrat allenfalls eine Frage des passenden Zeitpunkts sei. Seit dem Zusammentreten der Generalstände im Jahr 1789, denen er zunächst als Vertreter des Ersten Standes, des Klerus, angehörte, um dann zu dem sich als Nationalversammlung konstituierenden Dritten Stand überzutreten, war er eine Zentralfigur der französischen Geschichte und wurde als Außenminister zu einer solchen der europäischen Geschichte.
Das Amt übte er unter verschiedenen Herren insgesamt zehn Jahre lang aus. In jener «Sattelzeit» zwischen 1789 und 1815, in der die Geschichte sich wie durch einen Raketentreibsatz beschleunigte, ist das eine unvorstellbar lange Zeit. Talleyrand diente der Republik und entging der jakobinischen Schreckensherrschaft durch eine legale Ausreise nach England und Amerika, die ihm Danton verschafft hatte. Weil er somit kein Emigrant war, konnte er auch zurückkehren. Er war ein getreuer Gefolgsmann des zum Weltkaisertum emporstrebenden Napoleon, erkannte aber rechtzeitig dessen überdehnten imperialen Ehrgeiz. Bei der Restauration der Bourbonen zog er die Fäden und erreichte beim Wiener Kongress, dass Frankreich seinen Status als europäische Großmacht behielt.
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Gegen Ende seines Lebens wurde Talleyrand nach der Julirevolution von 1830 vom Bürgerkönig Louis Philippe noch einmal als Botschafter nach Großbritannien geschickt. Die Kirche hatte er gegen sich aufgebracht, weil er der Nationalisierung der Kirchengüter das Wort redete, um den Staatsbankrott abzuwenden. Die Anhänger Napoleons verziehen ihm den Abfall von ihrem Idol nie. Die Monarchisten trauten dem Aristokraten, der sich mit dem revolutionären Volk gemein gemacht hatte, sowieso nicht über den Weg. Angesichts seiner Standpunkte kommt Talleyrand in der Geschichtsschreibung naturgemäß schlecht weg. In seinen eigenen Memoiren kokettiert er mit seinem schlechten Ruf und tischt dem Leser zudem das klassische Rührstück aller Bösewichter auf: Er beruft sich auf eine harte Kindheit. Sein Klumpfuß und die lieblosen Eltern, die ihn in die kirchliche Laufbahn drängten, für die er sich nicht berufen gefühlt habe, hätten ihn dazu gebracht, rücksichtslos seinen eigenen Vorteil zu suchen.
Dank Willms sind wir dieser eingängigen Legendenbildung jetzt nicht mehr ausgeliefert. Die Eltern warennämlich gar nicht so lieblos. Dem Kirchenamt gewann Talleyrand einiges ab: nicht im Sinne geistlicher Erfüllung, sondern im Sinne des politischen Karrierismus. Die Berufung auf den Bischofsstuhl von Autun war von seinem Onkel klug als erster Schritt zur Begründung einer Talleyrand’schen Kirchendynastie eingefädelt worden. Im Unterschied zu den meisten seiner Standesgenossen erkannte Talleyrand rechtzeitig, dass die Zeit einer solchen Kirchenverfassung unwiderruflich abgelaufen war.
«Ich stelle mich dem Geschehen zur Disposition», sagte er, als er nach der Konstituierung der Nationalversammlung nicht emigrierte, sondern sich in den Dienst der Revolution stellte, Gesetzesentwürfe schrieb und in politischen Clubs und Zirkeln verkehrte. Zu wissen, was wer wo ausheckte, war für ihn entscheidend, denn er ritt auf den Wellen der Geschichte, um nicht von ihnen verschlungen zu werden. Willms nimmt den Leser bei der Erzählung dieses Rittes mit in die Welt der Salons, des Tratsches und der Intrigen. Er zeigt dabei, dass Politik ohne moralische Hochrüstung zumindest anmutiger ist als die moralischen Schauschlachtungen moderner Mediendemokratien.
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